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Ein Stück Weltliteratur: »Dein Gesicht morgen« von Javier Marías
Jaime Deza hat die Begabung, hinter den Gesichtern von Menschen ungeahnte Seiten zu erkennen, auch bei sich selbst. Der Spanier wird für den britischen Geheimdienst rekrutiert. Beim Entschlüsseln von Gesprächen und Gesten entdeckt er, dass unter der scheinbar friedlichen Oberfläche unserer Welt stets die Verführung zu Lüge und Gewalt droht, wie ein Gift, das uns langsam eingeflößt wird. Die Abgründe menschlicher Leidenschaft verbinden sich aufs Unheimlichste mit den gewaltsamen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Ursprünglich…mehr

Produktbeschreibung
Ein Stück Weltliteratur: »Dein Gesicht morgen« von Javier Marías

Jaime Deza hat die Begabung, hinter den Gesichtern von Menschen ungeahnte Seiten zu erkennen, auch bei sich selbst. Der Spanier wird für den britischen Geheimdienst rekrutiert. Beim Entschlüsseln von Gesprächen und Gesten entdeckt er, dass unter der scheinbar friedlichen Oberfläche unserer Welt stets die Verführung zu Lüge und Gewalt droht, wie ein Gift, das uns langsam eingeflößt wird. Die Abgründe menschlicher Leidenschaft verbinden sich aufs Unheimlichste mit den gewaltsamen Katastrophen des 20. Jahrhunderts.
Ursprünglich in drei Teilen erschienen, gilt dieser in jeder Hinsicht monumentale Roman als Gipfelwerk des Weltautors Javier Marías.

»Ein großer Roman.« Denis Scheck, Druckfrisch
Autorenporträt
Javier Marías, 1951 als Sohn einer Lehrerin und eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen geboren, veröffentlichte seinen ersten Roman mit neunzehn Jahren. Seit seinem Bestseller ¿Mein Herz so weiß¿ gilt er weltweit als beachtenswertester Erzähler Spaniens. Zuletzt erschien sein Roman 'Berta Isla'; im Oktober 2022 erscheint sein letzter Roman 'Tomás Nevinson'. Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Nelly-Sachs-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt. Am 11. September 2022 ist Javier Marías in Madrid verstorben.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.04.2010

