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Die sorgfältig editierte kritische Werkausgabe enthält Gedichte, Prosatexte, einen biographischen Essay, Dokumente und bisher unveröffentlichte Fotos.

Produktbeschreibung
Die sorgfältig editierte kritische Werkausgabe enthält Gedichte, Prosatexte, einen biographischen Essay, Dokumente und bisher unveröffentlichte Fotos.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.06.2010

Verrückte Welt

Ich, Alfred Lichtenstein, bin am 23. VIII. 1889 als Sohn des Fabrikanten Daniel Lichtenstein zu Berlin geboren. Meine Religionsangehörigkeit ist die jüdische. Ich bin Preuße." So beginnt der Lebenslauf, den Lichtenstein seiner juristischen Dissertation beifügte, mit der er 1913 an der Universität Erlangen zum Dr. iur. promoviert wurde. Im gleichen Jahr erschien unter dem Titel "Die Dämmerung" das erste und einzige Gedichtheftchen Lichtensteins in der Reihe der "Lyrischen Flugblätter" von Alfred Richard Meyer, in der kurz zuvor auch die ersten Gedichte von Gottfried Benn erschienen waren: "Morgue". Und wie Benn, so war auch Lichtenstein schon mit seinen ersten Veröffentlichungen in den expressionistischen Zeitschriften sofort der heißumstrittene Gesprächsgegenstand der Berliner Literaten. Ein Jahr später war er tot: Als "Einjähriger" eingezogen, fiel er am 25. September 1914 bei Vermandovillers an der Somme.

Das Gedicht "Die Dämmerung" reiht Beobachtungen und Mutmaßungen aneinander, die in sich merkwürdig unstimmig sind und auch nicht recht zueinander passen wollen. Manches scheint nur leicht verquer wie das Spiel des dicken Jungen "mit" statt "an" dem Teich oder das Schreien des Kinderwagens statt des schreienden Babys darin; anderes ist geradezu realistisch, wie das Kriechen der beiden Lahmen auf dem Feld oder der Wunsch des "Jünglings", ein "weiches Weib" zu besuchen; wieder anderes wirkt ins Groteske überzogen wie der bagatellisierte Verkehrsunfall der Dame oder das verärgerte Bellen der Hunde. Eine "verrückte" Welt wird hier vorgeführt, geschaffen von einem Dichter, von dem man annehmen könnte, er sei selbst schon "vielleicht verrückt". Jedenfalls wird hier höchst Verschiedenes ohne erkennbar planvolle Abfolge willkürlich nebeneinandergestellt. Die Reihenfolge der Beobachtungen ist weder an das Zeitgerüst des Vorher und Nachher noch an eine Begründungslogik von Ursache und Wirkung gebunden. Nur die sorgfältige Gleichartigkeit der Verse, der Strophen und der Reime täuscht noch eine Ordnung vor, die es in Wirklichkeit gar nicht mehr gibt.

Es herrscht "Dämmerung" vor, Dämmerung als Tageszeit: Da verlöschen die Farben. Der Himmel ist bleich, der Clown ist grau. Beiden ist offenbar "die Schminke ausgegangen". Dämmerung aber auch als Weltzustand, als Zeit der Undurchschaubarkeit und Gleichgültigkeit der Einzelphänomene. Die Konturen verschwimmen. Wie das Einzelne mit dem Ganzen zusammenhängt, welchen Rang und welche Position es darin einnimmt, lässt sich nicht mehr genau festlegen. Gewohnte Zuordnungen und Denkmuster werden aufgelöst. So gewinnt das Gedicht den Charakter einer Zeitdiagnose: Es bildet mit dem Mittel der grotesken Verrückung den Verlust eines geschlossenen Weltbilds, einer sicheren Orientierung ab.

So hat man das Gedicht oft verstanden. Schon Kurt Pinthus nahm es 1920 selbstverständlich in seine berühmte Sammlung expressionistischer Lyrik auf, deren Titel "Menschheitsdämmerung" auch an Lichtensteins Gedicht erinnert; und noch auf dem regenbogenfarbenen Umschlag der Anthologie "Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts" (1955) ließ ihr Verleger Max Niedermayer das Gedicht "Die Dämmerung" im vollen Wortlaut gleichsam programmatisch abdrucken. Gottfried Benn, der diese Anthologie mit Rat und Tat und einem glänzenden Vorwort unterstützt hatte, schrieb seinem Verleger daraufhin doppelsinnig: "man starrt nur fasziniert das schräge Gedicht an und weiß nicht, um was es sich handelt".

Ein "schräges Gedicht" ist es in der Tat, nicht nur aufgrund seiner schräg gestellten Position auf dem Umschlag dieser Anthologie. Es irritiert den Leser, fasziniert und belustigt ihn auch und lässt ihn neugierig, aber doch einigermaßen ratlos zurück. Da hilft auch die Selbstinterpretation des Gedichts nicht viel weiter, die Lichtenstein gegeben hat. "Das Gedicht will die Einwirkung der Dämmerung auf die Landschaft darstellen", behauptet der junge Dichter (als handelte es sich um ein Landschaftsgedicht), und es gehe darum, "ideeliche Bilder" der dargestellten Vorgänge zu präsentieren.

Mehr oder weniger vorwurfsvoll hat man dem Autor oft nachzuweisen versucht, sein Gedicht "Die Dämmerung" sei nur eine formale Variation des Katastrophen-Gedichts "Weltende" von Jakob van Hoddis. Tatsächlich ist das "Weltende"-Gedicht nur kurz vor der Niederschrift des Gedichts "Die Dämmerung" erschienen, und man darf mit Sicherheit annehmen, dass Lichtenstein es gekannt hat. Aber er hat in seinem Gedicht die Reihe der kleinen und großen Katastrophen, die auf das "Weltende" hindeuten, auf eine Grundbefindlichkeit der expressionistischen Generation kurz vor dem Ersten Weltkrieg zurückgeführt: auf die Erfahrung, in einer verrückt gewordenen Welt zu leben.

Alfred Lichtenstein: "Dichtungen". Herausgegeben von Klaus Kanzog und Hartmut Vollmer. Arche Verlag, Zürich 1989. 397 S., geb., 39,- [Euro].

Redaktion Marcel Reich-Ranicki

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