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Produktdetails
  • Verlag: Beck
  • 3. Aufl.
  • Seitenzahl: 763
  • Erscheinungstermin: 21. Januar 2018
  • Deutsch
  • Abmessung: 220mm x 146mm x 44mm
  • Gewicht: 1032g
  • ISBN-13: 9783406722141
  • ISBN-10: 3406722148
  • Artikelnr.: 50198357
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.05.2006

Beischlaf oder Belletristik
Ein Leben im Roman: Peter-André Alts große Kafka-Biographie

Franz Kafka hat dem zwanzigsten Jahrhundert seine Chiffre aufgedrückt: die des "kafkaesken" K., die Initiale der Namen, welche die Protagonisten seiner drei Romanfragmente tragen, Karl Roßmann im "Verschollenen", Josef K. im "Prozeß", der Landvermesser K. schließlich im "Schloß". Die berühmteste Geschichte wiederum innerhalb von Kafkas Werk ist die sogenannte Türhüter-Legende. Sie erzählt von dem Mann vom Lande, der den Eingang in das Gesetz sucht, schon vom niedrigsten aller Türhüter am Eintritt gehindert wird - "jetzt nicht!" - und, vor dem Gesetz vergeblich auf Einlaß wartend, seinem Tod entgegendämmert.

Diese Geschichte zeigt so etwas wie das leitende Lebensmuster der Moderne: die vom Begehren getriebene Karriere des einzelnen, der im Gesetz seinen Ort, seine Orientierung zu finden hofft und dem das Überschreiten dieser Schwelle nicht gelingt. Die Türhüter-Legende wird von Kafka dann ihrerseits in seinen "Prozeß"-Roman in das Kapitel "Im Dom" eingebettet, in dem Josef K., auf der Suche nach Orientierung in der Stadt und in der Welt, einem Geistlichen begegnet, der ihm die Legende vom Gesetz vorträgt. Es schließt sich ein Gespräch an, in dem Josef K., um Verstehen bemüht, die Legende von verschiedenen Seiten zu deuten versucht und der Geistliche alle diese Deutungen, ja die Möglichkeit einer Deutung überhaupt, strikt zurückweist: "Die Schrift ist unveränderlich", sagt er, "und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber."

Es ist beinahe, als hätte Kafka mit dieser Szene die Leseanweisung für die künftigen Interpreten seiner Schriften gegeben - freilich ohne daß diese sie beherzigt hätten. Im Gegenteil. Obwohl Kafkas Geschichten denkbar einfach sind - sie erzählen von Familienkonflikten, namentlich zwischen Vater und Sohn, von den Bürokratien und Strafapparaten in unserer Welt, und von Tieren, die in die Menschenwelt eindringen -, hat wohl kein Autor der Moderne die Literaturforscher zu so abenteuerlichen, absurden, freilich auch triftigen oder spitzfindigen Thesen und Deutungsmustern herausgefordert wie Kafka. Kaum ein Autor hat so sehr den Gedanken nahegelegt, daß Leben und literarisches Werk miteinander verbunden sind, und kaum einer hat diese Bezüge doch so sorgfältig verwischt. "Der Roman bin ich, meine Geschichten sind ich", gesteht Kafka gegenüber Felice Bauer. Und im Tagebuch von 1912 bekennt er: "Als es in meinem Organismus klar geworden war, daß das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer stehn, die sich auf die Freuden des Geschlechtes, des Essens, des Trinkens, des philosophischen Nachdenkens, der Musik zuallererst, richteten. Ich magerte nach allen diesen Richtungen ab."

Peter-André Alts Kafka-Biographie nimmt, im Gegensatz zu vielen Vorgängerinnen, dieses Dilemma zwischen Lebenerzählen und Werkgeschichte ernst und sucht dem Problem der notwendigen Trennung und gleichzeitigen Verknüpfung von Vita und Kunstwerk durch drei für die Untersuchung grundlegende Thesen beizukommen. Zunächst: Es ist nicht das Leben, das in der Kunst abgebildet wird, sondern es ist umgekehrt die Kunst, die die Prägung des Lebens durch die imaginäre Welt der Poesie leistet. "Das Leben bildet eine Imitation der Literatur." Sodann: Kafka erweist sich als der "ewige Sohn", der seine Furcht vor dem Vater mit obsessiver Lust kultiviert, weil sie für ihn die Bedingung seiner Existenz bildet. "Der Sohn bewältigt sein Leben, wenn er schreibend erfinden darf." Zuletzt: Der Prozeß des Schreibens tritt an die Stelle des künstlerischen Werks und erschafft einen Raum, in dem Phantasie und Realität nicht mehr getrennt werden können. "Das Lebensmaterial gewinnt für Kafka nur Bedeutung im Medium der Schrift."

