»Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich.« Mit diesem Satz beginnt das Meisterwerk Leo Tolstois. Der Bestseller Anna Karenina gilt als einer seiner besten Romane. Das Werk entstand zwischen 1875 und 1877. Mit feiner psychologischer Beobachtungsgabe schildert Leo Tolstoi die inneren Konflikte der Titelheldin Anna Karenina, die wegen der leidenschaftlichen Beziehung zu einem Mann Ehebruch begeht und ihre Familie hinter sich lässt. Anna Karenina versucht die neue Beziehung weder gegenüber ihrem Ehemann noch gegenüber der Gesellschaft zu verheimlichen. Der Bruch mit den gesellschaftlichen Konventionen in einer Zeit, als angebahnte Ehen noch die Regel waren, macht Anna Karenina zur Außenseiterin. Seitensprünge sind in der besseren Gesellschaft durchaus üblich, jedoch nicht auf die offene Art und Weise, wie Tolstoi sie in Anna Karenina beschreibt. Anna Karenina von Tolstoi wurde neben Madame Bovary (1856) von Gustave Flaubert und Effi Briest (1895) von Theodor Fontane zu einer der berühmtesten Ehebrecherinnen der Weltliteratur. Der Roman begeistert er durch die bis ins kleinste Detail mit großer Menschenkenntnis dargestellten Charaktere. Tolstoi kontrastiert Anna Kareninas Lebensentwurf mit den Lebenswegen einiger konventionellerer Charaktere. Durch die parallel erzählten Handlungsstränge zeigt Leo Tolstoi auch lebenswerte Alternativen zu Anna Kareninas Entscheidungen. Der Autor Leo Tolstoi wirft für dieses Gesamtbild seine gesamte eigene Lebenserfahrung in die Waagschale. Das Große an dem Roman Anna Karenina ist die absolute, fast mitleidlose Folgerichtigkeit der Ergebnisse individueller Entscheidungen. Der Zufall hilft nicht, er mildert nichts ab. Die Konflikte werden bei Tolstoi nicht durch äußere Schicksale gelöst. Tolstoi erlaubt sich in seinem Bestseller nur Lösungen, die aus dem Tun der Menschen direkt hervorgehen. Damit macht Tolstoi den Menschen zum Regisseur seines Schicksals.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2003Eine widerwärtige Person
Aber doch Lew Tolstois geliebtes Ziehkind: „Anna Karenina” in einer Neuausgabe
Anna Karenina muss man lieben. Sogar Tolstoi, der anfänglich entschlossen war, sie zu hassen, konnte nicht anders. In einem Brief zählt er 1876 alle seine Kinder auf, die fünf lebenden und die zwei verstorbenen, und fügt ihnen schließlich sein „Ziehkind” Anna hinzu, über die er „nichts Schlechtes” hören wolle, denn er habe sie nun einmal adoptiert.
In der ersten Fassung des Romans, der später nach seiner Heldin hieß, lautete deren Name noch Tatjana, und sie wurde charakterisiert als „eine widerwärtige Person”. Die verdammenswerte Tatjana, aus der nach Bergen von immer wieder umgeschriebenen, neu gefassten Manuskripten die bemitleidenswerte Anna wurde, hatte eine Ehe zerstört; und die Ehe war für Tolstoi, der mit seiner Frau ein Leben lang stritt und sich ihr sterbend entzog, das Fundament, auf dem alleine sich eine sittliche Gesellschaft erheben konnte. Tolstoi war, als er an seinem zweiten Roman schrieb, auf seinem Gut Jasnaja Poljana umgeben von lauter Leuten, die sich tief in Sünde verstrickt hatten. Sein Bruder Sergej lebte ohne den Segen der Kirche mit einer Zigeunerin zusammen, die ihm ein Kind nach dem anderen schenkte, und ein zweiter Bruder, Dmitri, hatte sich seine Lebensgefährtin aus dem Bordell freigekauft. Lew Tolstoi aber war die Ehe heilig, wiewohl er mit seiner Frau fast fortwährend im Hader lag. Nach 48 gemeinsam erlittenen Ehejahren schleicht der Greis nächtens aus dem Haus, um nicht unter den unerträglich „luxuriösen Bedingungen” des Gutsherren und weltberühmten Schriftstellers sterben zu müssen, setzt sich in den nächsten Zug und fährt fiebernd seinem Tod entgegen, den er eine Woche später, am 7. November 1910, in der Bahnhofsstation von Astapowo antrifft.
