Die vorherrschende Farbe in Orhan Pamuks neuem Fotobuch ist Orange. Wenn der Literaturnobelpreisträger die tägliche Schreibarbeit beendet hat, nimmt er seine Kamera und durchstreift die verschiedenen Viertel seiner Heimatstadt Istanbul. Häufig erkundet er die abgelegenen Gassen, in die sich keine Touristen verirren, Orte, die vernachlässigt und vergessen scheinen, in ein ganz bestimmtes Licht getaucht. Es ist das orange Licht von Straßenlampen und aus Häusern, das Orhan Pamuk so gut aus seiner Kindheit in Istanbul kennt. Doch das vertraute, warme Licht verschwindet. Moderne, billige Leuchtmittel haben Einzug gehalten und nachts leuchtet es zu- nehmend eisig-weiß aus den Fenstern. Die Lichter der Nacht haben sich so schleichend und beinahe unmerklich verändert wie die sozialen Strukturen der ganzen Stadt. Über Jahrzehnte hat Orhan Pamuk die nächtliche Stadtlandschaft fotografiert und so in seinen Bildern ein Istanbul bewahrt, das allmählich verschwindet.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.09.2020Vom Licht, das verschwindet, und dem Alter, das kommt
Es gibt Veränderungen, schreibt Orhan Pamuk, die schleichen sich ein wie das Alter. Irgendwann sind sie nicht mehr zu leugnen, obwohl man nicht mehr weiß, wann das angefangen hat. Dass sich zum Beispiel die besondere Stimmung von Istanbul bei Nacht auflöst in einem weißen Licht. Es überstrahlt die gelben Straßenlaternen, die zum Gefühl dieser Stadt eigentlich immer schon gehört haben. Weil heute billigere Birnen ein Licht machen, das es früher nur in Krankenhäusern und Kühlschränken gab, so Pamuk: „Ich hatte keine andere Wahl, als die bittere Wahrheit zu akzeptieren, dass die Art, wie Istanbul nachts aussieht, sich vollkommen verändern würde. Es ärgerte mich, dass dieses Thema niemand ernst zu nehmen schien.“
Also zog er los mit seiner Canon, um die orangen Nächte aufzubewahren. Erst in den ihm vertrauten Straßen von Cihangir, Nişantaşı und Şişli, dann weiter weg. Und wie sein Schatten folgte ihm sein Bodyguard, der ihm vom türkischen Innenministerium gestellt wurde, als nach der Ermordung seines Freundes, des Journalisten Hrant Dink 2007, auch er bedroht wurde: „Einen Bodyguard zu haben, hatte meine Beziehung zu Istanbul völlig verändert.“ Mit dem Beschützer traut er sich auch in die verrufensten Ecken.
Auf den Bildern, die jetzt gesammelt im Steidl Verlag erscheinen, beobachtet er auch die Veränderung der politischen Stimmung in der Türkei. Nationalistische und religiöse Symbole tauchen im Straßenbild auf: „Die Flaggen, die aus keinem erkennbaren Grund an jeder Straßenecke hängen, waren Zeichen einer Nation, die sich in sich selbst zurück zieht.“ Selbst in Vierteln, in denen gegen die Regierungspartei gewählt wird, wie Beşiktaș und Kartal, tauchen sie auf, „wie ein Flüstern: ,Wir sind auch hier‘“. Seine Gänge durch das weiche Nachtlicht Istanbuls kann man in diesem Buch mitgehen. Und sieht schon die Löcher weißen Lichts darin, wie eine härtere Zukunft.
MARIE SCHMIDT
Orhan Pamuk: Orange. Aus dem Türkischen ins Englische von Ekin Oklap. Steidl, Göttingen 2020. 189 Seite, 38 Euro.
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Es gibt Veränderungen, schreibt Orhan Pamuk, die schleichen sich ein wie das Alter. Irgendwann sind sie nicht mehr zu leugnen, obwohl man nicht mehr weiß, wann das angefangen hat. Dass sich zum Beispiel die besondere Stimmung von Istanbul bei Nacht auflöst in einem weißen Licht. Es überstrahlt die gelben Straßenlaternen, die zum Gefühl dieser Stadt eigentlich immer schon gehört haben. Weil heute billigere Birnen ein Licht machen, das es früher nur in Krankenhäusern und Kühlschränken gab, so Pamuk: „Ich hatte keine andere Wahl, als die bittere Wahrheit zu akzeptieren, dass die Art, wie Istanbul nachts aussieht, sich vollkommen verändern würde. Es ärgerte mich, dass dieses Thema niemand ernst zu nehmen schien.“
Also zog er los mit seiner Canon, um die orangen Nächte aufzubewahren. Erst in den ihm vertrauten Straßen von Cihangir, Nişantaşı und Şişli, dann weiter weg. Und wie sein Schatten folgte ihm sein Bodyguard, der ihm vom türkischen Innenministerium gestellt wurde, als nach der Ermordung seines Freundes, des Journalisten Hrant Dink 2007, auch er bedroht wurde: „Einen Bodyguard zu haben, hatte meine Beziehung zu Istanbul völlig verändert.“ Mit dem Beschützer traut er sich auch in die verrufensten Ecken.
Auf den Bildern, die jetzt gesammelt im Steidl Verlag erscheinen, beobachtet er auch die Veränderung der politischen Stimmung in der Türkei. Nationalistische und religiöse Symbole tauchen im Straßenbild auf: „Die Flaggen, die aus keinem erkennbaren Grund an jeder Straßenecke hängen, waren Zeichen einer Nation, die sich in sich selbst zurück zieht.“ Selbst in Vierteln, in denen gegen die Regierungspartei gewählt wird, wie Beşiktaș und Kartal, tauchen sie auf, „wie ein Flüstern: ,Wir sind auch hier‘“. Seine Gänge durch das weiche Nachtlicht Istanbuls kann man in diesem Buch mitgehen. Und sieht schon die Löcher weißen Lichts darin, wie eine härtere Zukunft.
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Orhan Pamuk: Orange. Aus dem Türkischen ins Englische von Ekin Oklap. Steidl, Göttingen 2020. 189 Seite, 38 Euro.
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