Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
mein Bruder
Totenreden, Lebensschatten: Zwei
Erzählungen von Joseph Zoderer
Genau genommen besteht dieses Buch von Joseph Zoderer nicht aus zwei Erzählungen, sondern aus zwei Totenreden. Auch wenn der Protagonist der Titelgeschichte, der Bruder des Ich-Erzählers, noch lebt, so ist er doch im Begriff, die letzten Dinge zu klären: In dem Telefonat, das den Text eröffnet, geht es um die Beschaffenheit des Holzes, um die Höhe und Tiefe des eigenen Sarges. Die beiden Prosastücke, das wird am Ende deutlich, gehören und passen zusammen. Die Annäherungen des Erzählers an Konrad, seinen besten und vor Kurzem verstorbenen Freund, und die an den eigenen Bruder sind eng verbunden mit Reflexionen über den eigenen Lebensweg und die eigenen Unzulänglichkeiten.
Erst indem der Charakter des Bruders, eines aufgebrochenen Menschen, herausgearbeitet wird, offenbart sich, worum es eigentlich geht: um eine historische Determinierung, die nie mehr abzuschütteln ist. Um einen monumentalen Riss, der sich durch die Erfahrungswirklichkeit von Menschen zieht, die ein und derselben Generation zuzurechnen sind. Dieser Riss heißt Krieg und hat im Fall des Südtirolers Zoderer, Jahrgang 1935, seine ganz eigenen Komplikationen. Der eine, der Bruder, hat ihn geführt. Die anderen, der Ich-Erzähler und sein Freund Konrad, müssen darauf reagieren und sehen sich genötigt, ihn zu deuten. Konrad als Person mag durch und durch authentisch sein – als literarische Figur ist er nahe an der Grenze zum Stereotyp des klassischen Antibürgers der 1960er-Jahre. Ein dionysischer Charakter und zugleich ein scharfer Denker; ein Leser von Hemingway, Camus und Sartre, versteht sich. Ein kontaktscheuer abseits Stehender, der sein Einsamkeitspathos kultiviert und zum Markenzeichen gemacht hat. Zoderer erzählt Konrads Lebensgeschichte als Gegenbewegung zum „Moralgemurmel seiner Kindheit und seiner tief katholischen Bauernfamilie“. Konrad, den der Ich-Erzähler während des Studiums in Wien kennenlernt, geht nach Rom, arbeitet als Journalist, der sich rechtzeitig (noch eine Attitüde) vor der notwendigen Beschäftigung mit Mobiltelefon und Computer in den Ruhestand flüchtet.
Im Gegensatz zum Bruder im bemerkenswerten zweiten Teil bekommt Konrad kaum eine Möglichkeit zur Entfaltung und allenfalls in amourösen Dingen eine Chance zur Ambivalenz. So stilistisch mitreißend Zoderer auch erzählen kann, so überexplizit umstellt er den Freund (und seine Beziehung zu ihm) mit Zuschreibungen: „Er war ein Intellektueller par excellence“, heißt es einmal, und: „Wir waren lebenszornige Existenzialisten.“ Was das Verhältnis des Erzählers zu Konrad und das zu seinem Bruder eint, ist die ständige Verschiebung von physischer und psychischer Nähe und Distanz. „Er war“, schreibt er über Konrad, „mein bester Freund, aber vielleicht habe ich ihn nicht wirklich gekannt.“
Das Äquivalent zu dieser Feststellung ist im zweiten Teil die Frage , warum ausgerechnet der Bruder, der einem so nahe stehen müsste, nicht einer ist, mit dem man politische, kulturelle oder weltanschauliche Interessen teilen kann – und ob es eine moralische Verpflichtung gibt, einen Fremden zu lieben. Der zehn Jahre ältere Bruder, der jung und schwer verwundet aus dem Krieg zurückkam und nun krank, gehbehindert und inkontinent in einer Zweizimmerwohnung vor sich hindämmert, ist für den Erzähler nicht einer, der töten musste, sondern der es über sich brachte, selbst zu töten. Die Gesprächssituation der beiden gleicht einem Verhör: Hier der Ältere, in sich zusammengesackt, auf dem Sofa; dort der Jüngere, aufgerichtet im Stuhl gegenüber. „Du kannst dir das nicht vorstellen“, sagt der Bruder einmal. Ein Konrad zu werden blieb einem wie ihm naturgemäß verwehrt.
Aber auch die Erzählerfigur selbst bleibt nicht unbeschädigt. Die Fremdheit zwischen den beiden hat ihren Anfang in jenem Augenblick, in dem der Ältere den Jüngeren an der Schweizer Grenze absetzt, wo er ein katholisches Internat besuchen wird. Von diesem Abschnitt seines Lebens erzählt Zoderer in seinem glänzenden Roman „Das Glück beim Händewaschen“. Es sind zwei diametral gesetzte Lebensentwürfe: Der Trachten- und Heimatverein, das Bleiben, auf der einen, die Unrast, das Unterwegssein in der ganzen Welt auf der anderen Seite. Das Ende des Bruders ist noch aufgeschoben. Ein Text als vorweggenommenes Epitaph. Vor allem aber dann doch als nachgetragene Liebeserklärung.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Joseph Zoderer: Mein Bruder schiebt sein Ende auf. Zwei Erzählungen. Haymon Verlag, Innsbruck und Wien 2012. 144 Seiten, 18,60 Euro.
Der Text beginnt mit einem
Telefonat über den eigenen Sarg
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH