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Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens
Ein zentraler Glaubenssatz unserer Zeit lautet: Um eine Vergangenheit zu "bewältigen", muß man die Erinnerung an sie ständig wachhalten. Christian Meier, einer der bedeutendsten deutschen Historiker, stellt diese Geschichtsversessenheit in seinem brillanten Essay in Frage. Er weist nach, daß in früheren Zeiten nicht Erinnern, sondern Vergessen das Heilmittel war, mit einer schlimmen Vergangenheit fertigzuwerden.
Christian Meier ist die Weltgeschichte durchgegangen, um herauszufinden, was die Menschen früher taten, wenn sie nach Kriegen oder
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Produktbeschreibung
Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens

Ein zentraler Glaubenssatz unserer Zeit lautet: Um eine Vergangenheit zu "bewältigen", muß man die Erinnerung an sie ständig wachhalten. Christian Meier, einer der bedeutendsten deutschen Historiker, stellt diese Geschichtsversessenheit in seinem brillanten Essay in Frage. Er weist nach, daß in früheren Zeiten nicht Erinnern, sondern Vergessen das Heilmittel war, mit einer schlimmen Vergangenheit fertigzuwerden.

Christian Meier ist die Weltgeschichte durchgegangen, um herauszufinden, was die Menschen früher taten, wenn sie nach Kriegen oder Bürgerkriegen Versöhnung suchten. Sein Befund ist ebenso erstaunlich wie einfach: Die Welt setzte seit den alten Griechen auf Vergessen.
Die deutschen Verbrechen der NS-Zeit aber konnten nicht vergessen werden. Die öffentliche Erinnerung an sie war und ist unabweisbar. Und bei allem Ungenügen: Die Auseinandersetzung damit hat sich gelohnt. Gilt also seitdem eine neue Regel? Wie ist etwa mit der Erinnerung an das Unrecht später gestürzter Diktaturen, zumal des SEDRegimes, umzugehen? Wäre vielleicht auch heute Vergessen eher angebracht als Erinnerung?

Autorenporträt
Meier, Christian
Christian Meier ist einer der herausragenden Historiker und Intellektuellen Deutschlands. Er hat zahlreiche Werke zur Antike veröffentlicht, darunter die Bestseller "Caesar" (1982), und "Athen" (1993). Mit Büchern wie "Das Verschwinden der Gegenwart" (2001) und "Von Athen bis Auschwitz" (2002) hat er immer wieder auch aktuelle politische Debatten angestoßen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.08.2010

