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Hannes Wirlinger schildert eine Freundschaft
Die Angst vor Einsamkeit und das Gefühl von Haltlosigkeit, die sich durch eine glückliche Liebe oder das Erwachsenwerden auflösen: Das sind die typischen Ingredienzien für eine Coming-of-Age-Geschichte. In seinem Romandebüt "Der Vogelschorsch" entwirft Hannes Wirlinger das Gegenteil davon, eine Jugend voller Trauer und Schmerz, und feiert dabei das Außenseitertum.
Hauptprotagonisten sind Lena und Georg, genannt "der Vogelschorsch". Beide befinden sich am Beginn ihrer Adoleszenz, aber unterschiedlicher könnten die beiden nicht sein. Lena ist vierzehn und ein beliebtes Mädchen in dem idyllischen Dorf bei Linz, in dem die Geschichte angesiedelt ist. Ihre Klassenkameraden, vor allem ihre besten Freunde "Lederer Lukas" und "Mühltaler Max", sind in sie verliebt, ihre Erzfeindin "Feichtinger Simone" hat sie im Griff. Georg hingegen ist ein schmächtiger Siebzehnjähriger mit einer "Frisur, als hätte ihm jemand einen Topf schräg auf den Kopf gesetzt", großen blauen Augen und einer "hellen, durchsichtigen Haut wie Pauspapier". Er interessiert sich für Ornithologie, spaziert tagträumerisch durch den Wald und kommuniziert mit Vögeln, als wären es seine Freunde.
Wie passen diese beiden Welten zusammen? Es sind die Erwachsenen, die im Dasein von Lena und Georg für Unruhe sorgen und die Ursache für ihre Schicksalsgemeinschaft sind. Einfühlsam zeichnet Wirlinger nach, wie schwer für beide die Trennung der jeweiligen Eltern abläuft, wie schmerzlich Verlust ist, aber auch, wie ihre enge Freundschaft über die Einschnitte des Lebens hinweghelfen kann.
Es erstaunt, wie die beiden ihre Probleme angehen, im Gegensatz zu Lenas Eltern, die sich "tagtäglich streiten", oder Georgs Vater, der die Sorgen des Alltags in Alkohol ertränkt und seinen Sohn schlägt. Obwohl Lena häufig die Rolle einer Beobachterin einnimmt, wird sie für Georg zur wichtigsten Bezugsperson. Sie ist es, die ihn vor den Streichen ihrer besten Freunde schützt, die ihm hilft, als all seine selbstgebauten Vogelhäuser zerstört werden.
Wirlinger begleitet die beiden beim Wandern durch den Wald, bei abendlichen Ausflügen und intimen Gesprächen. Er zeichnet die Charaktere tiefsinnig mit all ihren Widersprüchen und entwickelt einen Stil, der beschreibt, was es für Jugendliche bedeutet, scheinbar allein auf der Welt dazustehen. Obwohl sein Buch zunächst düstern erscheint, entwickelt es sich am Ende zu einer aufmunternden Ode an die Seelenverwandtschaft.
Es ist diese starke Ambivalenz zwischen Freude und Trübsinn, die den Roman zu einer besonderen Leseerfahrung macht. Der Autor wagt sich an komplexe Themen, scheut nicht die rationale Beschreibung, geht aber so behutsam vor, dass der schwierige Stoff auch für junge Leser verträglich ist. Ähnlich doppeldeutig wie das Buch ist auch einer der Lieblingsvögel von Georg, ein Rabe, den er Herr Schwarzfeder nennt. "Später einmal habe ich gelesen, dass der Rabe für Tod steht, aber auch für Hoffnung und Weisheit." Ob sich für Georg dieser Gegensatz von Tod und Leben zum Positiven auflösen wird, beantwortet die bewegende Geschichte.
KEVIN HANSCHKE
Hannes Wirlinger: "Der Vogelschorsch".