Das Außergewöhnliche dieser Kafka-Biographie ist wohl dieses: Sie hat, ohne Wenn und Aber, den Mut zur Chronik. Und sie läßt doch daraus den Funken springen, der das Rätsel Kafka in seiner ganzen Verschlungenheit sichtbar macht. Der Leser verfolgt, in synchronen Schritten, die Netzwerke der Kafka- und Löwy-Familien, der väterlichen und mütterlichen Linie. Er beobachtet Kafkas Entwicklung zum Versicherungsjuristen und seine Inspektionen der Fabriken des Industriezeitalters. Er begleitet den Dichter auf seinem Weg durch die großen Ereigniszusammenhänge der Weltgeschichte (namentlich den Ersten Weltkrieg) und lernt ihn als einen kühlen Beobachter seiner Zeit, gewissermaßen als frostigen Ethnologen der eigenen Kultur kennen. Kafkas "Frauengeschichten" (es sind so viele nicht) bilden dabei einen einzelnen, sorgfältig herausgehobenen Strang der Lebensgeschichte.

Es sind Spaltungsgeschichten, die da erzählt werden, heraustretend aus der (verzweifelten) "Befriedigung" des Begehrens "durch Beischlaf oder Literatur", wie Kafka sagt; zögernd zwischen radikaler Literarisierung wie im Briefwechsel zwischen Kafka und der fernen Berliner Geliebten Felice Bauer einerseits und jener Einsamkeit sexueller Lust andererseits, der "solitude" des sexuellen Diskurses, von dem Roland Barthes als der Signatur der Moderne gesprochen hat, in dem sich ein Feld aus Begehren, Angst und Ekel auftut. Und da werden zuletzt, in jedem Kapitel der Biographie, in behutsamer und wohlfundierter Analyse, ganz ohne jeden literaturwissenschaftlichen Jargon, die großen wie die kleinen Texte, die Kafka verfaßt hat, aufgeschlossen - vom wenigzeiligen "Schweigen der Sirenen" bis hin zum Korpus der drei Romane.

Nie war es so schwierig wie heute, noch am Begriff der Lebenskarriere des Subjekts zwischen Alltagsprozeß und schöpferischem Tun festzuhalten. Der Joker in diesem Lebensspiel, für dessen Einsatz die Regeln verlorengegangen sind, ist, als vielleicht letztes Medium, die Kunst; gezeigt werden könnte das Spiel seines Einsatzes (immer noch) in der Künstlerbiographie. Aber sie wird auf Spaltungsgeschichten hinauslaufen, auf den immer wieder scheiternden Versuch, das delikate Verhältnis zwischen Leben und Kunst zu fassen und zu gestalten.

Kafka selbst hat dieses Dilemma scharfsichtig erkannt. "Das Schreiben versagt sich mir", zeichnet er sich auf. "Daher Plan der selbstbiographischen Untersuchungen. Nicht Biographie, sondern Untersuchung und Auffindung möglichst kleiner Bestandteile. Daraus will ich mich dann aufbauen so wie einer, dessen Haus unsicher ist, daneben ein sicheres aufbauen will, womöglich aus dem Material des alten." Es ist Kafkas starkes Interesse für Bildungsromane und ihre negative Form, wie sie Flauberts "L'Éducation sentimentale" verkörpert, das von dieser zwiespältigen Einsicht Zeugnis ablegt. Kafkas Amerika-Roman "Der Verschollene" ist, wie Alt zeigt, eine solche subversive Kontrafaktur des Bildungsromans - und Flauberts "Éducation" war ihm dafür eine bewundertes Vorbild.

