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Peter Michalzik zeichnet in >1900 halluzinierende Friedrich Nietzsche, ob der einsiedlerische Hermann Hesse oder der schlaflose Max Weber - sie alle dachten das Leben neu und kreierten eine Gegenkultur, die bis heute wirksam ist. Reformpädagogik und Körperkult, Psychologie und freie Liebe, Pazifismus, Wellness und Vegetarismus - all dies…mehr

Produktbeschreibung
Peter Michalzik zeichnet in >1900< ein bilderreiches, vielstimmiges Panorama vom Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Eindrücklich und höchst anschaulich bringt er uns das aufregende Denken und Leben bekannter Persönlichkeiten nahe.Ob die faszinierenden Richthofen-Schwestern oder der halluzinierende Friedrich Nietzsche, ob der einsiedlerische Hermann Hesse oder der schlaflose Max Weber - sie alle dachten das Leben neu und kreierten eine Gegenkultur, die bis heute wirksam ist. Reformpädagogik und Körperkult, Psychologie und freie Liebe, Pazifismus, Wellness und Vegetarismus - all dies entdeckten zivilisationskritische Künstler, Intellektuelle und Visionäre vor über hundert Jahren.So ist es die inspirierende Geschichte vom Glanz, Niedergang und Fortleben einer großen Glückssuche auf einem Berg im Süden, die der Autor uns hier erzählt.
Autorenporträt
Peter Michalzik, Jahrgang 1963, studierte Germanistik, Philosophie und The-aterwissenschaften in München und war Theaterkritiker und Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Er veröffentlichte Biografien über Gustaf Gründgens, Siegfried Unseld und Heinrich von Kleist. Bei DuMont erschien zuletzt ¿Die sind ja nackt¿ (2009), ein Buch über zeitgenössisches Theater. Peter Michalzik arbeitet am Mozarteum Salzburg und ist Gastprofessor an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main, wo er mit seiner Familie lebt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2018

Die Revolutionäre vom Skandalberg
Wiederbelebungsversuch und totales Epochenpanorama: Peter Michalzik zappt sich in "1900" durch die Geschichte der Lebensreformbewegung

Erzählen, keinesfalls dozieren, will Peter Michalzik in seinem Buch über die Lebensreformbewegung auf dem Monte Verità, die am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts Europa mit einem Programm zur Neugestaltung des Alltags versorgte. Anders als die politischen Parteien jener Zeit, die soziale Missstände beheben wollten, dachten sich die Intellektuellen und Bohemiens neue Regeln für ein richtigeres Leben aus. Sie experimentierten mit freier Liebe, mit Sonnenbaden, Sport, Homosexualität, vegetarischer und veganer Ernährung und hofften - so auch der Untertitel von Michalziks Buch - ein "neues Paradies" zu erschaffen.

Die Lebensreformbewegung ist in allen Winkeln ihrer Programme, in allen Geheimnissen der Biographie ihrer Vertreter von den Kulturwissenschaften erforscht worden, sodass der Gedanke naheliegt, dies immense Material über eine Revolution, die bis heute folgenreich blieb, einer größeren Leserschaft zugänglich zu machen. Die Bewegung begann mit provokativen Experimenten, mit denen jugendliche Rebellen aus der Gesellschaft ausbrechen und sie verändern wollten, heute werden die Programme der Avantgarde zu weiten Teilen von den meisten Bürgern akzeptiert und gelebt: Was aufständisch begann, ist Norm geworden.

Michalziks löbliche Absicht, die Ideen der Reformer nicht etwa zu referieren, sondern als deren gelebtes Leben nachzuerzählen, scheitert allerdings an seinem Ehrgeiz, das totale Panorama dieser Epoche und aller in ihr auftretenden Personen vorzustellen. Die Chronik reicht von den Vorläufern, die, wie Nietzsche, die Bewegung inspirierten - "Essensregeln nennt er seine Moral", so fasst Michalzik den Einfluss des Philosophen auf das Diätprogramm der Reformer zusammen -, bis zu deren Ende in den zwanziger Jahren, als sich die Gründer jener der Gesundheit gewidmeten Anlage auf dem "Berg" uneinig wurden, sich entzweiten und über ganz Europa zerstreuten.

