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Dshurukuwaa, Sohn des Schynykbaj, ist das jüngste Kind einer Nomadenfamilie. Seine Heimat, das Altai-Gebirge in der Mongolei, ist geprägt von archaischer Kargheit. Das Leben dort verläuft in traditionellen Bahnen. In diese Lebenswelt bricht mit verstörender Gewalt eine neue Zeit ein: die politische Anlehnung der Mongolischen Volksrepublik an die Sowjetunion. Schulen werden gegründet, den Kindern soll »modernes« Wissen vermittelt werden. Auch Dshurukuwaa, der kleine Ich-Erzähler, muß seine Eltern in der Steppe verlassen. Sein erwachsener Halbbruder, Direktor der Kreisschule, holt ihn ab. Der…mehr

Produktbeschreibung
Dshurukuwaa, Sohn des Schynykbaj, ist das jüngste Kind einer Nomadenfamilie. Seine Heimat, das Altai-Gebirge in der Mongolei, ist geprägt von archaischer Kargheit. Das Leben dort verläuft in traditionellen Bahnen. In diese Lebenswelt bricht mit verstörender Gewalt eine neue Zeit ein: die politische Anlehnung der Mongolischen Volksrepublik an die Sowjetunion. Schulen werden gegründet, den Kindern soll »modernes« Wissen vermittelt werden. Auch Dshurukuwaa, der kleine Ich-Erzähler, muß seine Eltern in der Steppe verlassen. Sein erwachsener Halbbruder, Direktor der Kreisschule, holt ihn ab. Der Junge jedoch fühlt sich zum Schamanen berufen und gerät so immer wieder in Konflikt mit der sozialistischen Erziehung.
Auch in der Schule soll das »abergläubische« Festhalten an die göttlichen Kräfte der Natur und Geister bekämpft werden. Schließlich kommt es zu einer Katastrophe. Beim Bau eines Gemüsekellers in einem heiligen Erdhügel bricht die Decke ein, einige Menschen werden verschüttet, unter ihnen der Parteisekretär. Auch der Direktor-Bruder bezahlt seine Un- und Parteigläubigkeit mit dem Leben. Dshurukuwaa und seine beiden Geschwister wandern mit dem toten Halbbruder nach Hause und bestatten ihn auf traditionelle Weise.
Mit großem Einfühlungsvermögen erzählt der deutsch schreibende Mongole Galsan Tschinag vom Leben der Tuwa, einem turksprachigen kleinen Stamm in der Mongolei. Wir reisen mit seinem Roman in den Altai, zu seinen Ails und Jurten. Tschinag läßt seine Kindheit lebendig werden und schildert, wie ein kleiner Junge - trotz aller Widerstände - den Schamanen in sich entdeckt. Der Roman zieht seinen besonderen Reiz aus der Vermittlung einer uns fremden, aber faszinierenden Kultur.
Autorenporträt
Galsan Tschinag wurde 1943 als jüngster Sohn einer Nomadenfamilie in der Westmongolei geboren. Er ist Stammesoberhaupt der turksprachigen Tuwa, einer ethnischen Minderheit in der Mongolei. Sein Name in der Sprache der Tuwa lautet Irgit Schynykbai-oglu Dshurukuwaa. Nach Abschluss der Schule erhielt er 1962 ein Stipendium, das es ihm erlaubte, in die DDR zu reisen. Er lernte Deutsch und Germanistik in Leipzig. Seitdem schreibt er seine literarischen Texte vor allem in deutscher Sprache. Sechs Jahre später, 1968, kehrte er in seine Heimat zurück und lehrte an der Universität in Ulan Bator deutsche Sprache und Literatur, bis er 1976 wegen »politischer Unzuverlässigkeit« Berufsverbot erhielt. In den folgenden Jahren arbeitet er als Redakteur der Zeitschrift Journalist und als Cheflektor bei Mongol Kino, wo er sich um die Verfilmung mongolischer Epen bemühte. Seit 1991 lebt er als freier Schriftsteller vor allem in Ulan Bator, ist aber auch viele Monate als Nomade mit seiner Sippe im Altaigebirge in der Nordwestmongolei unterwegs. Galsan Tschinag versteht sich als Mittler zwischen den Kulturen und ist im Ausland viel auf Lesereisen unterwegs. Seine Erzählungen wurden auch in zahlreiche andere Sprachen übersetzt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.05.1999

Der Schamane im Plattenbau
Wo die Mongolen wohnen: Galsan Tschinag betritt "Graue Erde"

