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Über die Abscheulichkeit von Reality-TV
"Ich wurde gebeten, alles aufzuschreiben." Mit diesem Satz beginnt der Ich-Erzähler seinen Bericht über ein Osterwochenende, an dem er und seine Lebensgefährtin ein befreundetes Paar in der Steiermark besuchen. Während die Medien minutiös über einen am Karfreitag begangenen Doppelmord an zwei Kindern berichten, den der Mörder mit einer Videokamera aufgenommen haben soll, pendeln die vier Freunde zwischen Fernseher und Kartenspiel, Küche und Gesprächen hin und her. Angewidert und zugleich voller Lust an der Sensation, kommentieren sie das Vorgehen der…mehr

Produktbeschreibung
Über die Abscheulichkeit von Reality-TV

"Ich wurde gebeten, alles aufzuschreiben." Mit diesem Satz beginnt der Ich-Erzähler seinen Bericht über ein Osterwochenende, an dem er und seine Lebensgefährtin ein befreundetes Paar in der Steiermark besuchen. Während die Medien minutiös über einen am Karfreitag begangenen Doppelmord an zwei Kindern berichten, den der Mörder mit einer Videokamera aufgenommen haben soll, pendeln die vier Freunde zwischen Fernseher und Kartenspiel, Küche und Gesprächen hin und her. Angewidert und zugleich voller Lust an der Sensation, kommentieren sie das Vorgehen der Medien. Draußen, in der "wirklichen" Welt, wird unterdessen fieberhaft nach dem Mörder gesucht.

"Wo Glavinic steht, das wissen wir nach diesem Buch: in der ersten Reihe der deutschsprachigen Literatur." Daniel Kehlmann in 'Literaturen'
Autorenporträt
Thomas Glavinic wurde 1972 in Graz geboren und arbeitet seit 1991 als freier Schriftsteller. 1998 erschien sein viel beachtetes Debüt 'Carl Haffners Liebe zum Unentschieden', das vom 'Daily Telegraph' zum Buch des Jahres gewählt wurde. 2001 folgte der Roman 'Der Kameramörder', für den Glavinic mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet wurde. Weitere Romane folgten. Thomas Glavinics Werke sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien 'Unterwegs im Namen des Herrn'. Er lebt in Wien.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.08.2001

Neueste Nachrichten aus einer gefühllosen Welt
Mord auf allen Kanälen: Thomas Glavinic zeigt, warum Medienkritik immer auch Selbstkritik ist · Von Sebastian Domsch

Was gedruckt steht, ist sprichwörtlich immer schon gelogen. Die bewegten Bilder des Fernsehens dagegen stehen als Garant dafür, daß etwas wirklich passiert ist. Deswegen geht es in Thomas Glavinics so hervorragendem wie beklemmenden Buch "Der Kameramörder" nicht um einen Mord, sondern um die Kamera, die dabeigewesen ist, und deswegen ist die Geschichte da am nächsten an der Realität, wo diese sich in ihrer eigenen Spiegelung verliert.

"Ich wurde gebeten, alles aufzuschreiben." Wer die ersten Zeilen des von Glavinic selbst als Novelle bezeichneten Texts aufmerksam liest, für den gibt es am Ende keine Überraschung, sondern nur die Gewißheit, nicht die ganze Wahrheit zu erfahren. Denn die ist hinter ihrer eigenen Simulation längst verschwunden. Thomas Glavinic, Jahrgang 1972, gehört zur in jüngster Zeit vieldiskutierten jungen Generation deutschsprachiger realistischer Autoren. Doch wenn er gegen die verstiegene Avantgardesucht der österreichischen Literatur in Interviews gerne ein fast schon naiv realistisches Erzählen ins Feld führt, ist das nur ein Ablenkungsmanöver. Was man nach seinem Debütroman "Carl Haffners Liebe zum Unentschieden" noch für schlichten bis altmodischen Stil gehalten hat, entpuppt sich spätestens mit diesem, seinem dritten Buch als Teil eines komplexen und handwerklich meisterhaften Repertoires an sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die mit dem jeweiligen Sujet untrennbar verbunden sind.

Denn was auf den ersten Satz folgt, ist der 150 Seiten lange absatz- und emotionslose Bericht eines Osterwochenendes, dessen akribische Detailtreue bis hin zur Unwahrscheinlichkeit reicht, beispielsweise in der Wiedergabe von Dialogen oder Federballspielständen, und dessen vollkommene Neutralität den Berichtenden noch die kleinste Nebensächlichkeit mit der gleichen Sorgfalt und Leidenschaftslosigkeit beschreiben läßt wie die Ausstrahlung eines Kindermords im Fernsehen.

