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Die Verschmelzung von Mann und Maschine: Hansjörg Znoj fügt das Motorrad in den Kosmos Ernst Jüngers ein
Motorradfahrer sind uns vertraut. Wir sehen sie regelmäßig in der Stadt und außerhalb. Vielleicht kennen wir sogar welche persönlich. Deshalb eignen sie sich besonders gut als Beispiel für eine Art Mensch, wie er uns sonst nur in der Sportberichterstattung oder überhaupt nicht begegnet. Ein Bergsteiger (von der extremeren Art) oder ein Surfer (dito) hat sicher viel mit einem Motorradfahrer gemein. Wenn man den einen kennt, dann versteht man auch den anderen ein bisschen.
Zur Zielgruppe des Buches "Psychologie des Motorrads" gehört jeder Neugierige, der etwas über risikofreudige Menschen erfahren will, die Vergnügen daran finden, sich mit mechanischer Unterstützung in Grenzbereiche zu begeben. Deshalb der auf den Kosmos Ernst Jüngers ausgreifende Untertitel: "Zur Wechselwirkung von Mensch und Maschine". Neben Motorradfahrern sind eben auch extreme Skifahrer angesprochen, Drachenflieger, Fallschirmspringer. Hansjörg Znoj, Extraordinarius für Klinische Psychologie in Bern, ist sozusagen seine eigene Laborratte. Er ist ein Motorradfahrer von der Sorte, die ständig daran arbeitet, die Grenzen von Mensch und Maschine zu finden und zu erweitern. Nur um solche Motorradfahrer geht es in dem Buch, um die, die ihr Hobby so ernst nehmen wie Giacomo Casanova die Wollust oder Paul Verlaine den Absinth.
Alles Gesagte gilt mutatis mutandis wohl auch für die Profis, die ihr Geld beim Rennen verdienen, aber hier kommen hauptsächlich die engagierten Straßenfahrer vor, eben solche, wie sie der Autor aus seinem Privatleben kennt. Die Frauen, die aus eigenem Antrieb begeistert Motorrad fahren, werden nur nebenbei erwähnt. Das ist ein Manko. Man würde doch gerne wissen, ob sie sich von den Männern unterscheiden und wenn ja wie. Auch von der sozialen Kultur der Biker, von den Hells Angels und so weiter, ist kaum die Rede. Znoj beschreibt hauptsächlich den Motorradfahrer im Singular. Man muss also immer noch Hunter S. Thompsons Klassiker über die Hells Angels studieren, mit denen der Reporter ein Jahr lang zusammengelebt hatte, bevor er seine Erfahrungen mit den Motoradgangs Kaliforniens aufschrieb.
Es gibt glückliche Buchhalter und glückliche Löwenbändiger. Der Psychologe Marvin Zuckerman hat sich 1964 die Sensation-Seeking-Skala ausgedacht. Ein hoher Wert auf dieser Skala entspricht einer besonders großen Lust am Risiko. Erstaunlicherweise ergab eine Untersuchung bei Skifahrern, dass die Verletzungsgefahr keineswegs mit dem Wert auf der Sensation-Seeking-Skala wächst.
Die Fahrer, die sich selbst als besonders risikoverliebt einschätzen, haben nicht die meisten Verletzungen. Vielleicht sind sie einfach nur schlauer als die anderen. Der Psychologe Michael J. Apter denkt etwas anders als Zuckerman. Er meint, dass wir zwischen den extremen Polen hin- und herwechseln. Mal sind wir Buchhalter, mal Löwenbändiger, wobei es aber eine mehr oder weniger starke individuelle Präferenz für das eine oder das andere gibt.
Motorradfahren ist zwanzigmal gefährlicher als Autofahren, aber der gute Motorradfahrer hat das Risiko auf diesem höheren Niveau dann doch noch relativ gut im Griff. Er genießt die mit der Angstlust, dem thrill verbundene Regression. Worin aber besteht der spezielle Genuss, der eine Fahrt auf dem Kraftrad zum Beispiel von der in einem Kraftwagen unterscheidet?
Diese Frage zu beantworten ist das Hauptanliegen des Buchs. Znoj beschäftigt sich vor allem mit dem Zusammenwirken von Mensch und Maschine. Er spricht da im Sinne Jüngers von einer Symbiose oder einer neuronalen Verknüpfung. Mann und Motor verschmelzen im Laufe der Zeit zu einem einzigen Lebewesen. Dabei entsteht so etwas wie ein Zentaur. Auch wenn der Autor nur wenig über Pferde redet, vielleicht kennt er sich da nicht so aus, so kann man doch spekulieren, dass das Motorrad im Grunde eine Art mechanisches Pferd ist. Vieles in dem Buch erinnert doch sehr an Winnetou, der auf seinem wackeren Rappen Iltschi durch die Prärie prescht.
Beim schnellen Motorradfahren ist der ganze Körper mit allen seinen Sinnesorganen aktiv. Den korrekten Umgang mit der Maschine kann man nur langsam erlernen. Die Herausforderung besteht ja gerade darin, dass es sehr schwer ist, das Gerät wirklich zu beherrschen. Irgendwann nach jahrelanger Übung nähert man sich dann seinen persönlichen Grenzen. Gelegentliche Stürze sind normal. Aber auch dann fährt man nicht perfekt. Falsche Verhaltensweisen haben sich eingeschliffen. Die Gesetze der Physik würden es erlauben, die Kurven noch etwas schneller zu durchfahren, aber dazu dürfte man nicht so agieren, wie man es im Gefühl hat, und das schafft man so nah an der Grenze nicht. Um sich da noch zu verbessern, braucht man einen Trainer, anders geht das nicht. Viel leichter tut man sich allerdings, wenn man sich den Trainer sucht, ehe man glaubt, ihn zu brauchen.
Diesen von ihm selbst absolvierten Lernprozess beschreibt Znoj liebevoll, soweit man ihn überhaupt verbal darstellen kann. Mit seinem beruflichen Wissen kann er ihn auch interpretieren. Sein psychologisches Interesse arbeitet sich zumal am Phänomen des flow ab. Dabei geht es um jenen Geschwindigkeitsrausch, Zustand der Ekstase, in dem das Nachdenken über die eigene Tätigkeit und die eigene Situation abgeschaltet ist. Znoj schildert den Flow als ein gefährliches labiles Gleichgewicht, das man mit genug Motorraderfahrung jedoch beherrschen kann. An solchen Stellen klingt er schon fast wie ein buddhistischer Mönch, der über die Erleuchtung redet.
Den technischen Fortschritt sieht der Autor ambivalent. Elektronische Fahrhilfen wie das Antiblockiersystem (ABS) gibt es inzwischen ja nicht nur für vier, sondern auch für zwei Räder. Damit fährt man sicherer, wenn man genauso schnell fährt wie vorher. Aber das tut man natürlich nicht. Znoj vermeldet zwar, dass die Rate der tödlichen Unfälle weltweit sinkt, aber man würde doch gerne wissen, ob das nicht eher auf den Fortschritt der Medizin und den gesteigerten Einsatz von Rettungshubschraubern zurückzuführen ist. Im Übrigen wäre ein absolut sicheres Motorrad nichts anderes als eine neuartige Achterbahn. Würden Sie dafür zehntausend Euro ausgeben?
ERNST HORST
Hansjörg Znoj: "Die Psychologie des Motorrads". Zur Wechselwirkung von Mensch und Maschine.
Verlag Hans Huber, Bern 2011. 192 S., 17 Abb., 3 Tb., br., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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