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Die Skandalforschung hat in innovativen Forschungsbereichen wie der Medienwissenschaft und der Kulturwissenschaft in letzter Zeit Konjunktur. Nicht den vermeintlich »skandalösen« Ereignissen wird dabei die Hauptaufmerksamkeit geschenkt, sondern der Frage nach der Erzeugung des Skandals und nach der Gesellschaft, die diese Skandale ermöglicht. Sozial- und mediengeschichtliche Forschungsansätze bieten einen ganz neuen Blick auf die Vergangenheit und damit auch auf archivische Quellen. Was sagen Archivalien zu Geheimnissen, Moralvorstellungen, Normverletzungen und Skandalen? Welche Wirklichkeit…mehr

Produktbeschreibung
Die Skandalforschung hat in innovativen Forschungsbereichen wie der Medienwissenschaft und der Kulturwissenschaft in letzter Zeit Konjunktur. Nicht den vermeintlich »skandalösen« Ereignissen wird dabei die Hauptaufmerksamkeit geschenkt, sondern der Frage nach der Erzeugung des Skandals und nach der Gesellschaft, die diese Skandale ermöglicht. Sozial- und mediengeschichtliche Forschungsansätze bieten einen ganz neuen Blick auf die Vergangenheit und damit auch auf archivische Quellen. Was sagen Archivalien zu Geheimnissen, Moralvorstellungen, Normverletzungen und Skandalen? Welche Wirklichkeit bildet Archivgut ab? Solche grundsätzlichen Fragen an archivalische Quellen ergeben sich ganz konsequent aus diesen Forschungsansätzen. Die interdisziplinäre Tagung wird damit auch die Grenzen der Abbildung gesellschaftlich-kultureller Realitäten ausloten und zugleich neue Perspektiven zur Annäherung an die Geschichte bieten. Der Blick auf Skandale, ihre Erzeugung und ihre Kommunikationskanäle eröffnet neue Perspektiven auf die Geschichte und die Quellen, mit der sie immer wieder aufs Neue (re-)konstruiert werden kann.
Autorenporträt
Jehn, AlexanderDr. Alexander Jehn ist Direktor der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung in Wiesbaden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.05.2022

Skandale machen Geschichte

RHEIN-MAIN Von der Doppelehe Landgraf Philipps des Großmütigen über den Mord an Rosemarie Nitribitt bis zur Schwarzgeld- Affäre der CDU: Ein neues Buch

beleuchtet die an Skandalen

reiche Historie des Landes Hessen.

Gemeines Weib, feile Dirne, Berliner Vettel, satanische Gräfin, Natter, Lindwurm Hydra." So titulierten aufgebrachte Kasseler Bürger in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts eine Frau, die seit 1813 diskret und unauffällig in der Stadt gelebt hatte, ehe sie 1821 ins Rampenlicht der Öffentlichkeit getreten war. Emilie Ortlöpp (1791 bis 1843), die Tochter eines Berliner Goldschmieds, wurde zum Ziel von Schmähgedichten, Drohbriefen und Bürgerprotesten, weil sie die Geliebte des verheirateten Kurprinzen und späteren Kurfürsten Wilhelm II. von Hessen (1777 bis 1847) war. Nicht die kurfürstliche Liaison war jedoch Ursache der allgemeinen Erregung - Wilhelms Vater, Kurfürst Wilhelm I. schließlich hatte mit insgesamt drei Mätressen sogar 24 Kinder in die Welt gesetzt, ohne dass daran jemand Anstoß genommen hatte. "Skandalös erschien nicht die Beziehung an sich, sondern die Art und Weise, wie sie zelebriert wurde", bilanziert Karl Murk in einem Beitrag für das Buch "Hessische Skandale".

Das große Pech Emilies war es, dass ihre Rivalin, Kurfürstin Auguste, in Kassel außerordentlich beliebt war. Die schöne Berliner Geliebte wiederum dachte gar nicht daran, sich im Hintergrund zu halten. Dass es am Kasseler Hof nach dem Regierungsantritt Wilhelms II. Anfang 1821 luxuriöser zuging als unter dem knauserigen alten Kurfürsten, war auch Emilie zu verdanken, die, zur Gräfin Reichenbach avanciert, mit ihren mittlerweile fünf Kindern ins kurfürstliche Palais einzog. Sie genoss es, Feste und Aufführungen zu organisieren und sich als Mäzenatin und Wohltäterin zu inszenieren.