Mit Bildern von Ulrike Möltgen. Verlag Jacoby und Stuart, Berlin 2019. 304 S., geb., 18,- [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schweißrändern
Kindheit in einem
österreichischen Dorf
„Manche Menschen überfallen einen wie ein heftiger Sturm.“ Schon der Prolog im Roman des österreichischen Autors Hannes Wirlinger deutet auf ein ganz besonderes Leseerlebnis hin. Eins, das auf wundersame Weise die Bilder der Geschichte mit Bildern aus der eigenen Erinnerung verknüpft. „Andere Menschen“, so Wirlinger in seinem Jugendromandebüt „Der Vogelschorsch“ weiter, „wehen sanft wie eine Wolke in ein Leben.“ Und schließlich: „Die besonderen unter den Menschen suchen einen wie ein warmer Mairegen Tropfen für Tropfen heim. Sie graben sich wie kunstvolle Gravuren unauslöschlich in unser Gedächtnis.“ Was für ein Beginn! Welch sinnliche Sprache, die sich in den Gedankenkosmos der Leser schleicht. Wie auch die zahlreichen Schwarzweißillustrationen von Ulrike Möltgen, die sich, wie von einem magischen Schleier überzogen, Szenen der Geschichte nähern, als wollten sie sagen: „Ganz wirst du das Gesehene nie begreifen. Du wirst nur glauben, dass es geschehen sein könnte.“
Die Erzählerin Lena erinnert sich nach Jahrzehnten an ihre Zeit als Vierzehnjährige in einem oberösterreichischen Dorf. Dabei wechselt sie von Reflexionen als Erwachsene zum realen Erleben als Teenager. Es ist vor allem das Leben eines Jungen namens Georg, das sich in ihr Gedächtnis eingegraben hat. Sie nannte ihn damals „Vogelschorsch“, weil ihm die Vogelwelt auf besondere Weise zugeneigt schien. Lena erzählt voller Bilder und Gedankenverknüpfungen von ihren Begegnungen mit dem sonderbaren Jungen. Von der Ursache seiner Besonderheit erfährt man nichts. Nur, dass das Familienleben Geheimnisse birgt und er immer gleich gekleidet ist, eingepackt in einen dicken Lodenmantel. „Ein Engel mit Schweißrändern unter den Achseln und Hosenträgern.“ Vögel sind ihm näher als Menschen. Als seine Mutter starb, erkannte der Vogelschorsch sie in einer kleinen Kohlmeise wieder. Ein unschätzbarer Trost für ihn.
Im Lauf der sich langsam entwickelnden Erzählung stellt sich heraus, dass es in der Geschichte nicht nur um Lenas Empathie für den Jungen geht, dessen Verhalten den sozialen Konventionen des Dorflebens zuwiderläuft. Lenas Weg zwischen Anpassung und Grenzüberschreitung, zwischen Angst und Mut ist so etwas wie eine Spurensuche zu sich selbst. Hin- und hergerissen von den Streitigkeiten der Eltern, und durcheinandergewirbelt vom Chaos der ersten Liebeserfahrungen. Tragik und Komik dieser Erzählung liegen nahe beieinander. Dafür sorgen schon Lenas erregte Kommentare zu ihren Freunden, dem Mühltaler Max und dem Lederer Lukas, und zur gleichaltrigen Lieblingsfeindin, der Feichtinger Simone. Aber wenn sich Lena an die stillen Augenblicke auf der Gartenmauer erinnert oder wenn sie dem Vogelschorsch zu einem geheimnisvollen Ort folgt, dann öffnen sich in einem Reigen wunderbarer Bilder Gedanken, die weit über den oberösterreichischen Dorfrand hinausreichen.
SIGGI SEUSS
Hannes Wirlinger: Der Vogelschorsch. Illustrationen von Ulrike Möltgen. Jacoby & Stuart, Berlin 2019, 304 Seiten, 18 Euro.
Hannes Wirlinger:
Der Vogelschorsch.
Mit Illustrationen von Ulrike Möltgen.
Jacoby & Stuart,
Berlin 2019.
304 Seiten, 18 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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