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Das Gedächtnis soll ein Speicher sein? Weit gefehlt! Hannah Monyer und Martin Gessmann erörtern den aktuellen Stand der Hirnforschung und wenden deren Debatten ins Gegenteil.
Von Joachim Müller-Jung
Rückwärts verstehen und vorwärts leben, so formulierte sinngemäß der Philosoph Søren Kierkegaard, als er sich mit der Form menschlicher Existenz befasste. Ein Satz, der schon viele Interpreten - keineswegs nur Philosophen - beschäftigte und der jetzt, da die Naturwissenschaften mit ihren Werkzeugen bis in die Subsubmillimeterbereiche vordringen, auf dem Terrain der Erforschung unseres Gehirns und des Gedächtnissen angekommen ist. Das Gehirn speichert Erinnerungen, jeder meint das zu wissen. Aber wichtiger ist, dass es auf viel plastischere Weise für unsere Zukunft, die Lebensplanung, zuständig ist.
Wie wichtig diese Einsicht ist, beschreiben zwei Heidelberger Wissenschaftler, die Neurologin Hannah Monyer und der Philosoph Martin Gessmann, in ihrem Buch. Die beiden sind ein gutes Autorenpaar. Unverkennbar ist ihr gemeinsamer Wille, die Kämpfe zwischen Philosophie und experimenteller Hirnforschung um die Deutungshoheit einzuklammern und die unterschiedlichen Erkenntniszugänge vielmehr didaktisch so einzusetzen, dass die Leser über den aktuellen Wissens- und Forschungsstand informiert werden und gleichzeitig das Neue historisch eingeordnet wird. Und altes, auch veraltetes Wissen wird bei der Lektüre dieses Buches jeder in seinem Erinnerungsschatz finden.
Jahrhundertelang hat man das Eigenleben, das Gedächtnisinhalte in unsrem Kopf führen, massiv unterschätzt. Wie man auch von der erstaunlichen Plastizität des Gehirns bis ins hohe Alter hinein bis vor einigen Jahren noch keinen Schimmer hatte. Plötzlich aber ist das Netzwerk von Neuronen, das unser Gedächtnis hervorbringt, nicht mehr der Aktenschrank, der irgendwann verlottert und klemmt, oder der Massenspeicher im Kopf, ist auch nicht mehr nur "Dienstleister" für unsere Erinnerungen. Vielmehr entdecken wir das Gedächtnis als "großen Transformator" oder "Platzanweiser", der das Vergangene, Erlebte und Geträumte neu sortiert und während wir schlafen an unserer Zukunft schmiedet.
Wir erfahren, angefangen von der Funktion der einzelnen Nervenzelle angefangen bis zur Erläuterung der neuesten Manipulationsmethoden der Hirnforschung, viel über das Zustandekommen nützlicher und falscher Erinnerungen. Wir lesen ausführlich über die kreative bis heilsame Wirkung unserer Träume. Doch eigentlich kennzeichnend für dieses Buch ist sein geradezu lebensberaterischer Grundton: "Als positive Kraft, die uns im Leben weiterhilft", sollte man das Gedächtnis sehen, als "Lebensbegleiter", der aus den Bestandteilen des Vergangenen brauchbare Vorhersagen hervorbringt" - wohlgemerkt: lebenslang. So recht will das nicht zu dem passen, was heute gesellschaftlich kultiviert und massenmedial ausgeschlachtet wird: ausufernde Debatten über Alzheimer und die drohende Vergreisung, oder auch der Streit über die neuronalen Kollateralschäden der digitalen Revolution, Stichwort digitale Demenz. All das greifen Monyer und Gessmann auf und wenden es ins Gegenteil.
Statt alte Diskussionen aber wieder und wieder zu wenden, servieren sie eine Frischzellenkur für verkrustete Geister. Mit der Zeit gehen, neue Menschen kennenlernen, dem Gedächtnis auch nach dem sechzigsten Lebensjahr noch neuen Schwung geben, das alles ist nach ihrer Überzeugung völlig kompatibel mit den unausweichlichen biologischen Alterungsprozessen, vor denen sich viele von uns fürchten. "In wen der Zeitgeist glücklicherweise hineinfährt", schreiben sie, "der muss sich um sein biologisches Alter nicht scheren." Ein anderer Satz aus ihrem Motivationsrepertoire: "Es geht nicht darum, im Alter den Ruhm zu verwalten, sondern noch einmal etwas Rühmliches zu beginnen."
Was aber steckt hinter der verborgenen Vitalität, die es nun in unseren Köpfen zu wecken gilt? Nichts Magisches und nichts Esoterisches, das steht fest. Aber eine Blackbox bleibt es dennoch. Letzten Endes liegt das Geheimnis für die beiden Autoren wohl in der Netzwerkstruktur des Gehirns als Ganzes - dieses hochgradig interaktive und eben weithin noch immer unverstandene System mit seinen hundert Milliarden Nervenzellen und mehr als 100 Billionen "Drähten". Weniger groß angelegte Hirnsimulationen am Rechner wie das milliardenschwere "Human Brain Project" werden nach ihrer Überzeugung kurzfristig etwas daran ändern als vielmehr beharrliche experimentelle Fortschritte. Dem Gedächtnis ist damit jedenfalls zu einer ungeahnten Karriere verholfen.
Hannah Monyer und Martin Gessmann: "Das geniale Gedächtnis". Wie das Gehirn aus der Vergangenheit unsere Zukunft macht.
Knaus Verlag, München 2015. 256 S., geb., 19,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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