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Die Texte, die Franz Kafka in seinem Beruf als Beamter der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Gesellschaft verfasst hat, sind weit mehr als nur biographischer Hintergrund. Denn immer wieder hat er Motive, Konflikte und Sprachformen, die ihm aus dem Büroalltag vertraut waren, für seine literarischen Schöpfungen fruchtbar gemacht. Kafkas Amtliche Schriften bieten somit eine unverzichtbare Grundlage für die Erschließung seines dichterischen Werks. Die Kritische Ausgabe versammelt und erläutert sämtliche Schriften, die Kafka zwischen 1908 und 1922 im Dienst seiner Behörde verfasst oder…mehr

Produktbeschreibung
Die Texte, die Franz Kafka in seinem Beruf als Beamter der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Gesellschaft verfasst hat, sind weit mehr als nur biographischer Hintergrund. Denn immer wieder hat er Motive, Konflikte und Sprachformen, die ihm aus dem Büroalltag vertraut waren, für seine literarischen Schöpfungen fruchtbar gemacht. Kafkas Amtliche Schriften bieten somit eine unverzichtbare Grundlage für die Erschließung seines dichterischen Werks.
Die Kritische Ausgabe versammelt und erläutert sämtliche Schriften, die Kafka zwischen 1908 und 1922 im Dienst seiner Behörde verfasst oder unterschriftlich verantwortet hat: darunter Publikationen aus Fach- und Tagespresse, Texte für öffentliche Vorträge sowie zahlreiche bisher unveröffentlichte Schriftstücke des internen Behördenverkehrs, die erst in den neunziger Jahren wiederentdeckt wurden. Ein ausführlicher Essay von Klaus Hermsdorf zeichnet Kafkas beruflichen Werdegang nach. Schließlich liefert der separate Materialienband eine Vielzahl von Texten, die ein umfassenderes, sozialgeschichtliches Verständnis von Kafkas beruflichen Aufgaben ermöglichen.
Autorenporträt
Kafka, FranzFranz Kafka wurde am 3. Juli 1883 als Sohn jüdischer Eltern in Prag geboren. Nach einem Jurastudium, das er 1906 mit der Promotion abschloss, trat Kafka 1908 in die »Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt« ein, deren Beamter er bis zu seiner frühzeitigen Pensionierung im Jahr 1922 blieb. Im Spätsommer 1917 erlitt Franz Kafka einen Blutsturz; es war der Ausbruch der Tuberkulose, an deren Folgen er am 3. Juni 1924, noch nicht 41 Jahre alt, starb.

Hermsdorf, KlausKlaus Hermsdorf, geboren 1929, studierte Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1974 war er Professor für Geschichte der neueren deutschen Literatur in Greifswald, seit 1979 an der Humboldt-Universität, Berlin; 1992 Neuberufung. Herausgeber der Werke Kafkas in der DDR.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.02.2005

War Kafka Sozialist?
Einsprüche: Die Kritische Ausgabe der "Amtlichen Schriften"

In den Nachtstunden, die er seinem Arbeitstag als Versicherungsjurist abrang, wenn in der elterlichen Wohnung alles schlief, brachte Franz Kafka seine Dichtung im beschwingten Zug seiner Handschrift, gleichsam schlafwandlerisch, wenn auch oft stockend, zu Papier. Er korrigierte und präzisierte ein paar Wortfolgen, strich hier und da ein paar Passagen, dann hatte er den Text vor Augen, schrieb ihn in der nächsten nächtlichen Sitzung weiter oder brach ihn ab und machte sich an einen neuen. In Briefen an Frauen schrieb er nicht weniger beschwingt, oft komödiantisch übertrieben, wie fehl am Platz er sich in seiner Tagesarbeit vorkam.

In dieser Doppelrolle als moderner Dichter und Bürokrat trat Kafka seinen Zeitgenossen Konstantin Kavafis und Fernando Pessoa an die Seite. Wenn er sich aus dem Trübsinn der Lebenswirklichkeit in die Vergeistigung der Dichtung aufschwang, folgte er dem Vorbild Baudelaires, der im Spleen von Paris geschrieben hatte: "Unzufrieden mit allen und unzufrieden mit mir, würde ich gern in der Stille und Einsamkeit der Nacht mein Ansehen wiedergewinnen und mich aufschwingen. (...) Herr mein Gott! gib mir die Gnade, ein paar schöne Verse hervorzubringen, die mir beweisen, daß ich nicht der letzte aller Menschen bin."

