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Im Zeitgeist herrscht eine Verwirrung ontologischen Ausmaßes: Wirklichkeit und Fiktion scheinen heute ununterscheidbar. Davon ist nicht nur die mediale Öffentlichkeit, sondern auch das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften betroffen. Um dieser Sackgasse zu entrinnen, entwickelt Markus Gabriel in seinem neuen Buch eine realistische Philosophie der Fiktionalität, die zugleich die Fundamente einer Theorie der Objektivität der Geisteswissenschaften legt. Ein philosophisches Grundlagenwerk.
In seinem Zentrum steht die »Selbstbildfähigkeit« des Menschen, die fundamental sozial reproduziert
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Produktbeschreibung
Im Zeitgeist herrscht eine Verwirrung ontologischen Ausmaßes: Wirklichkeit und Fiktion scheinen heute ununterscheidbar. Davon ist nicht nur die mediale Öffentlichkeit, sondern auch das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften betroffen. Um dieser Sackgasse zu entrinnen, entwickelt Markus Gabriel in seinem neuen Buch eine realistische Philosophie der Fiktionalität, die zugleich die Fundamente einer Theorie der Objektivität der Geisteswissenschaften legt. Ein philosophisches Grundlagenwerk.

In seinem Zentrum steht die »Selbstbildfähigkeit« des Menschen, die fundamental sozial reproduziert wird, ohne deswegen sozial konstruiert zu sein. Fiktionen - paradigmatisch dramatis personae unserer ästhetischen Vorstellungswelten wie Anna Karenina, Macbeth, Mephistopheles oder Jed Martin, der Protagonist von Michel Houellebecqs Karte und Gebiet - sind wirksame Prozesse der Selbstdarstellung der geistigen Lebensform des Menschen. Um dies anzuerkennen, muss der anthropologischen Zentralstellung der Einbildungskraft zu ihrem Recht verholfen werden. Auf diese Weise überwindet der Neue Realismus Gabriels den falschen Gegensatz von Sein und Schein, um unseren bedrohten Sinn für das Wirkliche zu rekalibrieren.
Autorenporträt
Markus Gabriel, geboren 1980, ist Inhaber des Lehrstuhls für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und Gegenwart an der Universität Bonn, wo er das Internationale Zentrum für Philosophie NRW und das Center for Science and Thought leitet. Zurzeit ist er Eberhard Berent Goethe Chair an der New York University.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.06.2020

Scheinhaft ist, allem Schein zu entkommen
Jetzt aber: Der Philosoph Markus Gabriel setzt tief an, um den Zeitgeist ins Visier zu nehmen

Der Gestus der Prophetie ist in der Philosophie selten geworden, doch auch akademisch disziplinierte Weltweisheit vermag ihr Selbstverständnis noch immer aus einem sozusagen volkspädagogischen Auftrag zu beziehen: Vernunft in der Welt zu verbreiten. In Krisenzeiten, wenn alles auf dem Spiel zu stehen scheint, kann dieser aufklärerische Anspruch sich auch mit Mitteln einer Endzeit-Rhetorik Gehör zu verschaffen versuchen. Am Ende seines neuen Buches beschwört Markus Gabriel "die Gefahr der menschlichen Selbstausrottung durch die Zerstörung unserer ökologischen Nische". Das Spiel, heißt es auf der letzten der über sechshundert Seiten, sei "noch nicht verloren: Seit wir dank der Fortschritte der Wissensgesellschaft wissen, dass der Mensch als Gattungswesen ein selbstgesetztes Ende eingeleitet hat, kommt alles darauf an, Nachhaltigkeit auf die richtige Weise an die Spitze unserer Präferenzstruktur zu setzen." Dabei behilflich sein möchte auch der Autor mit seinem Buch, das sich zuallererst wohl an die philosophische Zunft adressiert. Es handelt allerdings nicht von der Klimakatastrophe und nicht von Nachhaltigkeit, vielmehr versucht es - unter dem Titel "Fiktionen" -, die "logische Tiefenstruktur" eines Scheins freizulegen. Gabriel hofft, damit etwas zur "Rettung vor der Selbstauslöschung des Menschen" und zur "Neujustierung des Sinns des Lebens" beitragen zu können, weil er überzeugt ist, dass jener Schein uns gefangen hält und davon ab, die Wirklichkeit wahrzunehmen.