Anna Karenina hat eine Ehe zerstört, Mann und Kind verlassen und alles ihrer Liebe geopfert, einer Liebe, so übermächtig wie unvernünftig, so grandios wie zerstörerisch; und noch dazu verschenkt an einen, der ihrer nicht würdig ist. Das ist die Tragik der viel bewunderten und am Ende aus der Gesellschaft ausgestoßenen, verratenen Frau – dass ihre Liebe keinen Mann fand, der dieses Übermaß wert gewesen wäre. Über 120 Seiten baut der Roman jenen Moment auf, an dem Anna zum ersten Mal auftritt. Und Graf Wronski, ein Lebemann mit den allerbesten Manieren, ein Offizier mit mitfühlendem Herz, doch alles in allem ein mediokrer Charakter, sieht gleich, was er später noch schmerzlich erfahren wird: „Etwas wie ein heimlicher Überfluss erfüllte ihr ganzes Wesen und drückte sich bald im Glanz ihrer Augen, bald in ihrem Lächeln aus. Sie versuchte dieses Leuchten absichtlich zu dämpfen, doch es brach gegen ihren Willen beinahe unmerklich immer wieder aus ihr hervor.”
Der Überfluss zeichnet Anna Karenina aus, ein Überfluss an Gefühlskraft, Liebesfähigkeit, Leidensbereitschaft. Dieser Überfluss ist es, der ihr so innige Bewunderung einträgt, in der Aristokratie von Moskau und St. Petersburg; aber er sprengt auch die Konventionen, an denen die kühnen Herren und die feinen Damen ihr Maß nehmen, und führt die strahlende Erscheinung in den Untergang. Wronski selbst ist zuerst verzaubert von dieser Kraft, später erschreckt sie ihn, endlich stößt sie ihn ab, bleibt er doch stets auf die Gesellschaft bezogen, während Annas Liebe alles negiert, was außerhalb von dieser steht, und seien es die Ideale und Rituale jener Klasse, der sie entstammt und die sie selber aufs Schönste verfeinert hat.
Eine russische Enzyklopädie
„Anna Karenina”, in fünfjähriger Arbeit entstanden und 1878 erstmals vollständig erschienen, war eine ungeheure Kraftanstrengung des Autors. In der neuen deutschen Ausgabe sind es rund 1700 Seiten, auf denen das Seelendrama einer Frau, die den Tod wählt, weil sie den Kompromiss für schuldhaften Verrat empfände, entrollt wird. Aber „Anna Karenina” ist nicht nur einer der großen Liebesromane der Weltliteratur, sondern auch vieles andere: laut Thomas Mann der bedeutendste Gesellschaftsroman aller Zeiten, und, nebenbei, in den vielen Diskussionen und Debatten, die in ihm über Kunst, Religion und Wirtschaft geführt werden, fast so etwas wie eine russische Enzyklopädie des 19. Jahrhunderts. Wenn sich die Gutsbesitzer, Bankiers und Beamten unterhalten, wird die Krise einer feudalen Agrargesellschaft so plastisch dargetan, dass man mitunter an Lenin erinnert ist, der eine Generation später rühmen wird, dass es vor diesem Grafen Tolstoi keinen echten Bauern in der russischen Literatur gegeben habe.
Ein unaufdringlich, aber konsequent ausgestaltetes Nebenthema des Romans ist es, die Fehlschläge in Liebessachen mit den ökonomischen Fehlschlägen zu überblenden, vor allem in der Gestalt von Annas Bruder, dem opportunistischen Fürsten Oblonski. Der betrügt seine Frau, deren Reichtümer er benötigt, weil ihm alle wirtschaftlichen Unternehmungen missraten; so bleiben sie zusammen und führen ihre Ehe unter dem Zeichen der lebenspraktischen Lüge.