Die Geschichte des Monte Verità löst der Autor auf in lauter kleine Szenen. Typographisch wird der Notiz- und Zettelcharakter sichtbar an deutlich markierten Abständen zwischen den einzelnen Episoden, die meist kaum mehr als eine halbe Seite oder anderthalb einnehmen. Die Miniaturen enthalten Charakterzeichnung und Skizzen aus dem Leben der Teilnehmer, der Bewunderer und Kritiker der Bewegung - und zwar aller, die irgend mit dem Monte Verità als Vorläufer oder Mitläufer zu tun hatten. In jedem der Abschnitte betritt eine neue Figur die Bühne: nach Henri Oedenkoven etwa, dem Begründer der Kolonie, folgt ein Abschnitt über Rilkes Begegnung mit Tolstoi, danach ein nächster über Elisabeth Nietzsches Sorge um den Bruder - so geht es fort und fort, in jeder Notiz ein anderer Akteur. Man könnte das Buch ein Adressbuch der Intellektuellen vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts nennen, die Reihe der Namen ist endlos.

Jedoch, dies ist das Unglück des Wiederbelebungsversuchs einer so wichtigen Bewegung: die Vollständigkeit, die Michalzik bei der Darstellung des großen Materials anstrebt, erschwert es, die einzelne Figur und ihre Absicht exakt zu konturieren. Für einen, der die Materie kennt, sind die Sprünge von Figur zu Figur, von Situation zu Situation, von Skandal zu Skandal ein Staccato, bei dem der Zusammenhang des Ganzen gleichwohl erkennbar bleibt. Für einen aber, der die Situation auf dem "Berg" und gar den Sinn der Neuerungen erst kennenlernen sollte - und für wen sonst würde der Frankfurter Journalist das Wohlbekannte erzählen -, droht bei jedem Sprung aufs nächste Plateau der Absturz. Ein Faden der Erzählung entspinnt sich nicht, jede Szene ruht in sich.

Zudem wird, wer zum "Berg" gehört, vertraulich mit Vornamen angesprochen. Man muss sich deshalb auf sein Gedächtnis verlassen können, um zu behalten, wer denn die in der nächsten Miniatur auftauchende Figur, wer etwa dieser Henri, diese Jenny, Ida, Karl, Gustav, Lotte sei? So wenig wie man sich die Mitglieder einer Familie vorstellen kann, wenn der Freund einen veranlasst, ein Fotoalbum durchzublättern, so wenig werden bei diesem Hasten von Fotoklick zu Fotoklick dem Betrachter die Protagonisten der Reformbewegung vertraut und verständlich.

Man möchte dies Verfahren der biographischen Spots eine Art von Zappen im historischen Stoff nennen. Die Methode mag unterhaltsam sein, zumal da im Falle von Michalziks Thema die Historie gespickt ist mit bizarren Figuren, ja Narren, mit Skandalen und interessanten Experimenten. Lehrreich jedoch ist dies Vorgehen nicht. Der Autor beteuert in einem Nachwort, dass alles, was er mitteilt, wirklich geschehen sei, und er übertreibt mit dieser Versicherung nicht. Alle Figuren des Buches gab es, alle Szenen sind bekannt. Doch es ist der Mangel dieser wie so mancher Verlebendigung von Geschichte, dass Michalzik seinen Standpunkt im Innern der Figur wählt, dass er vorgibt, ihr Fühlen, Wägen, Denken erschließen zu können. Deshalb ist das Buch auch, als wäre es ein Roman, im Präsens geschrieben und nicht, wie eine historische Studie, im Präteritum.

Diese Taktik der Einfühlung jedoch hebt die historische Distanz auf. Die exzentrischen, damals noch so provokativen Ideen verlieren durch Empathie ihre Fremdheit. Die einstigen Revolutionäre scheinen Probleme gehabt zu haben, wie sie jedermann heute auch hat. Stattdessen müsste klar werden, dass die Einfühlung des Lesers in diese Exzentriker überhaupt erst möglich ist, weil er von ihnen und ihren Reformern gelernt hat, was ihm einst undenkbar gewesen war. Solch eine historische Aufklärung jedoch geht hier in der Gemütlichkeit der Anteilnahme unter.

HANNELORE SCHLAFFER

Peter Michalzik: "1900". Vegetarier, Künstler und Visionäre suchen nach dem neuen Paradies.

DuMont Buchverlag, Köln 2018. 411 S., geb., 24,90 [Euro].

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