Das klingt einfach, ist aber nicht unkompliziert, weil der Schein, den es zu durchschauen gelte, kein einfacher ist. Es ist, freihändig zusammengefasst, der Schein, wir könnten gänzlich ohne Schein leben - neutral gesprochen: ohne Fiktionen. Doch Fiktionen sind laut Gabriel das Medium, in dem sich das geistige Leben in der ökologischen Nische der Menschengattung wesentlich abspielt. Das zu begreifen, ist offenbar auch für den neuen philosophischen Realismus von Belang, für den der Autor sich seit Jahren ins Zeug legt. Ungebührlich verkürzt: Die Angehörigen der Menschengattung leben nicht einfach so vor sich hin, sie sind über jede einzelne Wahrnehmung, jede Intention immer schon hinaus - und in diesem Hinaussein verhalten sie sich stets auf die eine oder andere Weise zu sich selbst. Für das geistige Lebewesen namens "Mensch" sind darum Imaginationen - Vorstellungen von nicht unmittelbar Präsentem - ein Mittel der "Selbsterfassung", das bereits in der Dimension sinnlicher Wahrnehmung zum Einsatz kommt, wenn unmittelbar Erlebtes zu einer Episode verknüpft wird.

Am anderen Ende des Spektrums menschlichen Sich-zu-sich-Verhaltens findet sich, was Gabriel "Selbstbildfähigkeit" nennt: "Der Mensch lebt sein Leben im Licht einer Vorstellung davon, wer oder was er ist." Das schließt auch ein Bild davon ein, "wie wir in die Natur passen". Der Autor versteht Selbstbildfähigkeit - alias "Geist" - als anthropologische Konstante und als nähere Bestimmung der existentiellen Selbstbestimmung, die zur humanen und das heißt zugleich sozialen Lebensform von Grund auf gehöre.

Mit der Fähigkeit zur Selbstüberschreitung und zur Selbstverortung in größere Zusammenhänge sei dieser Lebensform aber eben auch ein "Illusionspotential" mitgegeben. Verhaltensauffällig mache Menschen insbesondere die Neigung zu glauben, es gebe "ein allumfassendes Ganzes, zu dem wir gehören". Es sei dies die "Grundillusion der Metaphysik": die Annahme, es gebe die Welt, einen einzigen Universalhorizont, der alle wirklichen und möglichen Gegenstände überwölbe. Warum es eine solche Ganzheit für Markus Gabriel nicht geben kann, hat mit der sogenannten "Sinnfeldontologie" zu tun, die zu seinem Markenzeichen geworden ist und die er in seinem neuen Werk sozialphilosophisch und fiktionstheoretisch ausbaut.

Die Welt, die alles enthält, gibt es nicht, es gibt jedoch die falschen Vorstellungen, es gebe solche Ganzheiten; es gibt Weltanschauungen, die zwar keine "Welt-Anschauungen" im Sinne der (unmöglichen) Anschauung eines allumfassenden Ganzen sein können, aber doch entsprechende Prätentionen formulieren. Quasi unterhalb solch anmaßender, illusionärer Totaltheorien bewegen sich Selbstbilder, Menschen- und Weltbilder, die zwar kleinformatiger sein mögen, aber ihrerseits den Schein einer "Endgültigkeit" erzeugen können. (All diese Bildbegriffe finden Verwendung, ohne dass sie allerdings in ihrem Gehalt explizit gegeneinander konturiert würden.) Der Naturalismus ist - neben Postmodernismus und Sozialkonstruktivismus - auch in diesem Buch der weltanschauliche Lieblingsgegner Gabriels.

Die naturalistische (oder auch physikalistische) Annahme, alles Wirkliche lasse sich restlos naturwissenschaftlich beschreiben und erklären, liefert das Paradebeispiel für vergebliche Versuche, die für Selbsttäuschungen anfällige menschliche Lebensform von allem Schein endgültig zu befreien - und dadurch neuen Schein zu produzieren: Der menschliche Geist wird zum Gespenst in der Maschine, wenn er auf die elektrochemischen Vorgänge des Gehirns reduziert wird. Solche "Selbstbestreitung" des menschlichen Geistes lässt sich als perverse Form der Selbstbestimmung analysieren, als "Selbstverfehlung". Sie wird, wenn sie sich als Menschenbild in den Köpfen und Körpern einnistet, zum herrschenden Zeitgeist, zu dem, was einst "Verblendungszusammenhang" hieß. Der Philosophie wächst in dieser Perspektive die Kritik des Zeitgeistes als "wesentliche Aufgabe" zu.