Glücklich, wer nicht vergessen muss
Vier vorbildliche Bücher demonstrieren, wie sich eine Routine gewordene Gedenkkultur weiterentwickeln kann / Von Claus Leggewie
Als Streberin musste sich die 17-Jährige von einer Mitschülerin anmachen lassen, weil sie ihrem Lehrer vorschlug, einen KZ-Überlebenden, den sie in Auschwitz bei einem Besuchergespräch in der Jugendbegegnungsstätte kennen gelernt hatte, in den Geschichtsunterricht einzuladen. Und ein Mitschüler legte nach, das Erbschuldgerede der 68er-Lehrer komme ihm schon zu den Ohren heraus.
Das ist keine ungewöhnliche Reaktion, wenn die dritte Nachkriegsgeneration auf die NS-Verbrechen zu sprechen kommt. Die Gymnasiastin Katarina Bader (Jahrgang 1979) hat sich nicht abschrecken lassen, und der Auschwitz-Häftling Jerzy Hronowski, genannt Jurek, aus Polen vermochte die Klasse zu packen. Gespräche mit Überlebenden und Zeitzeugen waren die besten Mittel, die Erinnerung an ein sich immer weiter entfernendes Menschheitsverbrechen wachzuhalten und damit bei Nachlebenden nicht Schuldgefühle, wohl aber Verantwortungsbewusstsein hervorzurufen, nach dem Ableben der Zeitzeugen.
Bader ist mittlerweile eine erfolgreiche Journalistin und Politologin an der Münchner Universität, aus der Schulepisode wurde eines der besten und originellsten Bücher zum Thema „Aufarbeitung der Vergangenheit“. „Jureks Erben“ ist die durchkomponierte Biographie des Jurek Hronowski, die er selbst nie vollenden konnte und an deren Abfassung eine Reihe älterer und jüngerer Deutscher symptomatisch gescheitert sind. Die Lebensgeschichte verkrampft sich nicht am Thema Aufarbeitung, sie ist zugleich die Erzählung einer ganz unlogischen Freundschaft, der Beziehungen zwischen Deutschland und Polen vor und nach 1945, und nicht zuletzt der Überwindung des Schweigens, das zwischen den Generationen – bei Tätern wie Opfern – so oft geherrscht hat.
Das Buch beginnt 2006 mit dem Tod des 83-Jährigen in seiner Warschauer Wohnung, acht Jahre nach seiner ersten Begegnung mit Frau Bader in Auschwitz. Auf eine im Internet publizierte Hommage Baders melden sich verschiedene Personen mit Mutmaßungen über Jureks Leben und Sterben. Diese Fäden hat die Autorin zu einem spannenden Bericht verbunden, der Gespräche mit Hronowski, seine eigenen Aufzeichnungen und mündliche und schriftliche Aussagen anderer auswertet, die sich allesamt von Jurek instruieren und faszinieren, oft auch verwirren und abstoßen ließen. Die Originaltöne Hronowskis, der eigentlich Jerzy Baran hieß, ziehen sich kursiv durch das gesamte Buch und werden in bester quellenkritischer Manier geprüft.
Bader hat sich dabei einer emotionalen Tortur unterzogen. Der Mensch, den sie so sehr respektiert und schätzt, wird nach dem Tod mit seinen schwierigen, unangenehmen Seiten sichtbar – als Mitarbeiter des polnischen Geheimdienstes, als denkbar schlechter Ehemann und Vater. Er provozierte alle, mit denen er zu tun hatte, er war so charmant wie aufbrausend, so furchtlos wie paranoid. Was kaum anders zu erwarten ist von einem Menschen, der vier Jahre im „Anus Mundi“ verbracht hat, wie ein anderer polnischer Überlebender, Wieslaw Kielar, Auschwitz einst genannt hat. „Das habe ich im Auschwitz gelernt“, war ein Standardsatz von Jurek, dessen Stimme man als Leser oft zu hören meint. Über die Jahrzehnte hinweg hat er über seine Erlebnisse zu reden gelernt und sie in dreißig didaktische Standardgeschichten komprimieren können, aber das Trauma, das andere in den Selbstmord oder Wahnsinn trieb, hat er damit nie überwunden. An seinem Fall ist erkennbar, wie existentiell „Schreiben nach Auschwitz“ sein konnte: Die für alle unvorstellbaren Grausamkeiten verwandelten sich in Geschichten mit gutem Ausgang, damit sie für die Zuhörer fassbar und auch für den Erzähler in seiner Überlebensschuld erträglich wurden.
