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Schwäbische Literatur? Natürlich ist in dieser Literaturgeschichte auch der Dialektliteratur ein Kapitel gewidmet, aber die Literatur der Schwaben soll in ihrer ganzen Vielfalt vorgestellt werden. Das letzte Beispiel für einen solch anspruchsvollen Versuch liegt mehr als ein Jahrhundert zurück.Seither ist die Bücherwelt größer und bunter geworden, und es haben sich neue Maßstäbe für das Alte herausgebildet.Auch die Rahmenbedingungen haben sich verändert. Es ist nicht mehr möglich, allen Verästelungen und Umwegen philologischer Textanalysen zu folgen, und wo Wikipedia im Angebot ist, können die…mehr

Produktbeschreibung
Schwäbische Literatur? Natürlich ist in dieser Literaturgeschichte auch der Dialektliteratur ein Kapitel gewidmet, aber die Literatur der Schwaben soll in ihrer ganzen Vielfalt vorgestellt werden. Das letzte Beispiel für einen solch anspruchsvollen Versuch liegt mehr als ein Jahrhundert zurück.Seither ist die Bücherwelt größer und bunter geworden, und es haben sich neue Maßstäbe für das Alte herausgebildet.Auch die Rahmenbedingungen haben sich verändert. Es ist nicht mehr möglich, allen Verästelungen und Umwegen philologischer Textanalysen zu folgen, und wo Wikipedia im Angebot ist, können die biografischen Steckbriefe gekürzt werden.Hermann Bausinger bietet in seiner Literaturgeschichte einen gestrafften Überblick über die wichtigsten Entwicklungsphasen:Entfaltung schwäbischen Selbstbewusstseins in der Poesie des 18. Jahrhunderts, Festigung schwäbischer Identität im 19. und nur schwer überschaubare Diversifikation im letzten Jahrhundert. Besonders spannende und oft auch vergnügliche Aspekte der schwäbischen Literaturgeschichte behandelt er in einer größeren Zahl von Essays. Dabei rücken nicht nur einzelne Werke der Autorinnen und Autoren in den Mittelpunkt; es geht vielmehr insgesamt um das literarische Leben, zu dem ja auch Freundschaften und Konkurrenz, Kritik und Propaganda, Marktstrategien und politische Impulse gehören.
Autorenporträt
Hermann Bausinger, 1926 in Aalen geboren, emeritierter Professor der Universität Tübingen, war viele Jahre Leiter desLudwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft.Zahlreiche Publikationen, bei Klöpfer & Meyer erschienen zuletzt etwa »Leibsorger und Seelsorger. Essays über Hebel, Hauff, Mörike, Vischer, Auerbach und Hansjakob« (2. Auflage 2011), »Der herbe Charme des Landes. Gedanken über Baden-Württemberg« (4. Auflage 2011). Mitherausgeber der »Albgeschichten« (2. Auflage 2008) und der inzwischenabgeschlossenen 25bändigen »Kleinen Landesbibliothek bei Klöpfer & Meyer.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.11.2016