Drei Paare, miteinander verschwägert, drei Versuche, die Ehe mit dem Glück, der Wahrheit oder der Lüge, dem Kompromiss zu verbinden. Der genießerische, gutgelaunt beschränkte Fürst Oblonski und seine zu Recht eifersüchtige reiche Frau Dolly; Oblonskis Schwester Anna und ihr Mann, der Ministerialbeamte Karenin, der in der Kanzleisprache denkt und mit Ehrbarkeit geschlagen ist, sodass Anna einmal sagen wird: „Ich weiß, dass es Frauen gibt, die ihre Männer gerade um ihrer Laster willen lieben, ich aber hasse meinen Mann wegen seiner Tugendhaftigkeit.” Und dann sind da noch Lewin, gesellschaftlich ungewandt, der seinen Bauern ein patriarchalischer Grundherr sein möchte, und Kitty, Dollys jüngere, reizende Schwester, die an seiner Seite reift und der Stadt, den Bällen, der Oberflächlichkeit städtischer Vergnügungen entsagt.
Eheglück, lehrt Tolstoi, ist ein hartes Stück Lebensarbeit, und ein Arbeiter ganz nach seinem Sinn ist Lewin, der am Ende jene religiöse Wende schon vorwegnimmt, die Tolstoi bald nach Beendigung der „Anna Karenina” vollziehen wird. Doch bei aller Arbeit, die sittlich angeraten ist, gibt es da eben noch das Unausrechenbare, die Urgewalt, und Tolstoi rechtfertigt sie gewissermaßen gegen seinen Willen, jedenfalls konträr zu seinen eigenen moralischen Ansichten. Das ist das Große am Erzähler Tolstoi, dass er schreibend seinen eigenen Horizont zu überschreiten vermag, dass er über die Ideologie, die er predigt, hinauswächst. Kurz, dass er Anna, die er verurteilen möchte, zur ergreifenden Gestalt macht, deren Untergang motivisch früh vorweggenommen wird und mit dem wir uns lesend gleichwohl bis zuletzt nicht abfinden mögen.
„Anna Karenina”, oft verfilmt, vertont, verkitscht, ist seit Generationen immer in mehreren Buchausgaben erhältlich. Übersetzer der jüngst erschienenen ist Bruno Goetz, ein verschollener Dichter aus Riga, der 1954 starb, kurz nachdem seine Übersetzung bei Manesse das erste Mal erschienen war. Sie hat das halbe Jahrhundert seither gut überstanden; wobei hinzuzufügen ist, dass Tolstoi sich als Stilist aufs äußerste zurücknahm, gewissermaßen hinter der Gestaltung selbst zu verschwinden trachtete. Was bei Dostojewski alle Zeiten wieder geschieht, dass nämlich eine neue Übersetzung einen ganz neuen Autor zeigen möchte, ist bei Tolstoi folglich weder nötig noch möglich: Seit über hundert Jahren wird er immer wieder neu übersetzt und bleibt doch ganz der alte.
KARL-MARKUS GAUSS
LEW TOLSTOI: Anna Karenina. Roman. Aus dem Russischen von Bruno Goetz. Nachwort von Dieter Wellershoff. Zwei Bände. Manesse Verlag, Zürich 2003. 893 bzw. 826 Seiten, 49,80 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Aber doch Lew Tolstois geliebtes Ziehkind: „Anna Karenina” in einer Neuausgabe
Anna Karenina muss man lieben. Sogar Tolstoi, der anfänglich entschlossen war, sie zu hassen, konnte nicht anders. In einem Brief zählt er 1876 alle seine Kinder auf, die fünf lebenden und die zwei verstorbenen, und fügt ihnen schließlich sein „Ziehkind” Anna hinzu, über die er „nichts Schlechtes” hören wolle, denn er habe sie nun einmal adoptiert.
In der ersten Fassung des Romans, der später nach seiner Heldin hieß, lautete deren Name noch Tatjana, und sie wurde charakterisiert als „eine widerwärtige Person”. Die verdammenswerte Tatjana, aus der nach Bergen von immer wieder umgeschriebenen, neu gefassten Manuskripten die bemitleidenswerte Anna wurde, hatte eine Ehe zerstört; und die Ehe war für Tolstoi, der mit seiner Frau ein Leben lang stritt und sich ihr sterbend entzog, das Fundament, auf dem alleine sich eine sittliche Gesellschaft erheben konnte. Tolstoi war, als er an seinem zweiten Roman schrieb, auf seinem Gut Jasnaja Poljana umgeben von lauter Leuten, die sich tief in Sünde verstrickt hatten. Sein Bruder Sergej lebte ohne den Segen der Kirche mit einer Zigeunerin zusammen, die ihm ein Kind nach dem anderen schenkte, und ein zweiter Bruder, Dmitri, hatte sich seine Lebensgefährtin aus dem Bordell freigekauft. Lew Tolstoi aber war die Ehe heilig, wiewohl er mit seiner Frau fast fortwährend im Hader lag. Nach 48 gemeinsam erlittenen Ehejahren schleicht der Greis nächtens aus dem Haus, um nicht unter den unerträglich „luxuriösen Bedingungen” des Gutsherren und weltberühmten Schriftstellers sterben zu müssen, setzt sich in den nächsten Zug und fährt fiebernd seinem Tod entgegen, den er eine Woche später, am 7. November 1910, in der Bahnhofsstation von Astapowo antrifft.