Nach Baders Rechnung hat Hronowski gut 10 000 Deutschen seine Geschichte erzählt, über die er mit seiner Frau nicht reden wollte und die er auch seinem nach Amerika emigrierten Sohn Tomek vorenthielt. Auch sein Enkel Marek hat die Geschichte seines Großvaters erst nach dessen Begräbnis in Warschau erfahren – von der Autorin. Sie wurde zur Haupterbin Jureks, weil sie jenseits der Routinen von Aussöhnung und Vergangenheitsbewältigung die (trotz allem liebenswerte) Person nicht aus den Augen verlor.
Bei vielen Deutschen und Polen hatte sich die Bewältigung der eigenen Familiengeschichte vor die Freundschaft geschoben, sodass Jurek nur ein „Köder für Gespräche“ war, die ehemalige Napola- Zöglinge und Heimatvertriebene mit ihren verstockten Eltern, einer postfaschistischen Gesellschaft und mit eigenen Schuldkomplexen nicht führen konnten. Man stilisierte Jurek zum „Opfer“ und verfehlte damit den leidenden Menschen.
Wie Katarina Bader vom Weiterleben nach dem Überleben schreibt, zeigt einen Weg, Gedenkroutinen aufzubrechen. Das geht nicht ohne die Entmystifizierung auch dieses Zeitzeugen, der so um die Wahrheit gekämpft hat und sie nie finden konnte – und dabei fest an „selbsterlebte“ Geschichten glauben wollte, wie eine alliierte Bombardierung von Auschwitz, die niemals stattgefunden hat. Davon zu schreiben, hat auch Katarina Bader erst nach dem Tod ihres Protagonisten gewagt. Ihr Buch sollten besonders diejenigen lesen, die finden, es sei genug über die NS-Vergangenheit geschrieben und gesprochen worden.
Aber sollten wir diese Vergangenheit nicht doch endlich vergraben und vergessen? Alle Friedensverträge nach Kriegen und Bürgerkriegen enthielten bis ins 20. Jahrhundert hinein entsprechende Klauseln. Christian Meier, dem 81-jährigen Doyen der deutschen (Alt-)Historiker, ist das Kunststück gelungen, uns das Vergessen am Vorbild der antiken Amnestiepraxis plausibel zu machen und sogleich am Exempel von Auschwitz die Unabweisbarkeit der Erinnerung klarzumachen.
Das weise kleine Buch nimmt dem Erinnern den Furor und rühmt am Vergessen die Klugheit. Das Problem liegt jeweils in der transitiven Form: Erinnern und vergessen sind spontane Vorgänge des Gedächtnisses, erst andere erinnern oder sie vergessen lassen, bewirkt die Aporien und Verstörungen, die Meier in einem fast lakonischen Durchgang von der ganz alten bis zur jüngsten Geschichte darlegt.
Vor allem der deutsche Fall widerlegt das populäre Motto: Glücklich ist, wer vergisst, wenn es um die öffentliche Bearbeitung der Vergangenheit geht. Die Bundesrepublik konnte als Demokratie nur gelingen, weil der spontane Impuls, die abominablen Verbrechen des „Dritten Reiches“ zu verdrängen und zu leugnen, von außen und innen durchkreuzt wurde. Man darf nicht, man kann aber auch nicht einfach vergessen (machen), was Vorstellung und Vernunft so übersteigt wie die Shoah. Die Zäsur setzt Meier bereits vorher an: Schon der Erste Weltkrieg war ein Zivilisationsbruch, nach dem man nicht zur Tagesordnung übergehen konnte – und dem ein weit schlimmerer folgte, weil die alteuropäische Staatenordnung es dennoch versuchte.
Ganz anders bewertet Meier die Verarbeitung der Staatsverbrechen der DDR, die weder Krieg noch Genozid beinhalteten und auch keine Stalinsche Große Säuberung. Dass die Bürgerrechtler nach Erringung ihrer Freiheit keine Unabhängigkeitserklärung abgaben, sondern ein Schuldeingeständnis (und zwar am Holocaust), ist für Meier der Grund für ihre Machtlosigkeit und eine Ursache für das teilweise Misslingen der Einheit.