Die Gabe
Javier Marías schließt sein dreiteiliges Opus magnum ab
Wenn „Dein Gesicht morgen”, Javier Marías’ Opus magnum, zwar schon 1600 Seiten umfasst, so ist es damit längst noch nicht getan. Der Roman reicht weit über seine eigenen Grenzen hinaus und steht in enger Verbindung mit anderen Marías-Romanen: Der Erzähler von „Dein Gesicht morgen”, Jaime Deza, taucht beispielsweise schon in „Alle Seelen” auf, einem frühen Oxford-Roman Marías’, „Morgen in der Schlacht denk an mich”, der titelgebende Shakespeare-Vers eines Marías-Romans von 1994 wird nicht nur wortwörtlich zitiert, mehrere Figuren dieses Romans spielen im aktuellen Werk ebenfalls eine Rolle, und das auch in „Dein Gesicht morgen” anklingende Motiv des öffentlichen Selbstmords scheint direkt aus Marías’ Bestseller „Mein Herz so weiß” übernommen zu sein.
Mehr noch: Auch der schönen Tradition, berühmte Menschen in seine Werke zu integrieren, ihnen am besten ein ganzes Kapitel zu widmen, bleibt Marías dankenswerterweise treu. In seinen ansonsten gerne die ganz großen Themen behandelnden Erzähllabyrinthen nämlich bilden sie stets den humoristischen Höhepunkt. Ob es in „Mein Herz so weiß” Margret Thatcher und Felipe González sind, die auf eitle, aber nicht unsympathische Weise einen aufgezwungenen Dialog miteinander führen, oder ob in „Morgen in der Schlacht denk an mich” der spanische König Juan Carlos selbst auf etwas herablassende, aber doch nicht ganz blöde Art monologisiert – fast scheint es, als wolle der Autor Marías sich und den Lesern eine Auszeit gönnen von den sonst so ernsten Themen seiner Werke.
In „Dein Gesicht morgen” nun hat ein nicht ganz so berühmter Spanier, in Spanien aber durchaus bekannter Philologe, Francisco Rico, einen Kurzauftritt (wobei bei Marías zehn Seiten immer noch als „kurz” gelten müssen). Rico sitzt im Büro des spanischen Kulturattachés in London, als der Erzähler den Raum betritt. Augenblicklich versteinert der Attaché, De la Garza sein Name, ein vulgärer und arroganter Idiot, ein sprücheklopfender Macho mit Pferdeschwanz und ohne Manieren.
Wie der Leser aus dem zweiten Band von Marías’ Roman – insgesamt sind es drei Bände, die keinesfalls unabhängig voneinander zu lesen sind und darum auch keine Trilogie, sondern ein geschlossenes Werk bilden – wie der Leser aus diesem zweiten Teil von „Dein Gesicht morgen” weiß, war Jaime Deza nämlich anwesend, als De la Garza eine unvergessliche und sehr gewalttätige Lektion erteilt wurde. Nur knapp der Enthauptung durch Dezas Chef entgangen, führt Dezas Auftauchen in De la Garzas Büro bei diesem nun zu blanker Panik. Er vergisst seinen prominenten Gast, krümmt sich zusammen und wünscht sich nichts anderes, als dass Deza verschwindet.
Francisco Rico, der Philologe, ein hochgebildeter und mit seiner Bildung gerne prunkender Mann, einer der, wie es heißt, nie aufhören kann zu denken, und dem es schwer fällt, einmal nicht zu reden, selbst Rico hält angesichts dieser von Panik und Aggression geprägten, ihm zwangsläufig unverständlichen Szene irgendwann still; doch das auf geradezu majestätische Art: „Rico steckte sich noch eine Zigarette an, er hatte begriffen, daß der undurchdringliche Konflikt sich exklusiv und in vielleicht pathologischer Weise zwischen De la Garza und mir abspielte und er daraus nicht schlau werden würde. Er machte eine Handbewegung, die besagte, daß er davon nicht mehr wissen wollte, daß er seine Versuche ohne Bedauern aufgegeben hatte, und brummte eine weitere seiner vielfältigen Lautmalereien in sich hinein: ,Esh‘, sagte er. Das klang für mich genau nach: Na gut, vergessen wir diese zwei Idioten, ich denke über meine eigenen Angelegenheiten nach, ich habe nicht noch mehr Zeit zu verschwenden.”
Hier zeigt sich nicht nur, welch ein großer Humorist Javier Marías sein kann, es weist ihn auch als klugen Psychologen aus. Und die Psychologie, sie ist ein tragendes Thema der 1600 Seiten, von denen die letzten 700 nun unter dem Titel „Gift und Schatten und Abschied” erschienen sind: Eine nicht immer so kurzweilige Lektüre, wie es die zitierte Szene nahelegen mag, aber doch eine, die beherrscht wird vom für viele so unwiderstehlichen Marías-Sound, seinen raunenden, beschwörerisch-elliptischen Satzgebilden. Dem muss man sich ausliefern. Was man auch als Geschwätzigkeit empfinden kann, hat hier nämlich durchaus seinen Sinn.
Doch erst einmal zurück zur Psychologie: Jaime Deza, Madrilene, arbeitet aufgrund einer speziellen Gabe in London, und zwar in einer namenlosen Gruppe, die dem Geheimdienst MI6 unterstellt ist. Diese Gruppe ist damit beauftragt, Menschen zu deuten und zu „übersetzen”; mit ihrer Hilfe soll herausgefunden werden, wie jemand in Extremsituationen reagiert, ob ihm zu trauen ist oder ob er zu bestimmten Taten in der Lage wäre. Kurz: Jaime Deza und seine Kollegen sollen durch genaue Beobachtung versuchen herauszufinden, wie ein „Gesicht morgen” aussehen wird.