Wo Schiller in den Windeln lag
Hermann Bausingers „Schwäbische Literaturgeschichte“ ist weniger ein Buch über Literatur als eines über Land und Leute
Hermann Bausinger, an seinem 90. Geburtstag, den er vor Kurzem feierte, vielfach geehrt, weiß, was ihm zusteht: Des Wohlwollens seiner Leser sicher, darf er sich die Freiheit nehmen, eine „Schwäbische Literaturgeschichte“ zu schreiben, die bei den großen Schwaben nur kurz vorbeischaut, um Zeit zu gewinnen für das Nebensächliche, das Amüsante, das bei seinen ernsten Nachforschungen gerade so anfiel.
  Bausingers „Schwäbische Literaturgeschichte“ ist kein Buch über die Literatur des Landes Baden-Württemberg; sie ist ein Buch über Schwaben und für Schwaben, und zwar für solche, die die schwäbische Literatur so gut kennen, dass sie Ausgangspunkt sein kann für allerlei aparte und ins Humoristische tendierende Überlegungen zum Umgang des Lesers mit dem Gelesenen, zur Landesgeschichte, zur Volkskunde. Der Tübinger Professor, der die Bezeichnung „Volkskunde“ für sein Fach ablehnte und sich für eine „empirische Kulturwissenschaft“ zuständig wusste, wurde in Deutschland zum Begründer der Alltagssoziologie. Er wendet nun diese Methode auf die schwäbische Literatur an und verbindet sich der altbürgerlichen Tradition Württembergs, die den heiteren Umgang mit dem Ernst erlaubt.
  So wartet denn schon die Einleitung des Buches mit der kauzigen Überlegung auf, ob nicht etwa Bertolt Brecht unter dem Begriff „schwäbisch“ zu vereinnahmen sei, da er nicht nur in Augsburg geboren wurde, sondern auch noch in Pfullingen gezeugt sein müsse, wo seine Eltern exakt neun Monate vor seiner Geburt gewohnt haben. Über solch schnurrigen Gedankenspielen kommt Bausinger zu dem Schluss, dass sein „Schwaben“ kein Ort auf der Landkarte ist, sondern eine Haltung – womit denn auch über die Zugehörigkeit Brechts zu Schwaben schnell entschieden wäre.
  Haltung und Stil kennzeichnen auch Bausinger, den Schriftsteller, und machen sein Buch selbst zu einem Werk der „Schwäbischen Literatur“. Nachdenklichkeit und Komik, die Merkmale seines Schreibens, darf man sehr wohl als typische Züge des schwäbischen Charakters verstehen. So wird der große Schiller nicht als der aufbegehrende Schüler der Karlsschule und auch nicht als der Dramatiker und Ästhetiker vorgestellt, sondern zu allererst als der sonst von den Literaturgeschichten gern übersehene Weintrinker. „Räuber“, „Fiesco“, „Wallenstein“ spielen bei Bausinger keine Rolle, lange Überlegungen darüber aber, warum Marbach, wo der Säugling nur wenige Monate in den Windeln lag, den Ruhm einer Geburtsstadt bis zum heutigen Tag so ausgezeichnet zu verwerten weiß, sind Bausinger wichtig. Den Sozialwissenschaftler und Ethnologen interessiert die Wirkung der Poesie auf Verhalten und Denken seiner Landsleute mehr als die Dichtung selbst. Literarische Größe, wie sie Schiller zusteht, wäre nicht ohne den Traum seiner Verehrer sichtbar geworden. Das Publikum der Literatur ist deshalb dem Historiker ein ebenso interessanter Forschungsgegenstand wie die Literatur selbst.
  Uhland, der lange als einer der bedeutendsten Dichter Deutschlands galt, gebührt daher ebenso viel Aufmerksamkeit, und freilich kommen all die großen Schwaben „dran“, Hölderlin, Mörike, Hauff, Schwab, auch die neueren, wie Hermann Essig und Albrecht Goes, nur werden sie immer von einem ungewöhnlichen Standpunkt aus betrachtet. Lediglich wenn sich Bausinger dem 20. Jahrhundert zuwendet, spürt der Leser an der kursorischen Aufzählung von Namen und Titeln, dass der Autor das Revier verlassen hat, in dem er sich heimisch fühlt.