„Bei aller gebotenen Abgrenzung zum Nationalsozialismus gibt es keinen Grund, die Speziallager nicht bei dem Namen zu nennen, der ihnen zusteht: „Konzentrationslager“, resümiert die Berliner Historikerin Bettina Greiner (Jahrgang 1969) ihre exzellente Studie über die 13 Internierungslager, die der sowjetische Geheimdienst NKWD 1944/5 in der SBZ einrichtete. Ihre Analyse beruht auf der Auswertung russischer und deutscher Archivmaterialien sowie von Erfahrungsberichten und Interviews ehemaliger Häftlinge. Inhaftiert wurden „Spione“, „Diversanten“, „Terroristen“ und „aktive Mitglieder der Nationalsozialistischen Partei“, doch dienten die Lager nicht der Entnazifizierung, sondern der Isolierung und Eliminierung von „Klassenfeinden“, also von tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern der Sowjetisierung.
Die Bilanz ist erschütternd: Von über 150 000 Inhaftierten, darunter viele Jugendliche, starb ein Drittel an Hunger und Entkräftung. Greiner arbeitet die Zustände in den Lagern minutiös heraus, und man fragt sich am Ende, warum ein solches Werk erst sechzig Jahre nach ihrer Schließung und zwanzig Jahre nach der Vereinigung erschienen ist. Die Lager waren im Osten wie im Westen Deutschlands tabu, darüber zu reden inopportun. Insofern bietet dieses Buch auch den brisantesten Beitrag zur deutschen Geschichtspolitik. Die Namen Sachsenhausen und Buchenwald blieben allein mit dem NS-Terror belegt, auch wenn der stalinistische Terror dort nahtlos weiterging und sich in den ersten Jahren der antifaschistischen DDR fortsetzte.
„Ist es zulässig, zwischen Tod und Tod, zwischen Sterben und Sterben zu unterscheiden?“ fragt Dan Diner (Jahrgang 1946) zur Unterscheidung von Pietät und Reflexivität angesichts der verschwimmenden Narrative der massenhaften Vernichtung im 20. Jahrhundert, und er illustriert dies an einem vertrackten deutschen Fall: der gemeinsamen Todesangst einer jüdischen KZ-Insassin und einer SS-Wärterin beim Luftangriff auf Dresden. Diners gelehrte und tiefgründige Beiträge gehören seit langem zu den besten Analysen der Zeitgeschichte. Der auch thematisch zwischen Deutschland und Israel pendelnde Direktor des Simon-Dubnow-Instituts macht in zehn sehr dichten Kapiteln die Zeitenschwelle erkennbar, in der die Menschheit derzeit lebt, und für die ihr so oft das Verständnis fehlt, weil es an historischer und geschichtsphilosophischer Einordnung mangelt. Wer nach Orientierung im Gegenwartschaos sucht, sollte diesen Band zu Rate ziehen.
Eine brillante zeitgeschichtliche Reportage, ein souveräner Essay, eine profunde Promotionsarbeit und eine globalgeschichtlich fundierte Zeitdiagnose – vier Autoren aus vier politischen Generationen demonstrieren, dass die deutsche Erinnerungskultur von der „Moralkeule“ (Martin Walser) keineswegs niedergestreckt wurde, sondern unabdingbar ist für das Verständnis der Gegenwart. Dank solcher Beiträge kann sich eine in der Tat Routine gewordene Gedenkkultur weiterentwickeln.
KATARINA BADER: Jureks Erben. Vom Weiterleben nach dem Überleben. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2010. 272 Seiten, 19,95 Euro.
CHRISTIAN MEIER: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit. Siedler Verlag, Berlin 2010. 160 S., 14,95 Euro.
BETTINA GREINER: Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland. Hamburger Edition, Hamburg 2010. 524 S., 35 Euro.
DAN DINER: Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte. Pantheon, München 2010. 272 S., 12,95 Euro.
Claus Leggewie ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts, Essen
Man stilisierte ihn zum „Opfer“ und
verfehlte den leidenden Menschen
Auch die Speziallager in der SBZ
waren Konzentrationslager
Erneuerte Erinnerungskultur
jenseits der „Moralkeule“
Gespräche mit Überlebenden und Zeitzeugen waren und sind die besten Mittel, die Erinnerung an ein sich immer weiter entfernendes Menschheitsverbrechen wachzuhalten und damit bei Nachlebenden nicht etwa Schuldgefühle, wohl aber das Verantwortungsbewusstsein hervorzurufen, dessen es nach dem Ableben der Zeitzeugen bedarf.
Schüler in der Gedenkstätte in Auschwitz.  
Foto: Frank Wache / LUX/WACHE / Agentur Focus
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2010

