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"Hätte die Natur nicht so weise über uns verfügt, würden wir, glaube ich, alle im Irrenhaus landen. So landen nur jene im Irrenhaus, über die die Natur nicht mit der nötigen Weisheit verfügt hat. Man denke doch, wenn der Mensch sein ganzes Leben lang mit der gleichen Energie lebte wie zwischen zwanzig und vierzig, dann wäre er mit siebzig schon so gefangen in einem Geflecht von Wunden und Verletzungen, daß ihm kein anderer Ausweg bliebe als der Wahnsinn. Deshalb glaube ich, daß es ein Glück ist, schwächer zu werden."

Produktbeschreibung
"Hätte die Natur nicht so weise über uns verfügt, würden wir, glaube ich, alle im Irrenhaus landen. So landen nur jene im Irrenhaus, über die die Natur nicht mit der nötigen Weisheit verfügt hat. Man denke doch, wenn der Mensch sein ganzes Leben lang mit der gleichen Energie lebte wie zwischen zwanzig und vierzig, dann wäre er mit siebzig schon so gefangen in einem Geflecht von Wunden und Verletzungen, daß ihm kein anderer Ausweg bliebe als der Wahnsinn. Deshalb glaube ich, daß es ein Glück ist, schwächer zu werden."
Autorenporträt
Nádas, PéterPéter Nádas, 1942 in Budapest geboren, ist Fotograf und Schriftsteller. Bis 1977 verhinderte die ungarische Zensur das Erscheinen seines ersten Romans "Ende eines Familienromans" (dt. 1979). Sein "Buch der Erinnerung" (dt. 1991) erhielt zahlreiche internationale Literaturpreise. Zuletzt erschienen der große Roman "Parallelgeschichten" und seine Memoiren eines Erzählers: "Aufleuchtende Details". Unter anderem wurde Nádas mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur (1991), dem Kossuth-Preis (1992), dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung (1995) und dem Franz-Kafka-Literaturpreis (2003) ausgezeichnet. 2014 wurde ihm der Würth-Preis für Europäische Literatur verliehen. Péter Nádas lebt in Budapest und Gombosszeg.

Viragh, ChristinaChristina Viragh, geboren 1953 in Budapest, wuchs in der Schweiz auf und lebt heute als Autorin und Übersetzerin in Rom. Sie ist korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Übersetzerin von Péter Nádas, Sándor Márai, Imre Kértesz, Henri Alain-Fournier und anderen. 2012 gewann sie den Preis der Leipziger Buchmesse in der Rubrik "Übersetzungen", den Europäischen Übersetzerpreis und, zusammen, mit Péter Nádas, den Brücke-Berlin-Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.1997

Die Ordnung und das Lamm
Péter Nádas in frühen Erzählungen Von Karl-Markus Gauß

Über zehn Jahre hat Péter Nádas an seinem monumentalen "Buch der Erinnerung" geschrieben. Als der Roman 1986 auf ungarisch und 1989 in deutscher Übersetzung erschien, war Nádas rasch als einer der großen europäischen Erzähler unserer Zeit anerkannt. Im Westen finden sich seither die verlegenen Verleger des Ungarn vor die Betriebsnotwendigkeit gestellt, regelmäßig Bücher ihres prominenten Autors aufzulegen, die dieser so schnell gar nicht schreibt. Und darum wird nun nach und nach auch im Deutschen ein Frühwerk präsentiert, das nur auf schwachen eigenen Beinen steht und die Krücke des Ruhms braucht, der dem Autor später zu Recht zuteil wurde.

Geradezu befremdlich mußte 1996 die deutsche Erstausgabe der Erzählung "Liebe" anmuten: Bald zwanzig Jahre nachdem Nádas darin die Techniken des Nouveau roman etüdenhaft ins Ungarische gewendet hatte und bald vierzig Jahre nachdem der Nouveau roman das letzte Mal im französischen Original zu überzeugen wußte, konnte diese Erzählung einfach nur mehr rechtschaffen langweilen. Spannender ist da schon die Sammlung, die jetzt neun Erzählungen aus den Jahren 1963 bis 1975 vereint und neben Fingerübungen auch ein paar echte Meisterwerke präsentiert. So hätten die beiden umfangreichsten Erzählungen, "Das Lamm" oder "Frau Klaras Haus", jede für sich eine Einzelausgabe verdient, und für solche Entdeckungen sollte man bereit sein, über das eine oder andere literarische Experiment, mit dem der junge Nádas schon vor Jahren recht alt aussah, rasch hinwegzulesen.

