Am Ende des 19. Jahrhunderts steckt die Kunst in der Krise. Der Historismus mit seinem eklektischen Rückbezug auf vergangene Stile und einem ausufernden Dekorationswahn wurde erkennbar zur Sackgasse, aus der sich die neue Künstlergeneration zu befreien suchte. In dieser Zeit entsteht in England die
Arts and Crafts Bewegung, die sich in verschiedenen Spielarten innerhalb weniger Jahre über die…mehrAm Ende des 19. Jahrhunderts steckt die Kunst in der Krise. Der Historismus mit seinem eklektischen Rückbezug auf vergangene Stile und einem ausufernden Dekorationswahn wurde erkennbar zur Sackgasse, aus der sich die neue Künstlergeneration zu befreien suchte. In dieser Zeit entsteht in England die Arts and Crafts Bewegung, die sich in verschiedenen Spielarten innerhalb weniger Jahre über die ganze westliche Welt ausbreiten wird. In Deutschland wird der neue Stil Jugendstil genannt, nach der ab 1895 erscheinenden Kunstzeitschrift „Die Jugend“, in Frankreich heißt er Art Nouveau (die eigentliche Initialzündung kommt jedoch aus Belgien), in Österreich Secessionsstil, in Katalonien Modernisme. Selbst in den USA findet der neue Stil Verbreitung und wirkt z. B. über die Schöpfungen von Louis Comfort Tiffany auch wieder zurück nach Europa. Neben den allgemein bekannten Zentren beleuchtet die Autorin aber auch die Entwicklungen in Nord- und Osteuropa, der Schweiz und im Baltikum, die oft ein unberechtigtes Schattendasein führen.
Dieser Internationalismus ist absolut charakteristisch für den Jugendstil, der von Anfang an einen starken Bezug zum angewandten Kunsthandwerk hat. Arts and Crafts ist geradezu der Inbegriff individuellen kunsthandwerklichen Schaffens auf höchstem Niveau und auch wenn die Kunst in der Folge bis zu einem gewissen Grad „industrialisiert“ wird und im Alltagsdekor ankommt, bleibt ihr doch stets ein Hang zu Individualität und Luxus.
Wer nun denkt, dass die Internationalität zu einer uniformen Gleichschaltung geführt hätte, der irrt gewaltig. Unter dem formalen Dach des Jugendstils finden sich zahlreiche Spielarten, die sich teilweise regional und national abgrenzen oder auch durch verschiedene Schulen und Künstlergruppen geprägt sind. Das herauszuarbeiten ist das erklärte Ziel der Autorin und es gelingt ihr wunderbar, indem sie dem Leser alle relevanten Aspekte in Text und Bild didaktisch geschickt nahebringt. Der rote Faden sind dabei die vielfältigen Wechselbeziehungen und Einflüsse, die sich über Grenzen und Schulen hinweg ergeben. Alles hat gemeinsame Wurzeln, die Blüten treiben aber erstaunlich vielfältig.
Noch vor 30 Jahren wurde der Jugendstil im Kunstbetrieb abschätzig in die Kategorie Kitsch gestellt, was völlig an der Realität vorbeigeht. Wie sehr, das kann man in dieser Monografie anschaulich nachvollziehen, die nicht nur eine Reise durch die Zeit, sondern gleichzeitig eine Reise um die Welt ist. Der Jugendstil wird erfahrbar als Bruch mit der Vergangenheit und als Aufbruch in die Zukunft, als ganzheitlicher Stil, der sich in alle Lebensbereiche erstreckt, und der neben der künstlerischen auch eine soziale Botschaft enthält.
Maria Christina Börners Sprache ist konzentriert, lebendig und gleichzeitig fokussiert, ohne unnötiges Fachvokabular zu verwenden. Die gesammelte Expertise wurde inhaltlich sehr gut aufgearbeitet und die Auswahl der vorgestellten Protagonisten wie auch der Exponate zeigt tiefe Sachkenntnis bis ins Detail. Die Bildlegenden sind sehr präzise und erlauben z. B. die gezeigten Häuser bis auf Adressebene zu identifizieren. Sämtliche Ikonen und Idole des Jugendstils sind vertreten, mit einem Fokus auf Architektur und Inneneinrichtung, die Abbildungen sind technisch brillant und ein Fest für die Sinne, so wie es die Schöpfer damals auch beabsichtigten. Das Großformat mit teilweise ausklappbaren Bildtafeln unterstützt den Ansatz, indem auch feine Details gut erkennbar werden, wobei die Bindung des Buchblocks gleichzeitig so stabil ist, dass sie keinerlei Tendenz hat, auseinanderzubrechen. Das ist bei schweren Foliobänden oft ein Problem, das der Verlag aber buchtechnisch sehr gut gelöst hat.