Anna Karenina hat eine Ehe zerstört, Mann und Kind verlassen und alles ihrer Liebe geopfert, einer Liebe, so übermächtig wie unvernünftig, so grandios wie zerstörerisch; und noch dazu verschenkt an einen, der ihrer nicht würdig ist. Das ist die Tragik der viel bewunderten und am Ende aus der Gesellschaft ausgestoßenen, verratenen Frau – dass ihre Liebe keinen Mann fand, der dieses Übermaß wert gewesen wäre. Über 120 Seiten baut der Roman jenen Moment auf, an dem Anna zum ersten Mal auftritt. Und Graf Wronski, ein Lebemann mit den allerbesten Manieren, ein Offizier mit mitfühlendem Herz, doch alles in allem ein mediokrer Charakter, sieht gleich, was er später noch schmerzlich erfahren wird: „Etwas wie ein heimlicher Überfluss erfüllte ihr ganzes Wesen und drückte sich bald im Glanz ihrer Augen, bald in ihrem Lächeln aus. Sie versuchte dieses Leuchten absichtlich zu dämpfen, doch es brach gegen ihren Willen beinahe unmerklich immer wieder aus ihr hervor.”
Der Überfluss zeichnet Anna Karenina aus, ein Überfluss an Gefühlskraft, Liebesfähigkeit, Leidensbereitschaft. Dieser Überfluss ist es, der ihr so innige Bewunderung einträgt, in der Aristokratie von Moskau und St. Petersburg; aber er sprengt auch die Konventionen, an denen die kühnen Herren und die feinen Damen ihr Maß nehmen, und führt die strahlende Erscheinung in den Untergang. Wronski selbst ist zuerst verzaubert von dieser Kraft, später erschreckt sie ihn, endlich stößt sie ihn ab, bleibt er doch stets auf die Gesellschaft bezogen, während Annas Liebe alles negiert, was außerhalb von dieser steht, und seien es die Ideale und Rituale jener Klasse, der sie entstammt und die sie selber aufs Schönste verfeinert hat.
Eine russische Enzyklopädie
„Anna Karenina”, in fünfjähriger Arbeit entstanden und 1878 erstmals vollständig erschienen, war eine ungeheure Kraftanstrengung des Autors. In der neuen deutschen Ausgabe sind es rund 1700 Seiten, auf denen das Seelendrama einer Frau, die den Tod wählt, weil sie den Kompromiss für schuldhaften Verrat empfände, entrollt wird. Aber „Anna Karenina” ist nicht nur einer der großen Liebesromane der Weltliteratur, sondern auch vieles andere: laut Thomas Mann der bedeutendste Gesellschaftsroman aller Zeiten, und, nebenbei, in den vielen Diskussionen und Debatten, die in ihm über Kunst, Religion und Wirtschaft geführt werden, fast so etwas wie eine russische Enzyklopädie des 19. Jahrhunderts. Wenn sich die Gutsbesitzer, Bankiers und Beamten unterhalten, wird die Krise einer feudalen Agrargesellschaft so plastisch dargetan, dass man mitunter an Lenin erinnert ist, der eine Generation später rühmen wird, dass es vor diesem Grafen Tolstoi keinen echten Bauern in der russischen Literatur gegeben habe.
Ein unaufdringlich, aber konsequent ausgestaltetes Nebenthema des Romans ist es, die Fehlschläge in Liebessachen mit den ökonomischen Fehlschlägen zu überblenden, vor allem in der Gestalt von Annas Bruder, dem opportunistischen Fürsten Oblonski. Der betrügt seine Frau, deren Reichtümer er benötigt, weil ihm alle wirtschaftlichen Unternehmungen missraten; so bleiben sie zusammen und führen ihre Ehe unter dem Zeichen der lebenspraktischen Lüge.