  Seine eigene Zugehörigkeit zum Publikum, für das er schreibt, gesteht Bausinger bereits am Anfang seines Buches, da er sich fragt, ob eine Literaturgeschichte heute überhaupt noch möglich und sinnvoll sei, zumal wenn sie von einem einzelnen Autor verfasst ist. Der akademischen Gepflogenheit, Dutzende Spezialisten für eine solche Aufgabe zu versammeln, die in einem Band detaillierte Fachkenntnisse ausbreiten, steht sein Alleingang gegenüber. Detailreich ist Bausingers Buch ebenfalls, ja mehr noch als die Sammelwerke der Spezialisten, doch umgeht er Fragen zur Biografie, Werkentstehung und aufzählbaren literarischen Einflüssen. Viel eher möchte er wissen, wie die Leser ihren Dichter in ihr Leben integrierten.
  Vergleichbar wäre Bausinger allenfalls Rüdiger Safranski, der ebenfalls als Außenseiter die Philosophie- und Literaturgeschichte in großen Monografien abhandelt. Ein größerer Unterschied aber als der zwischen diesen beiden Autoren lässt sich nicht denken. Safranski ist vor allem Lehrer, der den traditionellen Kanon anerkennt und als verbindliches Wissen vermittelt. Bausinger ist ein Bildungsbürger – auf Schwäbisch würde man ihn einen Honoratior nennen –, der für andere Honoratioren schreibt und das Viele, was diese wissen müssen und wirklich wissen, durch eigenwillige Erkenntnisse aus seinen Lektüren anreichert. Bausinger schreibt für Liebhaber und kokettiert mit ihnen, indem er seinem Ernst allerlei Ulk beimischt. Die „Schwäbische Literaturgeschichte“ ist ein Buch für eine geschlossene Gesellschaft, die mitdenkt, die aber auch dankbar ist für Mönchsverslein von der Art, wie jenes von Carl Borromäus Weitzmann, das ihren gebildeten Stammtisch erheitert: „Alles küsst und schnäbelt um die Wette / in der Kammer und im Hain. / Und sogar der Mönch umarmt im Bette / seine volle Flasche Wein.“
  Dennoch ist Bausingers Buch nichts weniger als ein Kabarett. Dem mutwilligen Verslein geht vielmehr eine Abhandlung über das Verhältnis von Schwaben und Österreich, der Staufer und Habsburger, zur süddeutschen Aufklärung im 18. Jahrhunderts voraus, eine Überlegung über den Einfluss des neuen Denkens auf Land, Leute und Poesie. Doch stellt sich solcher Ernst im entspannten Gesprächston vor, sodass auch beiläufig eine spitze Bemerkung über den „reisefreudigen Papst“ vorkommen darf. Literatur ist für Bausinger eher ein Anlass, über kulturelle Phänomene nachzudenken, als ein Stoff, der belehrend vor Schülern und bildungsbeflissenen Lesern auszubreiten wäre.
  Es fragt sich allerdings: Wo ist das Publikum für dieses gebildete Gespräch, wo sind die Menschen, die mit Vergnügen eine Literaturgeschichte lesen, die wenig über Schillers Werk sagt, die vielmehr über die Wirkung des monumentalen Dramatikers nachdenkt, der im Schwabenland keine Nachfolger hatte, weil er eher erdrückend als anregend wirkte? Wo sind die Liebhaber der Literatur, die Bausingers Vorschlag, dass bei solcher Dürftigkeit der Dramenproduktion nach Schiller vielleicht gerade noch Mörikes „Orplid“ dem Theater als das „schwäbische“ Dramolett zu empfehlen wäre, kritisch zu prüfen bereit sind? Wo also sind die Leser, die die schwäbische Literatur so gut kennen, dass sie Bausingers ernste wie kauzige Anmerkungen zur „schwäbischen Literaturgeschichte“ mit Lust aufnehmen und verstehen wollten? „Schwaben“ sei eine Haltung, befindet Bausinger – aber: Gibt es Schwaben noch?
HANNELORE SCHLAFFER
Der Autor schreibt für
Liebhaber und mischt dem Ernst
allerlei Erheiterndes bei
Begründer der Alltagssoziologie: Hermann Bausinger.
Foto: Brigitte Friedrich
          