Und so wie Deza, wenn es darum, geht jemanden zu deuten, in einer Art Kreisbewegung – maximal unvoreingenommen – die Persönlichkeit der jeweiligen Person einzugrenzen bemüht ist, so zieht auch der Erzähler Marías erst einmal alles in Betracht und arbeitet sich über unzählige Klammern und Einschränkungen immer weiter vor, bis er den Kern einer Sache meint, erfasst zu haben: „Ich bemerkte an ihm nie eine Spur von Bitterkeit oder Sarkasmus sich selbst gegenüber oder von Groll meiner Ferne wegen, aber doch so etwas wie die Mischung auf Betrübnis und Stolz oder aus gedämpfter Reue und verhaltener Genugtuung, von der die Beschützer manchmal befallen werden, wenn ihre Schützlinge sich emanzipieren, oder die Lehrer, wenn sie sich von ihren Schülern an Kühnheit, Talent oder Berühmtheit übertroffen sehen.”
Es scheint, als würde die Welt geradewegs auf diesen Erzähler einstürzen und er sei genötigt, angesichts unendlicher Möglichkeiten – in einem Akt des erzählerischen Aussortierens – nach und nach all das zu verwerfen, was ihm fragwürdig oder falsch vorkommt. Deza – und mit ihm sein Schöpfer Javier Marías – ist ein Hermeneut, einer, der die Welt als Ansammlung von Interpretationen und Fiktionen begreift. Für einen Übersetzer wie für einen Schriftsteller liegt diese Sichtweise nahe, doch birgt sie ein großes Problem: Sollte die Welt tatsächlich so eingerichtet sein, dass es keinen letzten Grund gibt, dann befindet sich auch der eigene Standpunkt innerhalb dieses spekulativen Chaos. Es gibt kein „Draußen”, von dem aus man mit Sicherheit sagen könnte, dass die Welt unsicher ist.
Dieser Zweifel nagt an „Dein Gesicht morgen”, an dieser bohrenden Frage muss der Roman zwangsläufig scheitern.
Doch auch andere Marías-Themen klingen in „Dein Gesicht morgen” an, allen voran der Verrat. Der Erzähler trägt den Verrat schon im Namen: Jaime Deza ist kein heiliger Jakob, sondern ein Iago, ein Jago mithin, der seinen eigenen Einflüsterungen erliegt. Als Zeuge der Szene in der Behindertentoilette – als De la Garza von Dezas Chef zwar nicht der Kopf, aber immerhin der Zopf abgetrennt wird – glaubt Deza, dass er selbst über die Fähigkeit verfüge, einem anderen Menschen unendlichen Schrecken einzuflößen, und dass er zweitens das Recht dazu habe.
Als er seine Ex-Frau in Madrid besucht und sieht, dass ihr neuer Liebhaber sie schlägt, ergreift er gleich die Gelegenheit, sich selbst seine neue Fähigkeit unter Beweis zu stellen. Nur klappt das erstens nicht so gut wie bei De la Garza (auch der Schläger-Liebhaber seiner Frau trägt einen Zopf und wird diesen bis zum Ende behalten). Außerdem muss oder müsste Deza einsehen, dass er nun einer von jenen ist, die meinen, Gewalt ausüben zu dürfen, die sich selbst dazu ermächtigen, anderen Leid zuzufügen – ein Anblick, den er vor seiner eigenen Tat nicht zu ertragen können meinte. Doch ist das untertitelgebende „Gift” bei einer nächtlichen Sitzung, während der ihm sein Chef auf DVD die abgründigsten Taten vorspielte, gegen jeden Widerstand in ihn eingedrungen. Er ist infiziert von Selbstüberschätzung, verführt von der Möglichkeit, sich und seine Prinzipien auch selbst zu verraten
„Es ist erstaunlich, wie wir die am meisten geliebten Gesichter weder heute noch gestern kennen, und von morgen wollen wir erst gar nicht reden.” So heißt es an einer Stelle, und das eigene Gesicht ist in diese Einsicht mit einbegriffen. Es bedeutet natürlich keinesfalls ewige Verdammnis für Deza, dass er sein Opfer als „Schatten” verfolgt und ihm schließlich eine Pistole an die Schläfe hält, „Ewigkeit” ist im Reich ständiger Spekulation ein sehr relativer Begriff. Tatsächlich ist Deza am Ende durchaus mit sich und seiner Ex-Frau im Reinen; seinen Job hat er nicht zuletzt wegen des „Gifts”, das man ihm verabreicht hat, aufgegeben. Darum vielleicht ist ihm das Erinnern so wichtig, das minutiöse Wiedererzählen des Erlebten und Gedachten: Wenigstens der Vergangenheit will er sich sicher sein.
Er erinnert sich im Stil eines Gesellschaftsromans aus dem 19. Jahrhundert. Unendlich viel wird hier miteinander und vor allem übereinander geredet, jeder Wortbeitrag gleicht einem Monolog, jeder Abschnitt zeugt von einer Erzählbesessenheit, die in ihrem noch auf die feinste Nuance zielenden Ehrgeiz schon wieder an Marcel Proust oder mehr noch vielleicht an Michel Butor erinnert. Die Kraft dieser Erzähler ist Javier Marías durchaus zu eigen, doch geht ihm ihre Kühnheit ab.
Im Grunde bleibt er ein konventioneller Erzähler, ein ausufernder Eklektiker, und – was ihn so sympathisch macht – ein gegen dieses Ausufern ständig ankämpfender, ein das eigene Erzählen unter ständige Beobachtung stellender Erzähler. Und auch wenn Marías angeblich nie wieder einen Roman schreiben will, wenn wir uns einen so langen auch nicht ernsthaft wieder von ihm wünschen, so sei ihm, dem unermüdlichen Shakespeare-Leser und -zitierer, aus der Ferne doch wenigstens das eine zugerufen: „Träume, träume weiter, von Tod und blutigen Taten”. TOBIAS LEHMKUHL
JAVIER MARÍAS: Dein Gesicht morgen. 3. Gift und Schatten und Abschied. Übersetzt von Elke Wehr und Luis Ruby. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2010. 726 Seiten, 29,90 Euro.
Der bohrende Zweifel seines Protagonisten lässt den Roman zwangsläufig scheitern
Marías zeigt sich hier nicht nur als großer Humorist, sondern auch als kluger Psychologe
Die Kraft ist durchaus da, allein es fehlt die Kühnheit des großen Gesellschaftsromans
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