Irgit Schynybajoglu Dshurukuwaa wurde in den frühen vierziger Jahren in einer Jurtensiedlung des Altai-Gebirges geboren. Jurten? Altai? Die Jurten dienen den Nomaden, deren Lebensraum das mongolische Altai-Gebirge ist, als Behausungen, die rasch in ihre Bestandteile aus Holz und Filz zerlegt werden können. Als Dshurukuwaa aufwuchs, sollte den Tuwa das Nomadentum gerade ausgetrieben werden. Tuwa? Die Tuwa sind eine turkstämmige Minderheit in der Mongolei, deren Leben damals noch von uralten Traditionen geregelt wurde, zu denen die Ehrfurcht vor der Natur und ein schamanistischer Glaube an die Beseeltheit alles Irdischen gehörten. Nachdem sich die Mongolei zur zweiten Volksrepublik der Erde ausgerufen und eng mit der Sowjetunion verbunden hatte, galt es, aus rückständigen Nomaden fortschrittliche Proletarier zu formen. Gnadenlos wie die forcierte Industrialisierung war daher die pädagogische Kampagne, die die Tuwa binnen einer Generation zu Sowjetmenschen machen und ihren Geisterglauben durch den wissenschaftlichen Atheismus ersetzen sollte. Dabei gingen die Drillmeister des Stalinismus von den alltäglichen Lebenserfahrungen der Tuwa aus: "Ob es Geister gibt oder nicht, muß erst bewiesen werden. Aber daß es die allsehende, allhörende und allmächtige Partei gibt, ist eine längst bewiesene Sache!"

Daß uns das alles interessiert und wir Anteil nehmen am Geschick eines Volkes, von dessen Existenz wir nichts wußten, ist jenem Irgit Schynybajoglu Dshurukuwaa zu verdanken, der sich als Autor mittlerweile Galsan Tschinag nennt und unter seinem alten Familiennamen als Hauptfigur und Ich-Erzähler seines neuen Romans "Die graue Erde" auftritt. Es ist dies nicht der erste Roman, den der Autor in deutscher Sprache verfaßt hat; denn Galsan Tschinag kam in den sechziger Jahren aus der Mongolei zum Studium in das befreundete sozialistische Ausland der DDR und eignete sich dort die deutsche Sprache auf so bezwingende Weise an, daß er heute jeden deutschen Gesprächspartner im Fernsehen durch seine Beredsamkeit beschämt - wie etwa den Pastor Fliege, bei dem er leider auch schon aufgetreten ist.

Schon die erfolgreichen Romane "Der blaue Himmel" und "Zwanzig und ein Tag" hatte Galsan Tschinag auf deutsch geschrieben, und das ist um so merkwürdiger, als auch sie nur ein Thema hatten: die Selbstbehauptung der Tuwa, die Identität dieses Nomadenstammes, den Schamanenglauben einer mongolischen Volksgruppe. Man könnte sagen, Galsan Tschinag schreibt deutsch-mongolische Literatur, aber so einfach ist es nicht; er schreibt nämlich deutsch-mongolische Tuwa-Literatur, und das ist für die Literatur in deutscher Sprache eine unerwartete Bereicherung.

Eines Tages im Jahr 1952 muß der junge Dshurukuwaa die Jurtensiedlung verlassen und mit seinem großen Bruder, einem Lehrer, an einen fremden Ort ziehen. Dort sieht er das erste gemauerte Haus seines Lebens, und hinter der ersten Treppe, die er betritt, lauert ein furchterregender Schlund - der Eingang der Schule: "Eine steilwandige, viereckige Höhle geht vor mir auf, und noch ehe ich das Echo unserer Schritte über die knarrende Diele vom Dach zurückprallen höre, glaube ich die Schläge des eigenen Herzens zu vernehmen, das nun nicht in meiner Brust, sondern in einer der Wände nistete." Wände, Mauern, Enge - das alles beängstigt ihn, und dann erst der Holzboden! Unsicher tappend geht er durch das Klassenzimmer, denn die "Füße drohen auszurutschen und zu stolpern über die spiegelglatten, federnden und knarrenden Bretter". In der Schule sollen die jungen Tuwa ihrer Herkunft entfremdet und Kinder des Sozialismus werden. Der Gebrauch der Muttersprache ist ihnen untersagt, und doch, trotz Drill und Disziplinierung, macht das Lernen Spaß: "Der Lehrer fährt mit einem weißen Stein über ein viereckiges Brett, und weiße Spuren bleiben zurück, und die Kinder malen diese in ihren Heften nach. Es sind lustige Spuren, die ich von keinen Tieren kenne, keinen auch ein bißchen ähnlich, nicht einmal denen von flüchtenden Hasen oder spielenden Zieseln."

"Die graue Erde" ist ein Entwicklungsroman mit tragischen und komischen Episoden. Ein Heranwachsender gerät unter vielerlei Einflüsse und wird darüber zuerst seiner Herkunft unsicher, ehe er, auf höherer Stufe, die Kultur seines Volkes wiederaufnimmt. Dieses Kind aus der Steppe spricht bald geläufig Mongolisch, es lernt rechnen, schreiben, lesen; aber es träumt wie ein Tuwa und läßt sich den Schamanismus der Väter nicht rauben. Dereinst wird dies ein gebildeter Schamane, ein weltoffener Tuwa sein, und darin gleicht der Held des Romans seinem Verfasser. Denn Galsan Tschinag, der wissensdurstig Einflüsse der mongolischen, russischen und deutschen Kultur aufgenommen hat, ist doch zugleich ein Schamane geblieben; als Oberhaupt seines unter Stalin zwangsweise umgesiedelten Stammes rief er die weit verstreut lebenden Tuwa 1995 zusammen und führte eine Karawane der Tiere, Güter, Träume und Menschen über 2000 Kilometer in das Altai-Gebirge zurück. KARL-MARKUS GAUSS

Galsan Tschinag: "Die graue Erde". Roman. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1999. 277 Seiten, geb., 36,- DM.

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