    
    
    
Hermann Bausinger:
Eine schwäbische Literaturgeschichte. Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen 2016.
440 Seiten. 28 Euro.
E-Book 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.2016

Durchlüftung der Heimat
Hermann Bausinger wird neunzig und legt eine schwäbische Literaturgeschichte vor

Literaturgeschichten nach Stämmen sind selten geworden. Was soll das auch sein, ein Stamm? So etwas wie ein Volk, nur regionaler und kleiner, ein Völkle? Nehmen wir die Schwaben. Sind sie dieselben wie die Württemberger? Oder grenzen sich die Württemberger nur von den Badenern ab, die Schwaben aber von allen anderen? "Der Schwabe zeichnet sich dadurch vor allen anderen Völkern aus, dass er Schwabe ist", heißt es ironisch bei Theodor Griesinger schon 1838. Ist Schwabe, wer versteht, was "noi itte" heißt, alle Bittsätze mit "Oh!" einleitet, die Kehrwoche hochhält und nichts auf den Gaisburger Marsch kommen lässt? Muss außerdem dort geboren und aufgewachsen sein, wer dazugezählt werden will? Es gibt Leute, die Vincent Klink die Stammeszugehörigkeit bestreiten.

Doch wo wäre ein solches "dort" überhaupt? Als Gustav Schwab, so berichtet die "Schwäbische Literaturgeschichte" von Hermann Bausinger, seine "Wanderungen durch Schwaben" publizierte, gingen diese bis nach Heidelberg und Freiburg, wo man sich heute wohl nicht mehr als schwäbisch ansprechen ließe. Bertolt Brecht wiederum und Friedrich Schiller - "Ein Wirtemberger ohne Wein, / Kann der ein Wirtemberger sein?" - bringen die meisten wohl mehr mit Berlin und Weimar in Verbindung als mit dem Schwabentum.

Hermann Bausinger ist genau der Richtige für eine Literaturgeschichte, die solche Fragen aufruft, ohne gleich nach einer Substanz des Schwabentums zu suchen. Denn wenn jemand ein Schwabe ist, dann Bausinger, der 1926 in Aalen zur Welt kam, in Tübingen studiert hat, dort promoviert wurde und sich habilitiert, um danach 32 Jahre lang ebenfalls in Tübingen als Professor für Volkskunde zu wirken. Er hat Bücher und Hunderte von Aufsätzen geschrieben über die Deutschen als Regionalisten, über die Schwaben und die Alemannen - die einen sagen für "gewesen" "gwä", die anderen "gsi" -, über Baden-Württemberg als Heimat und über Volkspoesie, Fasnacht zwischen Neckar und Bodensee, die Eigennamen des Zuchtviehs und das "Chinastüble" als Ausdruck alltäglicher Exotik.

Zugleich hat Bausinger sein Fach verändert wie kein Zweiter, weil er es schon in den sechziger Jahren aus den engen Grenzen und unbeleuchteten Zonen der Heimat- und Brauchtumskunde zu befreien begann. Was inzwischen an deutschen Universitäten unter Titeln wie "Europäische Ethnologie", "Kulturanthropologie" oder "Empirische Kulturwissenschaft" gelehrt wird, verdankt sich maßgeblich dem schulbildenden Interesse Bausingers am Gestaltwandel des Regionalen wie des Volkstümlichen in der Moderne. Wenn sich seit langem schon Tourismus und Mode, Popkultur und Massenmedien der Heimat angenommen haben, müssen sich auch ihr Begriff und die Weise ändern, in der sie erforscht wird - das war früh Bausingers Credo. Ihm folgt auch seine soeben vorgelegte "Schwäbische Literaturgeschichte" (Verlag Klöpfer & Meyer, 438 S., 28 [Euro].) In ihr ist das Schwäbische vieles: eine Landschaft mit Grundfarbe Blau, eine mitunter - so beim oberschwäbischen Barockdialektiker Sebastian Sailer mit seiner "Schwäbischen Schöpfung" - sehr rauhe Mundart, eine Gesinnung zwischen Romantik und Technikbegeisterung, eine Neigung zu Verrücktheiten im Winkel.

Alle bekannten Belege für diese Temperamente führt Bausinger auf, aber auch viele halb- und unbekannten, den schnell verglühten Wilhelm Waiblinger etwa, den fast vergessenen Erzähler Hermann Kurz, den seine Freunde seiner Kleidung wegen "das blaue Genie" nannten, oder Friedrich Theodor Vischer, den Literaturprofessor und Schriftsteller mit dem schönen Romantitel "Auch Einer", der sich von seinem Freund Mörike mehr Mobilität gewünscht hätte. Tatsächlich waren Schwaben immer große Auswanderer, im Kopf und in der Wirklichkeit - bei Bausinger dokumentieren beides die Amerikabilder von Berthold Auerbach und Max Eyth, dem literarischen Ingenieur.

Was Schwaben diesem Buch zufolge nicht sind: Dramatiker. Schiller blieb hier die einzige Ausnahme, auch wenn man bedauern mag, dass Szenen-Anweisungen wie diese aus Carl Borromäus Weitzmanns Dialektstück "Das Welt-Gericht oder der schwäbische Jupiter in seinem Grimme" von 1826 nie zur Ausführung kamen: "Im Vordergrund gibt ein Sautreiber von Krumbach in seiner Verzweiflung einem Bassa von drei Roßschweifen die General-Absolution. Auf der anderen Seite tanzt ein närrisch gewordener Kapuziner-Provinzial mit der Spitalwäscherin von Dinkelsbühl Menuett. Der Tod in seiner feiertäglichen Rippenweste schnalzt mit der Kurierpeitsche den Takt dazu."