Am Rande der Großstadt, auf einer ehemaligen Müllhalde, ist eine Siedlung hochgezogen worden, so öde, wie das in den sozialistischen Aufbaujahren üblich war, und so menschenverachtend, daß nur der alltägliche Bürgerkrieg etwas Spaß verheißt. Kein Haus ist älter als fünfzehn Jahre, und doch gilt einer, Rezsö Roth, als Eindringling, der sich wie die Made im Speck in diesem sozialistischen Idyll festsetzen will. Denn Roth, der Parkwächter, der sich in jeder Lebenslage eine rätselhafte Vornehmheit bewahrt, ist Jude. Das ist im Ungarn der fünfziger Jahre nun nicht gerade ein Verbrechen, dessen man öffentlich geziehen werden könnte; aber der Antisemitismus ist aus den Jahren des Faschismus, da Ungarn an der Seite des Dritten Reiches stand, nahezu uneingeschränkt in den Stalinismus überkommen. Nur ist der Jude jetzt kein Schädling mehr, weil er Jude ist, sondern weil er sich der Gemeinschaft nicht einfügen will. So weigert sich Roth, als sein Haus mit der Aufschrift "Jude" beschmiert wird, diese selber wieder abzuwischen. Derlei Stolz mutet Parteifunktionäre wie Nachbarn als hinterhältige Provokation an.

Die Erzählung, die vom alltäglichen Faschismus in nationalkommunistischem Gewande erzählt, wächst vom düsteren Dokument zum Kunstwerk, weil Nádas das Geschehen aus einer aufregenden Erzählperspektive einfängt. Wie in einigen anderen seiner besten Werke ist es auch in "Das Lamm" ein Pubertierender, der das Geschehen aus seiner unsicheren Position voller Selbstzweifel und narzißtischer Versuchungen deutet. Dieser Heranwachsende fühlt die Verlockung, an der Jagd der Nachbarn teilzuhaben und für jede Enttäuschung des Lebens den stillen Herrn Roth verantwortlich zu machen.

Doch der Konflikt zwischen den wohlanständigen Bestien und dem Außenseiter weckt in dem Jugendlichen auch die Fähigkeit, den Mechanismus der Macht zu durchschauen. Er wird von einer krisenhaften Entwicklung ergriffen, die ihn aus der selbstverständlichen Hinnahme familiärer Machtstrukturen befreit: "Ich ekelte mich vor den Fäusten meines Vaters, und ich ekelte mich vor dem Gekreisch meiner Mutter. Ich ekelte mich, weil mein Vater, dessen Faust die Macht in der Familie darstellte, unbedingten Respekt verlangte, und wenn ich mich bedingungslos auf die Seite der Macht geschlagen hätte, hätte ich meine Mutter aus ganzem Herzen ablehnen müssen. Hätte ich mich hingegen bedingungslos auf die Seite meiner Mutter gestellt, hätte ich meinem Vater die Macht absprechen müssen, und da er mit seinem Verhalten die Ordnung der Welt um mich verkörperte, hätte ich die Weltordnung ablehnen müssen."

Es zählt zu den großen erzählerischen Fähigkeiten von Péter Nádas, daß er Persönliches und Historisches zu überschneiden weiß, ohne daß deswegen etwa zwischen pubertären Nöten und staatlicher Entwicklung schon eine billige Entsprechung hergestellt würde. Viele dieser Geschichten enden düster, aber nicht ausweglos. Denn während die Gesellschaft verroht und den Stalinismus nicht nur erleidet, sondern auch miterschafft, gelingt es dem einzelnen, Distanz zu gewinnen, die Macht zu durchschauen, Würde zu erringen.

Das ist nicht viel? Nádas, der die politische Wende Ungarns zur westlichen Demokratie später nicht dazu benützen sollte, flink in westliches Gewäsch einzutauchen und die Langweiligkeit moralischer Kategorien zu behaupten, zeigt schon in seinen frühen Erzählungen, daß es sehr viel ist.

Péter Nádas: "Minotauros". Erzählungen. Aus dem Ungarischen übersetzt von Hildegard Grosche, Agnes Relle, Christian Polzin und Christina Viragh. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 1997. 303 S., geb., 38,- DM.

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Ein Autor von hohem Rang. Marcel Reich-Ranicki