Auch in den elektronischen Spiegelkabinetten der Social Media hat die philosophische Kritik falschen Bewusstseins reichlich zu tun. Mit Verve beschreibt Gabriel eine "irreparable Fehlstellung der digitalen Infrastruktur". Ins Visier geraten die sozialen Netzwerke als "Verfallsmedien", die de facto den "Abbau der Norm der Wahrheit" betreiben, und als "Personalisierungsmaschinen". Wer an diese Maschinen angeschlossen ist, unterwirft sich vorgestanzten Formaten der Selbstdarstellung, statt freien Selbstausdruck im Medium von individuellen Selbstbildern zu erproben - und generiert in willfähriger Selbstausbeutung zudem geldwerte Datensätze für die Giganten der Plattformökonomie. Wir werden, mit Heidegger gesprochen, zu "Angestellten des Bestellens". Das sozioelektronisch erzeugte Virtuelle, so Gabriel, sei zwar so etwas wie die "Objektivierung einer Fiktion", aber keineswegs fiktiv, es dringe in unser "Selbstmodell" ein. Die Unwirklichkeit, könnte man sagen, hat ihre eigene Wirklichkeit in dieser Maschinerie. Es ist die Wirklichkeit einer Entfremdung von unserer ebenso leiblichen wie geistigen Existenzweise. Vielleicht geht es ja doch ums Ganze.

UWE JUSTUS WENZEL

Markus Gabriel:

"Fiktionen".

Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 636 S., geb., 32,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Burkhard Müller hätte gern das gute Buch gelesen, das in Markus Gabriels "Fiktionen" steckt. Doch leider geht der Philosoph seine Sache hier so verquer und so ungeschickt an, meint er, dass ihm die Lektüre zu einer einzigen Qual wurde. Einem breiteren Publikum kann er es keinesfalls empfehlen. Dabei weiß Müller durchaus Gabriels Projekt zu schätzen, die "Unhintergehbarkeit des Geistes" gegen einen "bornierten Positivismus" ebenso wie gegen den relativierenden Sozialkonstruktivismus zu verteidigen. Dass Gabriel an Wahrheit und Freiheit festhält, findet Müller auch deshalb wichtig, weil er ahnt, dass die Freiheit des Menschen erst theoretisch abgeschafft wird, dann aber bestimmt auch praktisch. Wer bis Seite 600 durchhält, wird reich belohnt, verspricht der Rezensent zudem, der offenbar mit Vergnügen gelesen hat, wie Gabriel Jürgen Habermas in die Pfanne haut.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.08.2020