Erinnern und Vergessen

Die Massenvernichtung der europäischen Juden ist ein historisch einmaliger Vorgang. Aber Massenmorde und Massaker in kleinerem, sozusagen geschichtsüblichem Maßstab sind seither wieder in großer Zahl verübt worden, selbst in Europa. Die meisten dieser Menschheitsverbrechen ereigneten sich in Bürgerkriegen. Sie waren Ausdruck der Entzweiung und verstärkten diese zugleich, zementierten sie in den Herzen der überlebenden Opfer. Gegen den fortgesetzten Bürgerkrieg hilft nur Versöhnung, oft auch Vergessen. Aber sind das nicht auch Vokabeln einer Schlussstrich-Mentalität, die gerade in Deutschland zu Recht verpönt und geächtet ist?

Christian Meier stellt in seinem Essayband "Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns" (Siedler Verlag, Berlin 2010, 159 S., geb., 14,95 [Euro]) den deutschen Umgang mit dem Holocaust der langen geschichtlichen Tradition von Amnestien und kollektiven Schuldtilgungen gegenüber. Den Hintergrund des Hauptessays, der auf einer Berliner Akademievorlesung von 1996 basiert, bildet eine Frage, die den Historiker und Zeitzeugen Meier seit Jahrzehnten umtreibt: Wie lässt sich Auschwitz in die große Erzählung der Geschichtswissenschaft einfügen, ohne dass es sie zerreißt? Im nachgeholten Gedenken, so die im Stillen dabei anklingende Hoffnung, fände die Nation einen Weg, sich selbst die Wahrheit über die Vernichtungslager zu erzählen. Der neue Band deutet an, dass diese Hoffnung sich erfüllt hat.

Bei den Athenern des Jahres 403 vor Christus, zeigt Meier, ging die erste allgemeine Amnestie der Geschichte aus der Notwendigkeit hervor, den Kreislauf von Rache und Widerrache, der ihren Staat zu zerstören drohte, zu durchbrechen. Die Cäsar-Mörder des Jahres 44 vor Christus und die Friedensvertragspartner der europäischen Neuzeit beschworen kollektives Vergessen als Heilmittel gegen das Wiederausbrechen des Krieges. Erst im Vertrag von Versailles 1919 wurde der Grundsatz der "strafenden Gerechtigkeit" über den der Versöhnung gestellt, mit den bekannten Folgen.

Das Besondere der geschichtlichen Situation nach 1945 besteht für Meier nun darin, dass sowohl die Deutschen als auch die alliierten Siegermächte mehr als zehn Jahre brauchten, um zu begreifen, dass die gewohnten Mechanismen von Strafe und Exkulpation diesmal nicht griffen. Erst mit den Ulmer Einsatzgruppenprozessen des Jahres 1958 drehte sich der Wind vom "Schlussstrich" zur "Aufarbeitung" der Vergangenheit. Ebendieses verlorene Jahrzehnt ist für Meier der Schlüssel zur späteren erfolgreichen Geschichtspolitik der Bundesrepublik. "Untaten größten Stils", so sein Resümee, seien womöglich "so lange zu beschweigen", bis man "aus ihrem unmittelbaren Schatten heraus" sei.

Auch Nationen, heißt das, handeln nach den Gesetzen der Psychologie. Dass das auch für die sehr verschieden sozialisierten Kollektive der Ost- und der Westdeutschen gilt, die sich 1990 in aller Eile vereinigten, demonstriert der zweite, kleinere Aufsatz dieses Bandes. Auch die deutsche Einheit war ein Ereignis ohne Beispiel, das man mit historischen Bordmitteln zu bewältigen suchte. Das gelang nicht; oder nicht ganz. Aber die Geschichte ist ja noch nicht zu Ende.

ANDREAS KILB

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Beeindruckt zeigt sich Elisabeth von Thadden von der Fragestellung dieses Buchs, ihren Informationen zufolge eine Komposition aus zwei überarbeiteten Vorträgen des 81-jährigen Historikers. Kann Erinnerung einer Wiederholung des Schlimmen vorbeugen, oder bringe sie mit der Rache nur neues Schlimmes hervor?, fasst die Kritikerin die Fragestellung zusammen. Zu ihrer Beantwortung nehme Christian Meier nicht weniger als zweieinhalb Jahrtausende europäische Geschichte in den Blick, sowie geschichtspolitische Gepflogenheiten der europäischen Kulturen. Herausgearbeitet werde besonders der Zivilisationsbruch, den das Wort "Auschwitz" markiert, und von zwei Modellen ausgehend diskutiere Meier tragfähige Konzepte für eine Gedächtniskultur: dem Modell Ciceros, der für Amnestie zugunsten des gesellschaftlichen Friedens plädierte, und dem Richard von Weizsäckers, der Erinnern als Kur gegen neuerliche Ansteckungsgefahr empfahl. Meiers Argumentation nun besticht die Kritikerin, weil er jenseits von Erinnern und Vergessen sich für ein Maß stark macht, dass die Geschichtspolitik jeweils am Einzelfall orientieren will, und die jeweilige Berücksichtigung der Schwere historischer Vergehen empfiehlt.

© Perlentaucher Medien GmbH