" Andreas Kilb wähnt sich im Märchen, wo einem gereiften Autor noch einmal die Veränderung seines Schreibens glückt. Endlich gebe das Erzählen wieder den Blick frei auf das Erzählte. So kann der Rezensent dieses Mittelstück einer Trilogie mit seinen aus früheren Büchern von Javier Marias bekannten Figuren in vollen Zügen genießen. Und erkennen, dass er es nur vordergründig mit einer Agentenstory zu tun hat, eigentlich jedoch mit einem Buch über das Gedächtnis, "den Prozess der mündlichen Überlieferung, der aus Geschehenem Geschichte macht". Das scheint dunkel und spannend. So sehr, dass Kilb auf die eingestreuten Gelehrtheiten, den "intellektuellen Flitter", gern verzichtet hätte. Die Kunst jenseits des Virtuosen, freut er sich, beherrsche Marias nach wie vor, und ruft nach Fortsetzung.

© Perlentaucher Medien GmbH"
"Steckt in allen Romanen von Marías Autobiographisches, so nimmt er in "Tanz und Traum" ein Thema auf, das in Spanien seit geraumer Zeit groß in Mode ist, das aber nur wenige - wie Jorge Semprún - mit solch großer Virtuosität wiederzugeben vermögen: den Bürgerkrieg. Seine Folgen bis in unsere Tage verbindet Marías mit seinem alten, weiterentwickelten Leitmotiv: Hören müssen - um dann schwiegen zu können. Nichts erzählen, nichts weitersagen. Denn gefragt, gebeten, angebettelt zu werden, etwas erzählen zu bekommen ist unvermeidlich.
Stefanie Bolzen, Die Welt, 10.6.2006