Gegen die Tyrannei des Naturalismsus
Sind Einhörner wirklich real? Mit „Fiktionen“ legt Markus Gabriel
ein Grundwerk der Ontologie vor, das seinen brandaktuellen Gehalt nur zögernd freigibt
VON BURKHARD MÜLLER
Kein Zweifel, die Welt bedarf der Besinnung über sich selbst. Und zwar vor allem angesichts der vorwaltenden Weltanschauung eines unreflektierten, aber herrischen Naturalismus, der sich zu Unrecht auf die Naturwissenschaften beruft und meint, gestützt auf deren praktischen Resultate, die atomistisch-analytische Methode auf schlechterdings alles übertragen zu dürfen, was zwischen Himmel und Erde und darüber hinaus der Fall ist; Widerspruch pflegt er tyrannisch abzufertigen.
Daneben halten sich zäh die alten Religionen samt ihrer privatistischen Schwundstufe, der esoterischen Spiritualität, die sich in einem grimmigen „Trotz alledem!“ verschanzen und schon darum ihrem alten universalen Anspruch nicht mehr gerecht zu werden vermögen. Mit einem Wort, es wird auf der Welt viel zu wenig gedacht.
Da könnte neuerdings die Stunde der Philosophie schlagen. Als Wegbereiter eines neuen philosophischen Zeitalters gilt seit einiger Zeit Markus Gabriel, seinerzeit jüngster deutscher Philosophieprofessor und auch heute noch nicht älter als 40, der aber schon auf ein umfangreiches Œuvre zurückblicken kann. „Der Denker der Stunde“, zitiert der hintere Umschlag eine Pressestimme, und der Klappentext kündigt das neue Buch als ein „philosophisches Grundlagenwerk“ an, das nicht weniger leiste als die Errettung der im postfaktisch-digitalen Zeitalter fundamental bedrohten Wirklichkeit überhaupt.
Das weckt hohe Erwartungen. Der Leser hofft auf ein Produkt, das wissenschaftliche Gründlichkeit mit fasslichen Vorschlägen verbindet. Zu sagen, dass sich die Philosophie hier zwischen Skylla und Charybdis befinde, hieße die Lage simplifizieren; denn eigentlich sind es drei Ungeheuer, zwischen denen sie hindurchsteuern muss. Da ist erstens die Philosophiegeschichte, die sich aufgrund ihres rein archivalischen Auftrags der Wahrheitsfrage enthält und damit für eine breitere Öffentlichkeit uninteressant wird; zweitens das Orchideenfach, das angesichts seiner sachlichen Schwierigkeit und der scheinbaren Entlegenheit seiner Problemstellungen eine zwar scheu geachtete, aber weithin gemiedene Existenz führt wie die höhere Mathematik; und drittens die Versuchung, sich aufs ratgeberische Feld zu begeben, das Paradigma der Wahrheit gegen das der Weisheit auszutauschen und dem Publikum Halt und Hilfe bei der praktischen Lebensführung zu geben, der Weg, den Seneca und Richard David Precht einschlagen.
Um es vorwegzunehmen: Gabriel geht die Sache solide, aber ungeschickt an. Er startet mit einem Vorwort, in dem nicht weniger als 103 Personen gedankt wird. Warum hat er dieses Stück nicht ans Ende des Buchs gestellt, wo es hingehört? Es folgt eine Einleitung, die zusammenfassen soll, worum es in den einzelnen Kapiteln geht, dabei aber die Themen so stark komprimiert, dass sie dem Leser, dem sie doch den Eingang zu öffnen hätte, die Zugbrücke vor der Nase hochzieht.
Ein Satz wie „Auf diese Weise löst sich das eleatische Rätsel auf, weil die Aussage, ein bestimmter Gegenstand G oder eine Art von Gegenständen A (G) existiere nicht, G bzw. A (G) keine Eigenschaft zuspricht, die nur instanziiert sein kann, wenn der Gegenstand in dem Sinnfeld existiert, in dem man seine Abwesenheit zu konstatieren beabschtigt“ ist bestimmt weder falsch noch sinnlos; das Problem entsteht, wenn zehn solcher Sätze hintereinander kommen. Der geneigte Leser sollte außerdem schon über einige Vorkenntnisse darüber verfügen, worum es beim eleatischen Rätsel geht und was es zum Beispiel mit dem Neo-Meinongianismus auf sich hat, der wiederholt in Erscheinung tritt.
Gern greift der Autor bei der Wiedergabe von Fakten zum Gestus des „bekanntlich“, ein Wörtlein, das den Leser, der das Faktum eben nicht kennt, als Ochsen dastehen lässt. Damit hat der Autor (wohl eher gegen seinen Willen) starke Signale der Exklusion gesetzt: Laie, halte dich fern! Und so stellt sich die Frage: Für wen eigentlich ist das geschrieben?
Bestimmt wird sich die Fachöffentlichkeit über dieses Grundlagenwerk der Ontologie nicht zu beschweren haben. Aber indem es den wissenschaftlichen Prinzipien der Auseinandersetzung in solch ausdrücklicher, um nicht zu sagen, ausgewalzter Weise Genüge tut (es hat mehr als 600 Seiten), fällt es dem Ungeheuer Nummer zwei zum Opfer, dem Orchideenfach. Dabei handelt es doch von zwei Fragen, die ausnahmslos jeden betreffen: Stimmt es, dass alle Wahrheit und speziell alle Qualitäten, die den einzelnen Menschen auszeichnen, nur beliebig zuschreibbare und widerrufliche Konstrukte darstellen? Und: Steht uns wirklich ein transhumanes Zeitalter bevor, in dem entweder eine nicht menschliche Hyperintelligenz das Ruder an sich reißt oder ein wissenschaftlich komplett neu überholter Übermensch den Weg aus Tod, Beschränkung und Geschichte findet?
