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Die Hoffnung, durch Erinnerung an die Opfer der Vergangenheit künftigen Gewaltereignissen vorbeugen zu können, scheint sich nicht erfüllt zu haben. Auch das 21. Jahrhundert hat mit kollektiver Verfolgung und Gewalt begonnen. In den Analysen dieser Gewalt ist die Rede von 'ethnischer Säuberung' oder von Gesellschaften, die den Status der 'modernen, zivilisierten Welt' noch nicht erreicht haben. Haben sich die Wissenschaften den Herausforderungen, die von kollektiver Gewalt, von Krieg und Genozid ausgehen, wirklich gestellt? Wie läßt sich eine analytische Sprache finden, die Verletzungen nicht…mehr

Produktbeschreibung
Die Hoffnung, durch Erinnerung an die Opfer der Vergangenheit künftigen Gewaltereignissen vorbeugen zu können, scheint sich nicht erfüllt zu haben. Auch das 21. Jahrhundert hat mit kollektiver Verfolgung und Gewalt begonnen. In den Analysen dieser Gewalt ist die Rede von 'ethnischer Säuberung' oder von Gesellschaften, die den Status der 'modernen, zivilisierten Welt' noch nicht erreicht haben. Haben sich die Wissenschaften den Herausforderungen, die von kollektiver Gewalt, von Krieg und Genozid ausgehen, wirklich gestellt? Wie läßt sich eine analytische Sprache finden, die Verletzungen nicht überdeckt, sondern sie spürbar werden und bleiben läßt? Wie kann die historische Quellenanalyse der Gefahr entgehen, die durch die Sprache übermittelten Identitäts- und Geschichtsmuster völkisch-nationaler, rassistischer oder anderer ausschließender Mentalitätsfiguren weiterzutragen? An welche Muster der Rede schließen wissenschaftliche aber auch literarische Codierungen kollektiver Gewalt an? Welche Konzepte und Perspektiven muß eine interdisziplinäre Gewaltforschung entwickeln, um einen analytischen Zugang zu verschiedenen Tätergesellschaften zu ermöglichen, ohne die Singularität der einzelnen Opfer zu relativieren? Die Beiträge des interdisziplinär angelegten Bandes gehen diesen Fragen aus der Perspektive der Geschichts- und Sozialwissenschaften, der Literaturwissenschaft, Philosophie, Psychologie und Psycholinguistik sowie der Medienwissenschaften nach. Aus dem Inhalt CLAUS-EKKEHARD BÄRSCH: Gewalt und der Genozid gemäß der politischen Religion Adolf Hitlers MEDARDUS BREHL: Krieg der Codes CATHY CARUTH: Re-Präsentation und Referenz: Der Name des Überlebenden PETER GENDOLLA: Gewalt/Simulationen. Vom Nutzen und Nachteil der Modelle für das Leben ROBERT HETTLAGE: Gewalt und Ehre LUCIAN HÖLSCHER: Gewalt als historische Herausforderung und als Herausforderung für die Wissenschaften MONA KÖRTE: Modalitäten des Ästhetischen BURKHARD LIEBSCH: Sprechende Gewalt PETER LONGERICH: Öffentlichkeit und kollektive Gewalt ERIC MARKUSEN: Genozidpolitik WOLFGANG MÜLLER-FUNK: Codierungen des Nicht-Sprechens und des Nicht-Sprechen-Könnens KRISTIN PLATT: Wissenschaft und Perspektive NIGEL RAPPORT: Über jene, die mit der Verbrennung von Büchern beginnen. KURT RÖTTGERS: Spuren der Macht und das Ereignis der Gewalt JÜRGEN STRAUB: Unverlierbare Zeit, verkennendes Wort. Nach der Shoah. Sekundäre Traumatisierung der 'Zweiten Generation' LILIANE WEISSBERG: Deutlich sichtbar
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.06.2003