"Marías hetzt seine Leser nicht, er schenkt ihnen auf altmodische Art Muse, eine literarische Pause vom Alltag. Einmal mehr beweist der Spanier, dass er zu den lesenswertesten zeitgenössischen Autoren gehört. Teil 3 wird demnächst in Spanien erscheinen. Man darf sich schon jetzt darauf freuen."
Joachim Knapp, Rhein-Zeitung, 5.5.2006

"Dann blickt man durch das Sprachgewebe in eine Welt, in der die organisierte Unvernunft regiert, Gier und Betrug, Grausamkeit, Rachsucht, Selbsttäuschung, verletzte Eitelkeit. ... Dies ist ein Buch, das ohne Gelehrtheiten auskommt. Es gibt eine Kunst jenseits des Virtuosen, die Marías zuletzt verlernt hatte. Nun zeigt er, daß er sie noch beherrscht. ... Wir bitten um einen Schluß der Trilogie, der das Niveau dieses Mittelstücks hält."
Andreas Kilb, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.3.2006

"Auch er lässt die Dinge, oder besser: die Sätze einfach laufen, bald hierhin, bald dorthin wehen, auf dass sie die verschiedensten Muster und Figuren bilden. Und so ist auch die Verbindung zum ersten Teil der Trilogie bestenfalls eine lockere. Eine Fortsetzung im klassischen Sinn ist das nicht. Doch sollte den Leser das stören? Die Geschichte, der Plot hat bei Marías ohnehin ausgedient. Dafür nehmen seine wunderbar leichten Sätze noch den bedrückendsten Themen die Schwere. Marías ist ein feinsinniger Chronist der Gegenwart."
Kersten Knipp, Neue Zürcher Zeitung, 14.3.2006
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.2010

Wie eine Schlange unter der Haut

Thriller, Melodram, Geisterbeschwörung und eine Krypta für die Toten des zwanzigsten Jahrhunderts: Mit dem dritten Band von "Dein Gesicht morgen" steigert Javier Marías diese Trilogie zu seinem unheimlichsten Meisterwerk.

Von Markus Gasser

Wir sind am Ende, und auf die Gefahr hin, dass wir von nun an mit dem Gift seiner Geschichte in uns werden leben müssen: jetzt, da alle tot sind, hat er keinen Grund mehr zu schweigen. Sir Peter Wheelers Tonfall wird düster, seine mineralischen Augen verwandeln sich in die Asche unvordenklicher Erschöpfung - in der einen Hand hält er ein Glas Sherry, wie eine Lanze in der anderen den Spazierstock, umlagert in seinem Oxforder Anwesen von Geschichtswerken, den Spionageromanen seines alten Freundes Ian Fleming und vom eigenen Tod. "Ich war damals sieben Jahre älter als sie und jetzt so viele mehr, ich sollte ihnen nicht noch weitere hinzufügen" - und dem Leser stockt, an der Seite des Erzählers Jacobo Deza, der Atem. Denn Wheeler hat sich nun doch entschlossen, das Geheimnis zu offenbaren um den frühen Tod seiner Frau Valerie 1946, als seine Gabe der Voraussicht versagte, über die auch sein Schützling Deza verfügt: Beide können an Sprache und Gebärden erkennen, wie sich einer künftig verhalten, welches "Gesicht morgen" er tragen wird - und sei es oft nur, um es für immer zu verlieren.