Drei Paare, miteinander verschwägert, drei Versuche, die Ehe mit dem Glück, der Wahrheit oder der Lüge, dem Kompromiss zu verbinden. Der genießerische, gutgelaunt beschränkte Fürst Oblonski und seine zu Recht eifersüchtige reiche Frau Dolly; Oblonskis Schwester Anna und ihr Mann, der Ministerialbeamte Karenin, der in der Kanzleisprache denkt und mit Ehrbarkeit geschlagen ist, sodass Anna einmal sagen wird: „Ich weiß, dass es Frauen gibt, die ihre Männer gerade um ihrer Laster willen lieben, ich aber hasse meinen Mann wegen seiner Tugendhaftigkeit.” Und dann sind da noch Lewin, gesellschaftlich ungewandt, der seinen Bauern ein patriarchalischer Grundherr sein möchte, und Kitty, Dollys jüngere, reizende Schwester, die an seiner Seite reift und der Stadt, den Bällen, der Oberflächlichkeit städtischer Vergnügungen entsagt.
Eheglück, lehrt Tolstoi, ist ein hartes Stück Lebensarbeit, und ein Arbeiter ganz nach seinem Sinn ist Lewin, der am Ende jene religiöse Wende schon vorwegnimmt, die Tolstoi bald nach Beendigung der „Anna Karenina” vollziehen wird. Doch bei aller Arbeit, die sittlich angeraten ist, gibt es da eben noch das Unausrechenbare, die Urgewalt, und Tolstoi rechtfertigt sie gewissermaßen gegen seinen Willen, jedenfalls konträr zu seinen eigenen moralischen Ansichten. Das ist das Große am Erzähler Tolstoi, dass er schreibend seinen eigenen Horizont zu überschreiten vermag, dass er über die Ideologie, die er predigt, hinauswächst. Kurz, dass er Anna, die er verurteilen möchte, zur ergreifenden Gestalt macht, deren Untergang motivisch früh vorweggenommen wird und mit dem wir uns lesend gleichwohl bis zuletzt nicht abfinden mögen.
„Anna Karenina”, oft verfilmt, vertont, verkitscht, ist seit Generationen immer in mehreren Buchausgaben erhältlich. Übersetzer der jüngst erschienenen ist Bruno Goetz, ein verschollener Dichter aus Riga, der 1954 starb, kurz nachdem seine Übersetzung bei Manesse das erste Mal erschienen war. Sie hat das halbe Jahrhundert seither gut überstanden; wobei hinzuzufügen ist, dass Tolstoi sich als Stilist aufs äußerste zurücknahm, gewissermaßen hinter der Gestaltung selbst zu verschwinden trachtete. Was bei Dostojewski alle Zeiten wieder geschieht, dass nämlich eine neue Übersetzung einen ganz neuen Autor zeigen möchte, ist bei Tolstoi folglich weder nötig noch möglich: Seit über hundert Jahren wird er immer wieder neu übersetzt und bleibt doch ganz der alte.