Lasst uns von Gewalt reden
Und doch sanftmütig bleiben, ehrenwert und unverbindlich
„Das Reden von Gewalt”, fasst die Herausgeberin zusammen, „kann sich nur schwer aus der Konsistenz der Methoden, Begriffe und Ordnungen lösen, in der auch die Gewalt selbst geplant und legitimiert wurde.” Wissenschaft steht in der Gefahr, die Gewalt, über die sie spricht, fortzuschreiben. Sie kann gar nicht anders, denn jede Ordnung, die sie setzt, ist ein Gewaltakt.
So lautet der Konsens seit Adorno, seit Foucault. Der anzuzeigende Band will darum auf eine Theorie der Gewalt verzichten, zu einem vielperspektivischen Reden über Gewalt Zuflucht nehmen, um der Logik der Gewalt zu entkommen. Das Ansinnen ist ehrenwert, und es ist ihm beizupflichten, wo es die kritische Selbstreflexion des Forschers meint. Doch nur allzu leicht gleitet es ab ins Unverbindliche. Statt über Gewalt aufzuklären, werden modische Inszenierungen dargeboten.
Aus der Reihe der konkreten Untersuchungen tritt Medardus Brehls „Krieg der Codes” hervor, ein Stück über die wechselseitige Einverleibung von Kriegserfahrung und poetischer Rede, wie sie von den Expressionisten einerseits und dem „sozio-kulturellen Wissen ihrer Zeit” andererseits im Ersten Weltkrieg betrieben wurde. Mit besonderer Spannung liest man Peter Longerichs Studie über „Judenverfolgung und nationalsozialistische Öffentlichkeit” von Juli bis November 1941. Selten wurde so klar herausgearbeitet, wie sehr das Reden von Gewalt und Gewalt selbst miteinander verschränkt sind. Die Eskalation der Judenverfolgung in diesen Monaten fand in aller Öffentlichkeit statt – und hatte zum Ziel, die Juden aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Von der Einführung eines „Judenabzeichens” bis zur Deportation der deutsche Juden nach Osteuropa wurde jeder politische Gewaltakt vom Gewalt redenden Propagandaapparat vorbereitet, in vielen Fällen sogar erst möglich gemacht. So verschlungen waren beide Stränge, dass sie ununterscheidbar werden.
Angesichts der Eskalation des Krieges war das Regime entschlossen, die Judenverfolgung zu radikalisieren. Vier Absichten wurden miteinander verknüpft: Die rassisch homogene Volksgemeinschaft sollte hergestellt werden. Die in aller Öffentlichkeit stattfindende rassistische Politik stärkte die Machtbasis des Nationalsozialismus. So konnte auch dem immer blutigeren Krieg eine neue Begründung gegeben werden – als „Existenzkampf” des deutschen Volkes gegen das „internationale Judentum”. Mit dieser Ideologisierung der öffentlichen Darstellung und Wahrnehmung brachte man abweichende Stimmen zum Schweigen. Es ist erschreckend zu lesen, wie das Reden über Gewalt, wie propagandistische Forderungen einer Politik der Gewalt vorausgingen, die im Mord an den europäischen Juden gipfelte.
TIM B. MÜLLER
KRISTIN PLATT (Hrsg.): Reden von Gewalt. Wilhelm Fink Verlag, München 2002. 386 Seiten, 38,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Tim B. Müller beschreibt ein Dilemma: "Wissenschaft steht in der Gefahr, die Gewalt, über die sie spricht, fortzuschreiben. Sie kann gar nicht anders, denn jede Ordnung, die sie setzt, ist ein Gewaltakt." Also versuche dieser Band, das perspektivische Spektrum möglichst weit aufzufächern - in der Hoffnung, "der Logik der Gewalt zu entkommen". Nur leider, beklagt der Rezensent, führe der Versuch geradewegs in die Unverbindlichkeit und in "modische Inszenierungen" hinein. Nur zwei Beiträge hebt er als erhellend heraus: In einem gehe es um die "wechselseitige Einverleibung von Kriegserfahrung und poetischer Rede", der andere zeige, wie die antisemitische Propaganda der Nazis - die Gewalt des Redens - direkt in die tatsächliche Gewalt mündete.

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