Darum geht es freilich erst im dritten und letzten Teil, der den Titel trägt „Sozialer Realismus“. Teil eins und zwei haben es mit „Fiktionalem Realismus“ und „Mentalem Realismus“ zu tun, das heißt, mit klassischer Ontologie, einem Teilgebiet der Philosophie, das offenbar besonders viele Absurditäten gezeitigt hat, an welchen sich der Autor getreulich abarbeitet.
Die Ontologie indessen ist für den Nichtphilosophen wahrscheinlich der unergiebigste philosophische Bezirk überhaupt. Gibt es Einhörner oder gibt es sie nicht? Die Antwort darauf, so komplex sie im Einzelnen ausfällt, ist niemandem ernsthaft fraglich: Es gibt sie in einer sehr spezifischen Weise als Fantasieprodukt, das aber als solches durchaus wieder in die Lebensrealität zurückwirkt, wenn sich zum Beispiel ein kleines Mädchen um jeden Preis ein Einhorn wünscht und damit seine Eltern zur Verzweiflung treibt.
Gabriel erweist sich bei solchen und ähnlichen Themen stets als der Anwalt des Augenmaßes und des gesunden Menschenverstandes; aber da seine Gegner sich davon weit entfernen, muss auch er das Handgreifliche hinter sich lassen, wenn er sich auf ihre Spur setzt, um sie zu widerlegen. Er vertritt dabei eine „Sinnfeldontologie“, kurz SFO, die, sehr verknappt ausgedrückt, das Einheitliche einer Weltanschauung durch die Vorstellung verschiedener wirklicher und wirksamer Teilbereiche ersetzt, die lose interagieren und niemals als Gesamtsystem beschrieben werden können. Das ist wenig, aber richtig.
Dass es so etwas wie „Sozialontologie“ geben soll, leuchtet erst nicht so recht ein, dann aber umso mehr: Es geht darum, gewisse Tatsachen der Willkür interessegeleiteter An- oder Aberkennung zu entziehen und darauf hinzuweisen, dass es jenseits der zäh feilschenden und zankenden Lobbys doch so etwas wie Wahrheit und Wirklichkeit gibt, woran man nicht vorbeikommt. Gabriel beharrt (und das ist sein größtes einzelnes Verdienst) auf der „Unhintergehbarkeit“ des Geistes, die er gegen den bornierten Positivismus, den „naturalistischen Überfall“, ebenso wie gegen die sozialkonstruktivistische Relativierung verteidigt.
An erster Stelle setzt er, egal was die Evolutionisten vom Affen im Anzug oder die Neurologen vom Bewusstsein als Funktion feuernder Nerven fabeln, unverrückbar die menschliche Freiheit. Und erst im Licht dieses Buchs erkennt der Leser, dass sich, bei aller sonstigen Unübersichtlichkeit und Widersprüchlichkeit, alle heute vorherrschenden Ideologien und Mythologien (zwischen denen Gabriel im Übrigen sauber und triftig unterscheidet) gewissermaßen verschworen haben, unsere Freiheit erst theoretisch in Abrede zu stellen und dann praktisch zu vernichten. Dabei liefert er viele schöne Beispiele einer ausdifferenzierten Eristik, das heißt Streitkultur, was für die Zukunft des Deutschen als Wissenschaftssprache doch gewisse Hoffnungen weckt. In hohem Grade lesenswert sind etwa jene Passagen, wo er Habermas in die Pfanne haut (was hier leider nicht ausgeführt werden kann); wer bis Seite 600 durchgehalten hat, wird reich belohnt.
Gabriel ist in der Vergangenheit polemisch angegangen worden, weil er allzu populär und trivial operiere, als übereifriger Streber und jugendlicher Frechdachs zugleich, und diese unfaire Kritik hat ersichtlich ihre Spuren hinterlassen: Das soll ihm niemand mehr vorwerfen können! Aber so verstrickt er sich tief ins Handgemenge mit den irrenden Kollegen – daran kann jene breitere Öffentlichkeit, an die er doch auch denkt, unmöglich Anteil nehmen.
Markus Gabriel hat uns viel zu sagen, tut aber sozusagen alles, damit das Wesentliche untergeht. Man möchte aus diesem Buch jenes zweite schälen, das drinsteckt und nicht herauskann. Es gibt ein Gedicht von Bert Brecht, „Die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“, worin ein Zöllner auftritt, der den Denker bei einer Rast auf der Flucht dazu veranlasst, sein Wissen auf fassliche Art niederzuschreiben, damit es nicht verloren gehe, „denn wer wen besiegt, das interessiert auch mich“. Einen solchen Zöllner wünscht man Markus Gabriel.
Markus Gabriel: Fiktionen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 636 Seiten, 32 Euro.
Hier argumentiert ein Anwalt
des Augenmaßes und des
gesunden Menschenverstandes
Der Autor hat uns viel zu sagen,
tut aber sozusagen alles,
damit das Wesentliche untergeht
Markus Gabriel, Jahrgang 1980, lehrt Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit und Gegenwart an der Universität Bonn. Allgemein bekannt wurde er mit seinem Buch „Warum es die Welt nicht gibt“ (2013).
Foto: imago/Future Image
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»Markus Gabriel hat uns viel zu sagen ...« Burkhard Müller Süddeutsche Zeitung 20200805