Schwaben, man sieht es, sind vielmehr denkende Lyriker, auch wenn das die Gedichte Hölderlins und Mörikes besser belegen als die Balladen Ludwig "Blutwig" Uhlands ("Als er das Tier zu Fall gebracht, / da faßt er erst sein Schwert mit Macht, / er schwingt es auf des Reiters Kopf, / haut durch bis auf den Sattelknopf"). Dass die besten baden-württembergischen Abiturienten einen Scheffelpreis erhalten - Winfried Kretschmann 1968 -, muss als schmähliches Zugeständnis an Baden gewertet werden. Wenn es poetisch gerecht zuginge, müsste er mindestens Justinus-Kerner-Preis heißen.

Hermann Bausinger schließt sein freundlich und anregend kommentierendes Kompendium, das - wie einst die Weiber von Weinsberg - das Beste mitgebracht hat, das sich tragen ließ, mit der schwäbischen Redensart: "Es ist nirgends besser lügen als weit her." Und er verrückt ihren Sinn nur ein wenig, wenn er vorschlägt, anstatt lügen "phantasieren, erfinden, erzählen" zu sagen. Heimisch und fremd, heißt das für den Volkskundler, sind keine festen Gegensätze, die Unterscheidung dient vielmehr dem Erzeugen von Erfahrung. Heute wird Hermann Bausinger, der große Erforscher unserer merkwürdigen Heimaten, neunzig Jahre alt.

JÜRGEN KAUBE

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Durchlüftung der Heimat
Hermann Bausinger wird neunzig und legt eine schwäbische Literaturgeschichte vor

Literaturgeschichten nach Stämmen sind selten geworden. Was soll das auch sein, ein Stamm? So etwas wie ein Volk, nur regionaler und kleiner, ein Völkle? Nehmen wir die Schwaben. Sind sie dieselben wie die Württemberger? Oder grenzen sich die Württemberger nur von den Badenern ab, die Schwaben aber von allen anderen? "Der Schwabe zeichnet sich dadurch vor allen anderen Völkern aus, dass er Schwabe ist", heißt es ironisch bei Theodor Griesinger schon 1838. Ist Schwabe, wer versteht, was "noi itte" heißt, alle Bittsätze mit "Oh!" einleitet, die Kehrwoche hochhält und nichts auf den Gaisburger Marsch kommen lässt? Muss außerdem dort geboren und aufgewachsen sein, wer dazugezählt werden will? Es gibt Leute, die Vincent Klink die Stammeszugehörigkeit bestreiten.

Doch wo wäre ein solches "dort" überhaupt? Als Gustav Schwab, so berichtet die "Schwäbische Literaturgeschichte" von Hermann Bausinger, seine "Wanderungen durch Schwaben" publizierte, gingen diese bis nach Heidelberg und Freiburg, wo man sich heute wohl nicht mehr als schwäbisch ansprechen ließe. Bertolt Brecht wiederum und Friedrich Schiller - "Ein Wirtemberger ohne Wein, / Kann der ein Wirtemberger sein?" - bringen die meisten wohl mehr mit Berlin und Weimar in Verbindung als mit dem Schwabentum.

Hermann Bausinger ist genau der Richtige für eine Literaturgeschichte, die solche Fragen aufruft, ohne gleich nach einer Substanz des Schwabentums zu suchen. Denn wenn jemand ein Schwabe ist, dann Bausinger, der 1926 in Aalen zur Welt kam, in Tübingen studiert hat, dort promoviert wurde und sich habilitiert, um danach 32 Jahre lang ebenfalls in Tübingen als Professor für Volkskunde zu wirken. Er hat Bücher und Hunderte von Aufsätzen geschrieben über die Deutschen als Regionalisten, über die Schwaben und die Alemannen - die einen sagen für "gewesen" "gwä", die anderen "gsi" -, über Baden-Württemberg als Heimat und über Volkspoesie, Fasnacht zwischen Neckar und Bodensee, die Eigennamen des Zuchtviehs und das "Chinastüble" als Ausdruck alltäglicher Exotik.