Mit eiserner Konsequenz filtert Glavinic jedes Ereignis durch die umständliche Sprache des Erzählers, die sich auszeichnet durch den konsequenten Einsatz des Konjunktivs, altertümlichen Sprachgebrauch ("Ich willfahrte ihr") und merkwürdige Satzstellungen, die stark an Behördendeutsch erinnern. Eklatant wird die zur Gefühllosigkeit gesteigerte Objektivität beispielsweise bei der Wiedergabe humorvoller Situationen. An solchen Stellen heißt es dann: "Dies gab zu Heiterkeit Anlaß." Humor wird ebenso ausgeblendet wie Horror; beides läßt sich in dieser Welt der Inszenierung von Oberflächen durch erzählende Sprache nicht vermitteln. Diese Stringenz ergibt zwar keine leichte Lektüre, doch der namenlose Erzähler schlägt den Leser, der sich zuerst noch am betulichen Sprachfluß und übergroßen Detailreichtum stört, rasch in den Bann des Banalen. Denn hinter so viel Oberfläche, das ist bald klar, muß sich ein Abgrund auftun.

Zusammen mit seiner Lebensgefährtin ist der Erzähler über die Ostertage zu Gast bei einem befreundeten Ehepaar, den Stubenrauchs. Man sitzt zusammen, spielt Karten oder Federball und unterhält sich, bis eine Meldung aus dem Fernsehen die Aufmerksamkeit auf sich zieht: Ein Mann hat drei Jungen in seine Gewalt gebracht und zwei von ihnen gezwungen, sich von einem Baum in den Tod zu stürzen. Seine Tat hat der Unbekannte auf Video aufgenommen.

Von nun an bestimmt das Verbrechen, das sich ganz in der Nähe der vier Personen zugetragen hat, jedes Gespräch und jede Handlung. Genauer gesagt, drängt sich die mediale Vermittlung der Untat in den Vordergrund. Zwar versuchen die beiden Paare, vor allem die Frauen, ihre Pläne für ein geruhsames Wochenende weiterhin umzusetzen, doch der Mord läuft auf allen Kanälen. Spätestens als das Video aufgefunden und unter öffentlichen Protesten von einem Fernsehsender ausgestrahlt wird, gibt es nur mehr ein Thema, das sich in Form von neuesten Nachrichten, Teletext und Extraausgaben ständig selbst weitererzählt.

Die Sensationsgier der Massen und die Pietätlosigkeit der Medien, dazu ein Verbrechen, das in seiner Abartigkeit ohne die Existenz dieser Medien gar nicht denkbar wäre - die moralisch entrüstete Medienkritik entspringt dem Sujet ganz von selbst. Sie ist in Glavinics Text denn auch von vielen Seiten hineingelesen worden, dabei handelt es sich dabei um den schwächsten Aspekt seiner Geschichte. Natürlich ist eine gewisse Kritik an den Medien ständig präsent; zumeist wird sie geschickt schon in die indirekten Dialoge der vier Protagonisten eingeflochten. Dort, wo die Vorbehalte direkt ausgesprochen werden, verliert der Text seine Dichte, weil hier der Bericht des Erzählers zum Vehikel einer kritischen Aussage gemacht wird. Im weiteren Verlauf des Texts ist es umgekehrt.

Hinter den geradlinigen Sätzen des Erzählers, oft einfach bis zur Einfältigkeit, verbirgt sich eine Spiegelkonstruktion, deren Verschachtelungen bisweilen atemberaubende Dimensionen annehmen. Zum Beispiel wenn wir, vom Erzähler vermittelt, jenen Fernsehbeitrag miterleben, in dem das Mordvideo ausgestrahlt wird. Der Mörder überzeugt die Kinder davon, daß sich ihre Eltern in seiner Gewalt befinden, was nicht stimmt. Wie in einer grausamen Parodie auf penetrante Nachmittagstalker fragt er dabei immer wieder die verängstigten Kinder nach ihren Gefühlen, und genau wie diese verweigert der Text eine Antwort. Es gibt nur noch die Oberfläche des Fernsehbildschirms; alles, was dahinter liegt - Motive, Zusammenhänge und Gefühle -, entzieht sich dem Wissen des Mörders, des Erzählers, des Zuschauers und des Lesers.