Was Wheeler zu erzählen hat, ist ein über Aberdutzende von Seiten galgengespannter Moment des Grauens, wie ihn kein Autor des Thrillergenres, zu dem "Dein Gesicht morgen" auch gehört, zuwege brächte, einfach weil er nicht Javier Marías ist: Der übersetzte die Geisterexperten Henry James und Nabokov ins Spanische, erlernte darüber das Schreiben und verehrt Proust wie Thomas Bernhard, ohne die Großmeister des Spannungsfachs von Frederick Forsyth bis John Le Carré je aus den Augen zu lassen. Seine an Millionenauflagen ermessbare Kraft gründet darin, immer eine Intrige spinnen, einen actionversierten Plot im Sinne Hollywoods ersinnen und ihn dann leichthin mit dem Spitzenanspruch des Modernismus verbinden zu können; und so wird "Dein Gesicht morgen", dieses starke Stück von drei Bänden und rund 1600 Seiten, mit Wheelers Eröffnung gleich sein Ende und dabei auch jener Blutfleck eine Erklärung finden, den Deza viele Jahre zuvor in einer mit Zigaretten, Whisky und Recherchen zum Spanischen Bürgerkrieg durchfieberten Nacht in Wheelers Haus entdeckte und zu entfernen versuchte, ohne dass der - gespenstisch - zur Gänze verschwand. Wheelers verspätete Beichte und der blasse Rand, der vom weggeriebenen Blut einst blieb, schließen den Keim der ganzen - auch der künftigen - Geschichte in sich, die die unserer Toten ist: Wie ein Gespenst jagen die Opfer des vergangenen Jahrhunderts allen Gestalten dieses Romans hinterher.

Von Gespenstern ist Javier Marías seit jeher besessen, und mit "Dein Gesicht morgen" hat er auch hierin den Höhepunkt seines Schaffens erreicht: Es verwundert nicht, dass er verkündet, keinen Roman mehr schreiben zu wollen. "Was ich leisten konnte, ist getan." Nach seinen beklagenswert unreifen Mehrfachdebüts - "Die Reise über den Horizont", "Der Gefühlsmensch", "Alle Seelen" - ließ er in seinen bisherigen Meisterwerken "Mein Herz so weiß", "Morgen in der Schlacht denk an mich" und "Als ich sterblich war" Gespensterheere an seinem Schreibtisch vorbeidefilieren und lächelte ihnen bestimmt und freundlich zu; und in "Dein Gesicht morgen" versammelt er beinah alle von ihm erfundenen Gestalten wie zum letzten Mal um sich: Deza - das Ich von "Alle Seelen" -, Clare Bayes, Toby Rylands, Lord Rymer, Isaac Custardoy und Juan Ranz.

Das Universum von Javier Marías ist, so hochliterarisch feinnervig, nuanciert und selbstreflektiert es sich auch immer gibt, archaisch wie ein film noir, wund von Angst und Schuld, gewalttätig und ganz demonstrativ voll der letzten, großen Dinge: Noch kein Leser wird sich darüber beklagt haben, von ihm nicht existentiell gefordert worden zu sein. Sein Schutzdämon Shakespeare, dessen Konterfei er während der Arbeit auf einem Button am Revers trägt wie einen Talisman, schenkt ihm die Titel für seine Romane, und durch die Gedankenwelt seiner Geschöpfe spuken die Stimmen aus "Macbeth", "Richard III." und "Heinrich IV." als Segen und Fluch. Wenn es bei Marías einmal nicht ums Ganze ging wie im "Schwarzen Rücken der Zeit", verirrte er sich in einer Melange aus schelmischem Understatement und humoristischer Arroganz, die seinen Erzählern glücklich fehlt. Bei kaum einem anderen europäischen Romancier der letzten zwei Jahrzehnte hat man so unbeschwert die Borgessche Weisheit studieren können, dass ein großer Schriftsteller immer ein Meister der Maske ist, die Maske sein wahres Gesicht und er sich selbst schon zu Lebzeiten ein Gespenst ist.

