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900 Tage dauerte die Blockade Leningrads (1941-44) durch die deutsche Wehrmacht. Die Stadt, ihrer Infrastruktur durch die systematische Bombardierung völlig beraubt, bot ein Bild des Grauens: Bombenruinen, zerfetzte Körper, brennende Häuser, 40° Frost, keine Lebensmittel, kein Brennmaterial, keine Zeitungen - täglich verhungern und erfrieren Tausende.Gennadij Gors während der Blockade entstandenen Gedichte reagieren auf die Schrecken nicht mit dem offiziell geforderten Heldenpathos, sondern mit einem lakonisch-spielerisch daherkommenden, schonungslosen 'lyrischen Bericht', der die Vorkommnisse…mehr

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Produktbeschreibung
900 Tage dauerte die Blockade Leningrads (1941-44) durch die deutsche Wehrmacht. Die Stadt, ihrer Infrastruktur durch die systematische Bombardierung völlig beraubt, bot ein Bild des Grauens: Bombenruinen, zerfetzte Körper, brennende Häuser, 40° Frost, keine Lebensmittel, kein Brennmaterial, keine Zeitungen - täglich verhungern und erfrieren Tausende.Gennadij Gors während der Blockade entstandenen Gedichte reagieren auf die Schrecken nicht mit dem offiziell geforderten Heldenpathos, sondern mit einem lakonisch-spielerisch daherkommenden, schonungslosen 'lyrischen Bericht', der die Vorkommnisse konkret benennt: Hunger, Eiseskälte, Artilleriebeschuss, Kannibalismus und der allgegenwärtigeTod. Die den Terror kontrastierenden spielerischen Rhythmen und die oft absurd wirkenden Reime erzeugen eine verzweifelte Komik. Und auch die eingestreuten Erinnerungssplitter an bessere Tage und menschliche Nähe verstärken nur den Eindruck der totalen Vereinsamung und Haltlosigkeit in einer Welt, in der nichts mehr so ist, wie es einmal war.
Autorenporträt
Gennadij Samojlovic Gor, geboren 1907 im transbajkalischen Verchneudinsk, gestorben 1981 in Leningrad. Stand mit Daniil Charms und Aleksander Vvedenskij, den Hauptakteuren der Avantgarde-Gruppe OBERIU, in Kontakt. Veröffentlichte seit 1923 experimentelle Prosa. Nach Kriegsende wandte er sich der so genannten wissenschaftlichen Phantastik zu. Auf Deutsch erschien zuletzt: Das Ohr. Friedenauer Presse, 2007.Peter Urban hat dieses einzigartige dichterische und menschliche Dokument sorgfältig übersetzt und ediert, sowie mit einem die Hintergründe ausführlich dokumentierenden Nachwort versehen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.05.2008

Esst nicht mein Bein

Sprachüberlebnis: Die Gedichte Gennadij Gors berichten auf ganz besondere Weise vom Leid während der Blockade Leningrads. Jetzt wurden sie wiederentdeckt.

Russland, hat Andrej Bitow über seine Heimat gesagt, ist das Land, wo Kafka wahr wird. Wo die Wirklichkeit Menschenschicksale deformiert, werde kubistische Zertrümmerung real erfahren. Der Dichter Gennadij Gor (1907 bis 1981), der die Leningrader Blockade von 1941 bis 1944 durchlitt und in Verse verdichtete, sah damals Hitler, Gogol und Goya herumspuken, aber auch verselbständigte Körperteile.

Im Avantgardelabor des nachrevolutionären Petrograd, wohin es den in der sibirischen Einöde jenseits des Baikalsees geborenen Gor als Student zog, entwickelte er sich zum Sprachkünstler. Gor veröffentlichte von den zwanziger Jahren an Experimentalprosa, die Peter Urban unlängst dem deutschen Leser zugänglich gemacht hat, und nach Kriegsende Science-Fiction-Romane. Von Gors Blockade-Lyrik wussten nicht einmal engste Freunde. Die schöne zweisprachige Ausgabe, die Urban jüngst in der Friedenauer Presse herausgegeben, übersetzt und mit sorgfältigen Kommentaren versehen hat, ist - nach mehr als sechzig Jahren - eine doppelte russisch-deutsche Erstpublikation.

In der verflüssigten Ausdrucksform der Lyrik begegnet Gor dem Horror der Belagerung. Den Hungerkannibalismus beschwört er in dem Gedicht "Esst nicht mein Bein", das mit Kreuzreim und Amphibrachys wie ein verzweifelter Zauberspruch die Anatomie durchgeht. Die freien Verse von den Gästen, die nach dem Katzenbratenbankett von "Schwiegervater" Tod in Rodelschlitten abgeholt werden, schildern die winterlichen Leichentransporte als gespenstische Zaubermärchenszenen. Das Gedichtgenre sei eigentlich "zu schön", um sich mitzuteilen, fand Gor, und daher etwas peinlich. Doch Dokumentarberichten über die Kälte- und Hungerhölle haben seine Verse jene Subjektivität voraus, die Kultur und Humanität ausmacht.

Dazu gehören auch Erinnerungen an bessere Tage. In Gors naturerotischen Phantasien werden Bäume oder Bäche zu Mädchen, die, wie Dryaden oder Najaden, ihn umarmen, durchdringen, forttragen. Das Lächeln der Gioconda wollte er enträtseln, bekennt der Poet, der aus den Wäldern kam. Dabei habe er nicht einmal die einfachen Mädchen verstanden, begreift er nun, im Krieg, da sie vergewaltigt und zerstückelt werden oder verfaulen wie in Goyas Caprichos.

Wenn der Mensch stirbt, empfindet zuletzt nur noch der Kopf. Der Kulturhistoriker Dmitri Lichatschow, der die Blockade überlebte, berichtet von Verhungernden, die zu schwach waren zur Nahrungsaufnahme, aber noch wissenschaftliche Abhandlungen verfassten. Gor sieht im sich auflösenden Leningrader Organismus kanonisierte Literaten umherwandern. Götterliebling Puschkin bringt vor der Sowjetmilizionärin jedoch kein Wort heraus. Tasso öffnet nur stumm den Mund. Und Ovid träumt frierend von Brötchen. Wo die menschliche Frequenz versagt, kehrt die Sprache wieder heim zum Wasser, zum Stein und ins Schweigen der Nomaden.

KERSTIN HOLM

Gennadij Gor: "Blockade". Gedichte. Aus dem Russischen übersetzt von Peter Urban. Edition Korrespondenzen, Wien 2007. 240 S., geb., 23,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Neunhundert Tage dauerte die Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht, mehr als eine Million Menschen starben in dieser Zeit durch den Hunger, die Kälte und den Artilleriebeschluss. Hitler wollte die Stadt der Oktoberrevolution dem Erdboden gleichmachen, Stalin sie auf keinen Fall preisgeben. Für den Rezensenten sind die Gedichte des russischen Schriftstellers Gennadi Gor aus dieser Zeit, ein ebenso wertvolles Dokument wie Lidia Ginsburgs "Aufzeichnungen eines Blockademenschen". Beklemmend sind sie, schreibt Dutli, gar nichts Heroisches ist ihnen eigen. Für geradezu "einmalig, in der russischen Lyrik beispiellos"  hält der Rezensent, wie radikal und dabei nur scheinbar surreal Gor die Verzweiflung der "unsäglich leidenden Zivilbevölkerung" darstellt. "Ein atemberaubende Entdeckung" nennt Dutli Gors Gedichte zeitgleich mit seinen phantastischen Erzählungen "Das Ohr" erscheinen.

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