In der Schlußszene laufen die verschiedenen medialen Ebenen auch zeitlich und räumlich aufeinander zu, bis wir zusammen mit dem Erzähler und den Fernsehkameras geradezu "live" dabei sind, als der Mörder gefaßt wird. Ein bitteres Happy-End für einen äußerst vielschichtigen Text, der beiläufig auch auf Religion als Vorform medialer Inszenierung hindeutet, indem er die Entwicklung des Mordfalls in einer merkwürdigen Parallelität zu den kirchlichen Feiertagen schildert. Die erschütternde Wirkung der Novelle beruht aber nicht so sehr auf der kunstvollen Konstruktion, sondern vor allem auf der Tatsache, daß der letzte Spiegel das Gesicht des Lesers selbst reflektiert. Am Ende steht die unschöne Erkenntnis, daß wahre Medienkritik immer auch Selbstkritik bedeutet.

Thomas Glavinic: "Der Kameramörder". Novelle. Verlag Volk und Welt, Berlin 2001. 157 S., geb., 32,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Karl-Markus Gauß ist vom dritten Roman des Autors, wie schon von den vorherigen, hellauf begeistert. Das Protokoll eines Ich-Erzählers, von einem grausamer Mord, dessen mediale Verwertung minutiös geschildert wird, löst durch seinen bürokratischen Sprachstil zunächst Erheiterung beim Rezensenten aus, die er aber bald "gnadenlos zerstört" sieht. Er preist nicht nur das "staunenswerte handwerkliche Können" des Autors, sondern es beeindruckt ihn, wie Glavinic die Verquickung von Gewalt und Medien aufzeigt, denn, so der Rezensent, es ist der Zweck der geschehenen brutalen Verbrechen, "Fernsehen zu werden". Dennoch sei der Roman mehr als eine Kritik an der Hervorbringung der Gewalt durch die Medien, denn mit dem Hinweis, dass die Morde am Karfreitag begangen werden und der Mörder am Ostersonntag gefasst wird, habe das Buch auch eine symbolische Dimension.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Ein verstörendes und verstörend perfekt inszeniertes Planspiel (...). Wenn sonst nichts an diesem Autor zu loben wäre, bliebe immer noch sein staunenswertes handwerkliches Können (...). Ein eiskalt komponierter Roman, der mit solcher inneren Konsequenz zu Ende gebracht wird, dass wir nicht im fernsten glauben, [mit der Lösung] sei etwas gelöst." Karl-Markus Gauss in der Neuen Zürcher Zeitung

"Ein im Protokollton abgefasster Bericht, der dann besticht, wenn er den von allen moralischen Fesseln losgelösten Voyeurismus einer TV-Gesellschaft erklärbar macht." Peter Henning im kulturSpiegel

"In Thomas Glavinic' so hervorragendem wie beklemmenden Buch 'Der Kameramörder' geht es nicht um einen Mord, sondern um die Kamera, die dabeigewesen ist, und deswegen ist die Geschichte da am nächsten an der Realität, wo diese sich in ihrer eigenen Spiegelung verliert." Frankfurter Allgemeine Zeitung