So musste ein Toter im Jenseits von "Als ich sterblich war" (dt. 1999) auch die ihm bis dahin unbekannten Momente seines Erdendaseins durchleben: die Nötigung seiner Mutter durch einen Franquisten ebenso wie die eigene Ermordung. Doch handgreiflich rächen kann sich ein Toter nicht mehr: Wenn wir, so lautet die einzige Moral, die Marías auszusprechen bereit ist, voneinander alles wüssten, brächten wir uns und einander wechselseitig um. Zu Beginn von "Mein Herz so weiß" (1996) schoss sich eine Frau ins Herz, da sie den Fluch nicht ertrug, dass ihr Gatte für ihrer beider Ehe seine erste Frau ermordet hatte, und in "Morgen in der Schlacht" fühlte sich der Erzähler Víctor Francés vom Geist jener Frau verfolgt, die knapp vorm Ehebruch in seiner Gegenwart starb, empfand sich schon als Personifikation des Todes, bis er erfuhr, dass der Ehemann der Toten fernab wiederum den Tod seiner Geliebten verschuldet hatte. In "Morgen in der Schlacht denk an mich" (1998) kamen die Geister bereits durchs Telefon und waren dem Horrorfilm damit um Jahre voraus: Es ist erstaunlich, dass Marías glaubte, uns überhaupt noch in Erstaunen versetzen zu können nach all diesen explosiven Anfangssätzen, Bernhardschen Spanien- und Kollegenschelten, blendenden Reflexionen und Aphorismen und Beschwörungsformeln, den extravaganten Plotwendungen und wilden Schlüssen, wie sie in der Literaturgeschichte so sonst nicht zu finden sind.

Doch er kann. Marías ist der Symphoniker unter den Romanciers: Nur die Grundzüge seines Plots und wenige Leitmotive vor Augen, schreibt er rasch, und so mühelos rasch muss man ihn auch lesen; dann treibt man sogar auf den Endlossätzen seiner legendären Abschweifungen wie auf Stromschnellen dahin, dem Abgrund eines neuen Handlungsschocks zu.

Der lauert in "Dein Gesicht morgen" schon im Auftakt: "Man sollte niemals etwas erzählen" - der Roman überfällt uns mit der Absage an alles, was folgt, und so paradox beginnt nur einer, der weiß, dass es diesmal ans äußerste Ende geht, über den Rand der bekannten Welt hinaus. Als Deza in der Nacht nach einer Party bei Wheeler das Fieber des Spanischen Bürgerkriegs erfasst hat, in dem franquistische Literaten etwa einen ihrer republikanischen Kollegen in Imitation eines Stierkampfs mit einer Lanze zu Tode quälten, ist er bereits in eine Falle geraten: Professor Wheeler, ein feingeistiger Hispanist, der als Agent des britischen Geheimdienstes nebenher alles miterlebte, was das vergangene Jahrhundert in Spanien, dann in Deutschland und im Kalten Krieg an Terror zu bieten hatte, rekrutiert ihn für eine Sondereinheit des MI 6, die der gewinnende und furchteinflößende Mediävist Bertram Tupra in London wie eine Kleinmafia führt; als der einen tumben Attaché der spanischen Botschaft in der Behindertentoilette einer Diskothek an den Rand des Todes bringt und Deza ihn dafür zu einer Rechtfertigung zwingt, zeigt Tupra ihm Folterszenen auf DVD, Erpressungsmaterial, gehortet gegen beteiligte Prominente, das die Qual des Attachés als geringes Übel und Rettung vor Schlimmerem erscheinen lässt und in Deza dennoch "eindringt wie eine Schlange unter die Haut". Und die Schlange beißt zu und verbreitet in Deza ihr "tödliches Gift".