KARL-MARKUS GAUSS
LEW TOLSTOI: Anna Karenina. Roman. Aus dem Russischen von Bruno Goetz. Nachwort von Dieter Wellershoff. Zwei Bände. Manesse Verlag, Zürich 2003. 893 bzw. 826 Seiten, 49,80 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.19961878
Leo Tolstoj "Anna Karenina"
Das ist der Roman Greta Garbos: Keine Frau hat je einen Wronskij so angeschaut wie sie, keine hat je so gelitten, keine ist je so wunderbar unter einen Zug gefallen wie die Garbo, über keine weint man so wunderbar hemmungslos und schön wie über sie. Wer weiß, ob Tolstoj wirklich noch größer wäre, wenn ihn nicht immer seine moralischen Ideen dazu verlockten, das, was er so hinreißend darstellt, auszubalancieren durch das, was er für besser hält: So meint er hier, der unwiderstehlichsten aller Liebesbezauberungen (leider ist der Geliebte ein Hohlkopf, Gott ist blind, aber was soll die Garbo tun) einen Mann entgegenstellen zu müssen, der, wie weiland bei Rousseau, im Ackerbau das Ziel des menschlichen Geistes sieht und im Kinderkriegen das Glück der Frau. Die Frau heißt Kitty, und ein schlichter Bauer spricht dann den Sinn des Lebens aus. Die Garbo kümmert sich um das alles aber nicht, und die ganz Großen, auch wenn sie also zu wissen glauben, was gut wäre, werden dann doch eher noch größer, wo sie schildern, was sie am liebsten gar nicht sähen. Und wie Dantes Sprache schmilzt, wo er Francesca in der Hölle zeigt, so analysiert Tolstoj, eh er sie zugrundegehn läßt, die Garbo so eindringlich und dann doch durchdrungen von ihrer Schönheit, vom Recht ihrer Sinne und von der ruhigen Größe ihres Verlangens nach Glück, daß man kaum die unendliche Weite dieser schreibenden Seele wahrhaben möchte, wenn sie dann, nach soviel Glanz und Leid, behaupten mag, der Mensch sei doch noch ein andrer und wer nicht an den Ackerbau glaube, lande mit Recht unter der Eisenbahn. Richtig hassenswert sieht er dann aus in seiner ackerkrumenbraunen Rechtschaffenheit. Aber dann kommt uns wieder die Garbo in den Sinn, und wir sagen uns (und fangen noch einmal das Buch an): Wer das erfunden und geschrieben haben kann, dem ist alles vergeben. Soll er sich ruhig als Gott aufspielen - was ist das schon neben solchen Gestalten! (Leo Tolstoj: "Anna Karenina". Aus dem Russischen übersetzt von Fred Ottow. Deutscher Taschenbuch Verlag, München. 1024 S., br., 24,90 DM; ebenfalls bei Diogenes, Insel, Nymphenburger.) R.V.
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Leo Tolstoj "Anna Karenina"
Das ist der Roman Greta Garbos: Keine Frau hat je einen Wronskij so angeschaut wie sie, keine hat je so gelitten, keine ist je so wunderbar unter einen Zug gefallen wie die Garbo, über keine weint man so wunderbar hemmungslos und schön wie über sie. Wer weiß, ob Tolstoj wirklich noch größer wäre, wenn ihn nicht immer seine moralischen Ideen dazu verlockten, das, was er so hinreißend darstellt, auszubalancieren durch das, was er für besser hält: So meint er hier, der unwiderstehlichsten aller Liebesbezauberungen (leider ist der Geliebte ein Hohlkopf, Gott ist blind, aber was soll die Garbo tun) einen Mann entgegenstellen zu müssen, der, wie weiland bei Rousseau, im Ackerbau das Ziel des menschlichen Geistes sieht und im Kinderkriegen das Glück der Frau. Die Frau heißt Kitty, und ein schlichter Bauer spricht dann den Sinn des Lebens aus. Die Garbo kümmert sich um das alles aber nicht, und die ganz Großen, auch wenn sie also zu wissen glauben, was gut wäre, werden dann doch eher noch größer, wo sie schildern, was sie am liebsten gar nicht sähen. Und wie Dantes Sprache schmilzt, wo er Francesca in der Hölle zeigt, so analysiert Tolstoj, eh er sie zugrundegehn läßt, die Garbo so eindringlich und dann doch durchdrungen von ihrer Schönheit, vom Recht ihrer Sinne und von der ruhigen Größe ihres Verlangens nach Glück, daß man kaum die unendliche Weite dieser schreibenden Seele wahrhaben möchte, wenn sie dann, nach soviel Glanz und Leid, behaupten mag, der Mensch sei doch noch ein andrer und wer nicht an den Ackerbau glaube, lande mit Recht unter der Eisenbahn. Richtig hassenswert sieht er dann aus in seiner ackerkrumenbraunen Rechtschaffenheit. Aber dann kommt uns wieder die Garbo in den Sinn, und wir sagen uns (und fangen noch einmal das Buch an): Wer das erfunden und geschrieben haben kann, dem ist alles vergeben. Soll er sich ruhig als Gott aufspielen - was ist das schon neben solchen Gestalten! (Leo Tolstoj: "Anna Karenina". Aus dem Russischen übersetzt von Fred Ottow. Deutscher Taschenbuch Verlag, München. 1024 S., br., 24,90 DM; ebenfalls bei Diogenes, Insel, Nymphenburger.) R.V.
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