"Bis zum letzten, alles entscheidenden Satz eine einen unglaublichen Sog entwickelnde Prosalektüre." Rheinischer Merkur
Unvorstellbare Grausamkeiten
Stellen Sie sich einmal vor ...
Oder nein, tun Sie es besser nicht, es ist einfach zu grauenvoll. Lassen Sie sich einfach die Fakten berichten - diese sind schon schlimm genug.
Da geht also ein Mann am Karfreitag morgen in einen Wald, in dem friedlich drei Brüder von sieben, acht und neun Jahren spielen. Nicht unfreundlich kommt er mit ihnen ins Gespräch, in dessen Verlauf er den Kindern mitteilt, er hätte ihre Eltern und die Großmutter in seine Gewalt gebracht und sie könnten deren Leben nur dadurch retten, dass sie ihr eigenes opfern.
Mehrere Stunden lang quält er die drei durch detaillierte Beschreibungen dessen, was er alles mit den Angehörigen der Buben anstellen wird, wenn sie ihm nicht zu Willen sind, bis schließlich der jüngste auf einen hohen Baum steigt und sich von dort herunterstürzt - natürlich zu Tode.
Das widerwärtige "Spiel" wiederholt sich (Drohungen seitens des Mörders, verzweifeltes Flehen der Jungen), bis auch der zweite Bruder ebenfalls durch einen absichtlichen Sprung von einem hohen Baum stirbt - alles Minute für Minute akribisch durch eine Videoaufzeichnung dokumentiert.
Dem überlebenden Kind schließlich gelingt die Flucht, wodurch alles ruchbar wird.
Erst das Grinsen, dann das Grauen - und noch einmal von vorn
Das ist der Punkt, an dem die Handlung des Romans einsetzt, der ob seiner ungewöhnlichen Erzählweise, die dem Leser permanent einen Schlag in die Magengrube versetzt, wo er wenige Sekunden zuvor nicht umhin konnte ein breites Grinsen mitten im Gesicht zu tragen, zu Recht den FRIEDRICH-GLAUSER-PREIS - KRIMIPREIS DER AUTOREN 2002 erhalten hat.
Beschrieben wird auf 157 Seiten - ohne jeden Absatz und mit nicht einer direkten Rede - wie sich die vier Protagonisten, zwei befreundete Paare, die ursprünglich nur die Osterfeiertage gemeinsam verbringen wollten, mehr und mehr in diesen Kriminalfall hineinziehen lassen, der sich unweit zugetragen hat.
Eine zentrale Rolle spielt dabei die Tatsache, dass das Videoband, auf dem der Täter das Geschehen festgehalten hat, gefunden und von einem Privatsender zur Ausstrahlung gebracht wird.
Ein Spiegel für den Leser
Lakonisch und gerade dadurch bitterböse werden in diesem Zusammenhang - in loser Folge - sämtliche damit verbundenen Einzelheiten geschildert: Wie viele und welche Knabbereien und Süßspeisen sich die Zuschauer zurecht legen, bevor das Mordvideo seinen Anfang nimmt.
Wie der Sender erklärt, nur der Wunsch, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, sei der Grund, die fürchterlichen Bilder zu zeigen. Dass man im Bewusstsein der eigenen Verantwortung Telefonnummern von psychologischen Beratungsstellen einblenden wird - ein kostenloser Dienst bis auf die Telefongebühren von max. 0.97 DM die Minute.
Vor allem aber wie an entscheidenden Stellen Werbeeinblendungen das Geschehen unterbrechen - für "... mit Milchcreme gefüllte Schokolade ..." und "...einen blitzenden roten Sportwagen.. ."
Verstörend und faszinierend zugleich
Wie sich der Österreicher Glavinic erzähltechnisch der Tat selbst nähert, ist für den Leser ebenso verstörend wie faszinierend (und vielleicht die einzige Art und Weise so etwas "literarisch" aufzubereiten?).
Ein Auszug (Seite 62): "...erklärte der Kameramann, die Geschwister sollten sich .. unter allen Umständen an jede seiner Anweisungen halten. Beim geringsten Widerspruch ist er gezwungen, sofort einem der Kinder eine Nase oder einen Finger abzuschneiden und die Wunde zu salzen, was dem Betreffenden Unbill verursacht. Mittlerweile weinten alle 3 Kinder. Auch im Wohnzimmer hatten die Ausführungen des Kameramannes für Aufruhr gesorgt .."
Als Leser fast hautnah dabei
Und während minutiös berichtet wird, was die"Helden" in diesen Tagen tun - was sie essen, trinken, sprechen, wie sie sich die Zeit vertreiben, bis von den Medien wieder eine neue Entwicklung in der ganzen Geschichte verkündet wird, wie ihre Lust erwacht, sich bei allem Abscheu an der Jagd nach dem Mörder zu beteiligen - wird der Leser immer tiefer hineingezogen in den Strudel der Ereignisse.
Was zunächst einfach nur banal schien, trägt nun dazu bei, die Distanz zu verringern zwischen dem, der vor den Buchseiten sitzt und jenen, die es zwischen die beiden Deckel verschlagen hat. Fast hat man das Gefühl, selbst dabei zu sein, wenn sich das Netz zuzieht und die Beamten kurz vor der Ergreifung des Täters stehen.
Fazit: Ein durch und durch spannendes Buch, aber auch - gerade durch die teilweise groteske Darstellungsweise, der sich der verhältnismäßig junge Autor (Jahrgang 1972) bedient - "Harter Tobak".
In jedem Fall ein Roman, von dem man auch in einigen Jahren noch sprechen wird und der nicht zuletzt unter dem Aspekt der implizierten Medienkritik durchaus das Zeug zum Schulstoff für die Oberstufe hat.
(Michaela Pelz, www.krimi-forum.de)

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