Mit dem obszönen Macho-Liebhaber seiner Frau Luisa nämlich, Custardoy, verfährt er, wie Tupra es gern sähe; er ahnt sich mitschuldig am Lanzenmord eines Elton-John-verwandten Popstars, dessen "Gesicht morgen" er vorherzusagen wusste, und droht selbst sein eigenes inneres Gesicht nicht mehr zu kennen und zu Othellos "vergiftetem Schatten" Jago zu verkommen: "Ich bin nicht, der ich bin." Doch ehe Deza seinen Dienst bei Tupra quittiert, endgültig zu Luisa und den beiden Kindern nach Madrid zurückkehrt und sich mit der Aussicht abfinden muss, von Custardoy jederzeit heimgesucht zu werden, gibt ihm Wheeler sein Geheimnis mit auf den Weg: Seine Frau Valerie hatte für die "schwarze Propaganda" des britischen Geheimdienstes und zwecks Verunsicherung der Nazis an Himmler einen SS-Offizier und "heimlichen Vierteljuden" verraten, der daraufhin samt Familie im Massengrab eines Konzentrationslagers verschwand, und sich über dieser Schuld 1946 mit einem Jagdgewehr erschossen. Der rote Fleck aus jener Nacht könnte von Wheeler stammen, der, Blut hustend, an Lungenkrebs dahinstirbt, aber auch von Valerie, die in Wheelers Anwesen umgeht, da dieser ihr nicht mit seiner Gabe der Vorkenntnis beigestanden und sie nicht vor dem Suizid bewahrt hat: Gestern ist nie nur gestern, nichts lässt sich tilgen: Alles erneuert sich bloß ein ums andere Mal.

Um einen Lebenden zu begreifen, muss man wissen, wer dessen Tote sind. Seinen schönsten Essay widmete Javier Marías einst dem Film "The Ghost and Mrs. Muir" von Joseph L. Mankiewicz, bei dem man den Tod von Lucy Muir herbeisehnt, damit sie mit dem Geist Kapitän Greggs endlich zusammen sein kann. In "Dein Gesicht morgen" hat Marías seinem Vater Julián, seinem Paten Sir Peter Russell alias Wheeler, den Toten des zwanzigsten Jahrhunderts, auch den wehrlos alltäglichen Opfern des Todes, die uns so unendlich fehlen, ein Grabmonument geschaffen mit dem Wunsch, sie "mögen nun ruhen in den Seiten dieser Fiktion", auch damit das ewige innere Weinen in uns versiegt. In ihren Gräbern erzählen sie einander, so will es Marías, ihre Geschichten und warten auf den Tag, da sie von ihren Schuldigern Rechenschaft fordern. Die Einsicht, dass selbst die Täter zu Opfern werden können, hat dem Denker Marías jede Hoffnung auf ein erlöstes Morgen im Diesseits genommen. Der Romancier Marías aber erfüllt sich seinen größten Traum: die Welt "aus den Augen Gottes" zu betrachten, dem nicht die geringste Regung entgeht. Den Leser beschleicht das Gefühl - so unheimlich und sonderbar tröstlich zugleich -, bald auch selbst zu den Gespenstern von Marías zu gehören; er gedenkt unser vorab; und darin besteht am Ende die größte Leistung dieses fast schon ans Unwahrscheinliche grenzenden Meisterwerks.

Javier Marías: "Dein Gesicht morgen. 3: Gift und Schatten und Abschied". Roman. Aus dem Spanischen von Elke Wehr und Luis Ruby. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2010. 727 S., geb., 29,90 [Euro].

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