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Der Mexikaner Antonio Ortuño schreibt einen Roman über Täter und Opfer der Bau-Mafia und denkt dabei zu sehr an das Drehbuch der Verfilmung
Mexikanische Städte verbindet man seit Roberto Bolaños Überraschungserfolg mit seinem postum erschienenen Roman „2666“ mit Frauenmorden. Oder Drogenkartellen. Oder, siehe „Spectre“, mit Totenfesten, durch die ein britischer Geheimagent sich im Auftrag seiner Majestät seinen Weg bahnt. Alles wahre Geschichten, absolut echte Projektionen.
In der Literatur sind in den letzten Jahren zwei weitere Themen dazu gekommen: das Schicksal der illegalen mexikanischen Einwanderer in den USA und die Wirtschaftskriminalität. Beider Themen hat sich Antonio Ortuño angenommen. In seinem neuen Roman geht es der Bau-Mafia an den Kragen. Ortuño wurde 1976 in Guadalajara geboren, der „Perle des Westens“, auch das „Silicon Valley“ Mexikos genannt, das in seiner Geschichte immer wieder von merkwürdigen Katastrophen wie Eisenbahnunglücken und explodierender Kanalisation heimgesucht wurde.
Aus zwei Inschriften, die den moralisch einwandfreien Charakter der sauberen Stadt verherrlichen, entwickelt Ortuño, dessen Markenzeichen Sarkasmus und Groteske sind, seinen Roman über Guadalajaras mafiösen Sumpf. „Olinka“ heißt er im Original, auf Deutsch in der manchmal etwas staksigen Übersetzung von Hans-Joachim Hartstein „Die Verschwundenen“, was ein wenig in die Irre führt, denkt man dabei doch an die Opfer der südamerikanischen Diktaturen. Wobei es auch bei Ortuño um Menschen geht, die stören und deswegen über Nacht in Luft aufgelöst werden. Genauer gesagt waren es zwei Familien in der Hüttensiedlung „Nueva Olimpia“, die dem Bauunternehmer Carlos Flores im Weg standen, der sich in den Kopf gesetzt hatte, dort die „Stadt der Besten“ zu gründen: Olinka, eine neue Wohnanlage, die Mexikos geheime Hauptstadt Guadalajara in Zukunft zieren sollte und vermutlich nur rein zufällig so heißt wie eine berühmte Porno-Darstellerin.
Das könnte nun ein solider Krimi-Plot werden und tatsächlich kommt der üblen Geschichte ein Polizist auf die Spur. Ortuño macht daraus aber keine Krimi-Doku-Fiction à la „The Wire“, sondern eine Farce. Der Commandante wird geschmiert und hält den Mund. Die Politik hängt sich mit rein und sorgt dafür, dass alles unterm Teppich bleibt und schließlich floppt das Bauprojekt. Nur die beiden toten Familien bleiben unter der Erde. Vor allem aber setzt Ortuño den einsamen Blanco alias Yeyo ins Zentrum des Spiels. Er und seine Mutter sind Nachbarn der reichen Flores’, Yeyo wird sozusagen an ihrem Katzentisch groß. Nach einigen Verwicklungen, die wohl dazu dienen, die Chauvi-Gesellschaft anzuprangern und zugleich klarzumachen, dass reiche Frauen auch mies sind, heiratet Yeyo die Flores-Tochter, die ihn „Hund“ nennt und hält dann auch brav den Kopf hin, als der Boden für den Padrone zu heiß wird. (Auslöser ist da übrigens auch ein trauriger Hund, aber das ist eine andere Geschichte.) 15 Jahre geht Yeyo in den Knast für seinen Schwiegervater: „Wie immer fiel es der Welt leicht zu vergessen, dass Blanco auf ihr umher ging.“
Ortuño schreibt aus der Position ironischer Distanz, vielleicht sogar moralischer Überlegenheit. Wenn wundert’s bei diesen Scheußlichkeiten. Er schreibt im epischen Präteritum des Unterhaltungsromans, den er mit diesem müden Running Gag zu würzen versucht: Yeyo, der Trottel, sei in der „Casita“ aus Gram über den ganzen Schlamassel nicht mehr „zum Schuss“ gekommen. 15 Jahre kein Sex! Das pfeifen in ganz Guadalajara die Spatzen von den Dächern.
Ein grotesk ausgewalzter unwitziger Witz kann auf der satirischen Meta-Ebene schwarzen Humor beweisen. Bei Ortuño aber fehlt die Schärfe. Lahm und zäh wirkt seine Erzählweise, so, als ob etwas nicht in die Gänge kommt. Vielleicht liegt das daran, dass seine Figuren keine Gesichter bekommen, was eine gewisse Logik hat, wenn ein Roman schon als Drehbuch seiner künftigen Verfilmung aufs Papier kommt, also als Film ohne Bilder. Aber es fehlt ihm dann in der Lektüre jedes Leben.
Dabei fängt er vielversprechend an, nämlich als Knastroman. Den spielt Ortuño aber nur an und nicht aus. Und verschenkt dann auch noch den Moment von Yeyos Entlassung. Ihm fällt dazu trotz vieler Worte nicht viel mehr ein, als dass Yeyo sich über Emoticons wundert, die ihm seine Anwältin mit Bildern ihrer nackten Brüste simst. Er hat keine Sprache für solche Situationen, auch keine satirische. Es bleibt bis zum Showdown im Hause Flores bei dem simplen Satz: „Die Welt hatte sich ohne jeden Zweifel verändert.“ Was sich nicht verändert hat: Sie ist schlecht. Das wurde – auch in der Low-Budget-Literatur – aber schon packender erzählt.
INSA WILKE
Antonio Ortuño: Die Verschwundenen. Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein. Antje Kunstmann Verlag, München 2019. 256 S., 20 Euro.
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