Alts Biographie richtet ihr Augenmerk auf den Riß, den Kafka im negativen Modell des Bildungsromans à la Flaubert wahrgenommen hat. Alt verdeutlicht diesen Riß, indem er das biographische, kulturhistorische und poetische Feld im Laufe des Erzählens von Kafkas Leben nicht auseinander ableitet, sondern behutsam, aber entschieden voneinander trennt. Indem er die feinen Haarrisse in der Figur sichtbar macht, gelingt ihm, woran viele Künstlerbiographien scheitern, wenn sie die fatale Gleichschaltung von biographischem Ereignis und literarischem Text, von Lebenskarriere und dichterischer Entwicklung betreiben. So aber leuchten plötzlich Strukturmuster auf, die zwischen Faktischem und Fiktionalem zu vermitteln wissen, gerade ohne Kausalitäten zu suggerieren.

Es gehört zu den Verdiensten Alts, daß er sein Konzept des Leben-Erzählens aus Vorgaben Kafkas selbst gewinnt, der sich zeitlebens mit dem paradoxen Prinzip der Biographie aus der Imagination auseinandersetzte. Im letzten Kapitel seines Buches erzählt Alt eine Geschichte aus Kafkas letzten Lebensmonaten, die seine Lebensgefährtin Dora Diamant überliefert hat. Sie erzählt von einem kleinen Mädchen, das weinend auf der Bank in einem Steglitzer Park saß, weil es seine Puppe verloren hatte. Kafka habe das Kind getröstet und ihm versichert, die Puppe unternehme eine weite Reise, schicke aber nächstens ein Lebenszeichen. In der folgenden Woche schrieb Kafka Briefe und Postkarten, die er dem Mädchen im Park vorlas. Kafka habe sich, so Dora Diamant, entschlossen, den angefangenen "Roman" weiterzuführen und auf diese Weise "den Konflikt eines Kindes" durch "das wirksameste Mittel" zu lösen, "über das er persönlich verfügte, um Ordnung in die Welt zu bringen": durch die Kunst. Ist es hier nicht Kafka selbst, der in Szene setzt, wie es noch möglich ist, Biographien, als eine Konfiguration von Leben und Kunst, zu verfassen? Indem Alt sich dieses Modell zu eigen macht, hat er einen neuen Typus des Leben-Schreibens in der zerklüfteten und schier unermeßlichen Landschaft der Kafka-Literatur geschaffen.

GERHARD NEUMANN

Peter-André Alt: "Franz Kafka. Der ewige Sohn". Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2005. 750 S., 43 Abb., geb., 34,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Zweifelsohne ist Peter-Andre Alt mit dieser Kafka-Biografie "ein großer Wurf" gelungen, frohlockt der Rezensent Oliver Pfohlmann. Nicht zuletzt weil Alt sich darauf verstehe, Oscar Wildes Diktum, dass das Leben auf der Suche nach Gestaltung die Kunst imitiert, für die Kafka-Forschung fruchtbar zu machen und eine erstaunliche, vom Werk ins Leben reichende Dynamik aufzudecken - etwa  zwischen Kafkas Umgang mit Schreibblockaden und der Konfliktbewältigung in seinen Liebesbeziehungen. Darüberhinaus, so der Rezensent, macht Alts Werkbiografie ihrem Anspruch auf Vollständigkeit alle Ehre: "Sie kompiliert souverän die Ergebnisse jahrzehntelanger Forschung und ersetzt ein ganzes Regal an einschlägiger Sekundärliteratur". Zwar müsse Alts stilistische Darreichungsform schon fast als wissenschaftlich dröge bezeichnet werden und gerate insgesamt zum "Exerzitium", doch paradoxerweise entstehe daraus ein höchst lebendiger Kafka. Nur einen kleinen Makel hat der Rezensent entdeckt: Zwar haben die mit Freuds Psychoanalyse arbeitenden "luziden Werkinterpretationen" ihn überzeugen können, doch einem Klischee (wie schon der Titel zeige) habe der sonst so nüchterne Alt nicht entsagen können, dem nämlich des "ewigen Sohns". Besonders zum Tragen kommt dies für den Rezensenten, wenn Alt dem sterbenden Kafka, der zum ersten Mal Prag verlassen hat und in Berlin an der Seite von Dora Diamant befreit losschreibt, seine Emanzipation anscheinend nicht gönnt und Dora prompt zum Mutterersatz erklärt.

© Perlentaucher Medien GmbH
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