Zugleich hat Bausinger sein Fach verändert wie kein Zweiter, weil er es schon in den sechziger Jahren aus den engen Grenzen und unbeleuchteten Zonen der Heimat- und Brauchtumskunde zu befreien begann. Was inzwischen an deutschen Universitäten unter Titeln wie "Europäische Ethnologie", "Kulturanthropologie" oder "Empirische Kulturwissenschaft" gelehrt wird, verdankt sich maßgeblich dem schulbildenden Interesse Bausingers am Gestaltwandel des Regionalen wie des Volkstümlichen in der Moderne. Wenn sich seit langem schon Tourismus und Mode, Popkultur und Massenmedien der Heimat angenommen haben, müssen sich auch ihr Begriff und die Weise ändern, in der sie erforscht wird - das war früh Bausingers Credo. Ihm folgt auch seine soeben vorgelegte "Schwäbische Literaturgeschichte" (Verlag Klöpfer & Meyer, 438 S., 28 [Euro].) In ihr ist das Schwäbische vieles: eine Landschaft mit Grundfarbe Blau, eine mitunter - so beim oberschwäbischen Barockdialektiker Sebastian Sailer mit seiner "Schwäbischen Schöpfung" - sehr rauhe Mundart, eine Gesinnung zwischen Romantik und Technikbegeisterung, eine Neigung zu Verrücktheiten im Winkel.

Alle bekannten Belege für diese Temperamente führt Bausinger auf, aber auch viele halb- und unbekannten, den schnell verglühten Wilhelm Waiblinger etwa, den fast vergessenen Erzähler Hermann Kurz, den seine Freunde seiner Kleidung wegen "das blaue Genie" nannten, oder Friedrich Theodor Vischer, den Literaturprofessor und Schriftsteller mit dem schönen Romantitel "Auch Einer", der sich von seinem Freund Mörike mehr Mobilität gewünscht hätte. Tatsächlich waren Schwaben immer große Auswanderer, im Kopf und in der Wirklichkeit - bei Bausinger dokumentieren beides die Amerikabilder von Berthold Auerbach und Max Eyth, dem literarischen Ingenieur.

Was Schwaben diesem Buch zufolge nicht sind: Dramatiker. Schiller blieb hier die einzige Ausnahme, auch wenn man bedauern mag, dass Szenen-Anweisungen wie diese aus Carl Borromäus Weitzmanns Dialektstück "Das Welt-Gericht oder der schwäbische Jupiter in seinem Grimme" von 1826 nie zur Ausführung kamen: "Im Vordergrund gibt ein Sautreiber von Krumbach in seiner Verzweiflung einem Bassa von drei Roßschweifen die General-Absolution. Auf der anderen Seite tanzt ein närrisch gewordener Kapuziner-Provinzial mit der Spitalwäscherin von Dinkelsbühl Menuett. Der Tod in seiner feiertäglichen Rippenweste schnalzt mit der Kurierpeitsche den Takt dazu."

Schwaben, man sieht es, sind vielmehr denkende Lyriker, auch wenn das die Gedichte Hölderlins und Mörikes besser belegen als die Balladen Ludwig "Blutwig" Uhlands ("Als er das Tier zu Fall gebracht, / da faßt er erst sein Schwert mit Macht, / er schwingt es auf des Reiters Kopf, / haut durch bis auf den Sattelknopf"). Dass die besten baden-württembergischen Abiturienten einen Scheffelpreis erhalten - Winfried Kretschmann 1968 -, muss als schmähliches Zugeständnis an Baden gewertet werden. Wenn es poetisch gerecht zuginge, müsste er mindestens Justinus-Kerner-Preis heißen.

Hermann Bausinger schließt sein freundlich und anregend kommentierendes Kompendium, das - wie einst die Weiber von Weinsberg - das Beste mitgebracht hat, das sich tragen ließ, mit der schwäbischen Redensart: "Es ist nirgends besser lügen als weit her." Und er verrückt ihren Sinn nur ein wenig, wenn er vorschlägt, anstatt lügen "phantasieren, erfinden, erzählen" zu sagen. Heimisch und fremd, heißt das für den Volkskundler, sind keine festen Gegensätze, die Unterscheidung dient vielmehr dem Erzeugen von Erfahrung. Heute wird Hermann Bausinger, der große Erforscher unserer merkwürdigen Heimaten, neunzig Jahre alt.

JÜRGEN KAUBE

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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