Nach dem Regierungswechsel 1821 sei der Skandal zur Staatsaffäre geworden, die sich zu einer politischen Legitimationskrise der Fürstenherrschaft ausgeweitet habe, schreibt Murk. Je stärker sich Emilie exponierte, desto heftiger wurde sie angefeindet und zum Sündenbock gemacht. Der reaktionäre Herrschaftsstil des Kurfürsten, seine Polizeistaatsmethoden gegen politisch Andersdenkende und eine ökonomische Krise taten ihr Übriges und mündeten schließlich 1830 in eine revolutionäre Situation. Mittendrin die "Berliner Dirne", als eine Art nordhessische Marie Antoinette. "Wer im Sommer und Herbst 1830 gegen die Gräfin Reichenbach demonstrierte, protestierte zugleich auch gegen die unkontrollierte monarchistische Machtausübung sowie die Not und das Elend der Untertanen."

Ein Jahr später warf Wilhelm II. entnervt das Handtuch. Seine Frau, Kurfürstin Auguste, hatte sich schon 1826 mit ihren Töchtern ins Exil nach Bonn und Koblenz begeben, aber ohne Emilie wollte er nicht leben. Ende September 1831 übertrug er seinem Sohn Friedrich Wilhelm die Mitregentschaft, zog sich aus der Tagespolitik zurück und lebte als "Frühpensionär" mit seiner Geliebten bis zu deren Tod im Jahr 1843 überwiegend in Hanau, Frankfurt und Baden-Baden. Zwei Jahre zuvor, nach dem Tod seiner Gemahlin, hatte er die Frau, die er so abgöttisch liebte, noch zum Traualtar geführt. Kassel sollte er nie wieder betreten. Kurhessen wiederum stellte sich im Deutschen Krieg 1866 auf die falsche, die österreichische Seite. Es wurde von Preußen besetzt, annektiert und ging in dem neuen Großstaat auf.

Das empörende Gebaren des Kasseler Kurfürsten war indes nur einer von zahllosen Skandalen in der hessischen Geschichte - und bei Weitem nicht der größte. Von der Doppelehe Landgraf Philipps im 16. Jahrhundert über den nie aufgeklärten Mord an der Prostituierten Rosemarie Nitribitt bis zum aktuellen Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche am Beispiel der Bistümer in Hessen reicht das im Buch behandelte Spektrum. "Skandale sind die Pickel der Politik", heißt es im Vorwort. Gerne würde man sie ausdrücken oder überschminken, während in der Kultur die Devise gilt: Aufsehen erregen um jeden Preis. Unter der Überschrift "Singt der Tenor in Unterwäsche besser?" befassen sich die Autoren mit einer Reihe hessischer Theaterskandale, die rückblickend nicht mehr waren als Stürme im Wasserglas.

Pitt von Bebenburg, Redakteur der "Frankfurter Rundschau", wirft Schlaglichter auf die Politik in Hessen nach 1945 und kommt dabei zu dem Schluss: "Es ist unmöglich, alle Politskandale der vergangenen Jahrzehnte aufzuführen. Dazu waren sie zu zahlreich." Ministerpräsident Albert Osswald (SPD) stürzte 1976 über eine Affäre um die leichtfertige Vergabe von Krediten durch die Hessische Landesbank (Helaba). Einer seiner Nachfolger an der Spitze der Landesregierung, Roland Koch (CDU), saß 25 Jahre später die Schwarzgeld-Affäre der CDU aus. Zurücktreten musste nur der Generalsekretär der Hessen-CDU, Franz Josef Jung. Aber auch der schaffte schon fünf Jahre später den kurzzeitigen Wiederaufstieg: als Bundesverteidigungsminister unter Kanzlerin Angela Merkel. ler.

Hessische Skandale - Medien, Gesellschaften und Normkonflikte, Alexander Jehn, Andreas Hedwig und Rouven Pons (Hg.), Waldemar Kramer Verlag, Wiesbaden 2022, 224 Seiten, 24 Euro.

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