Wie verhielt sich diese Dichtung des Aufschwungs thematisch und formal zu den Jahresberichten und Schriftsätzen, die Kafka tagsüber auf Grund von Vorlagen und Akten über die Unfallversicherung der Arbeiter in den böhmischen Handwerks- und Industriebetrieben in die Maschine diktierte, als "anonym" bezeichnete und von seinen Vorgesetzten unterzeichnen ließ? Wirkte sich sein bürokratisches auf sein literarisches Schreiben aus? Läßt dieses eine kritische, vielleicht sogar politische Reflexion über seine Tätigkeit in der Arbeiter-Unfallsversicherungsanstalt erkennen? Seit Klaus Hermsdorf 1984 Kafkas gedruckte "amtliche Schriften" erstmals als Buch herausgab, hat man sich das gefragt.

Zwanzig Jahre später hat nun Hermsdorf, zusammen mit Benno Wagner, diese Schriften und dazu neu entdeckte Schriftsätze, die Kafka sicher oder vermutlich im Amt verfaßte, in einem Band der Kritischen Kafka-Ausgabe auf über tausend Seiten neu herausgegeben. Ein zweiter, fast gleich langer Band mit Materialien über die Arbeiter-Unfallversicherung zu Kafkas Zeiten liegt in Form einer Compact Disc dem gedruckten Bande bei. Hermsdorfs lange Einleitung und Wagners ausführliche Erläuterungen zu den einzelnen Texten stellen Kafkas amtliche Arbeit in allen Einzelheiten dar und geben neue Interpretationen ihres Verhältnisses zu seiner Dichtung vor.

Die österreichische Arbeiter-Unfallversicherung war nicht, wie die deutsche, berufsgenossenschaftlich aufgegliedert und nach dem Umlageverfahren finanziert, sondern umfaßte sämtliche Betriebe eines Reichsteils und beruhte auf dem Kapitaldeckungsprinzip. Sie erforderte daher besonders umfassende Kalküle universaler Vergleichbarkeit der Risiken und langfristiger Vorausberechnungen der Beiträge und Leistungen. Die betriebswirtschaftliche und gesellschaftspolitische Angemessenheit dieser versicherungswissenschaftlichen Systemlogik wurde jedoch von den Betroffenen immer wieder angezweifelt, ja umkämpft.

So wirkte Kafka an der permanenten Auseinandersetzung zwischen einer flächendeckenden, halbstaatlichen Versicherungsbürokratie und einer widerstrebenden Wirtschaft mit, die den Versicherungsprozeß nicht reibungslos funktionieren ließ. Daß die Prager Anstalt, die das gesamte "Königreich Böhmen" unter sich hatte, keine politische Befugnis zur konsequenten Erfüllung ihrer Aufgaben besaß - weder der Gefahrenklassifizierung noch der Unfallverhütung, noch der Inspektion der Betriebe -, machte ihre wesenhafte Schwäche aus.

Ihren Aktionen und Verlautbarungen fehlte die Autorität, die sie auf Grund der Systemlogik ihrer Organisation gegenüber allen Seiten in Anspruch nahm. In seinem ersten großen Bericht, "Umfang der Versicherungspflicht im Baugewerbe" von 1908 legt Kafka diese Logik kompromißlos dar. Doch im Klassenkonflikt einer Industrie, die in Wachstum und Modernisierung begriffen war, mit ihrer Arbeiterschaft ließ sie sich nicht ohne die ständigen Proteste, Prozesse und Kompromisse durchsetzen, von denen die "amtlichen Schriften" handeln.

Die Unternehmer erhoben Einspruch gegen ihre Gefahreneinstufung, befolgten die Sicherheitsvorschriften nicht, hintertrieben die Betriebsinspektionen und hinterzogen die Beiträge. Durch ihre Zahlungsverzögerungen, Ministerialrekurse und Gerichtsverfahren trieben sie Obstruktion. Durch geduldige Verhandlungen und Aufklärungsarbeit suchte die Anstalt sie davon zu überzeugen, daß konstruktive Mitarbeit in ihrem eigenen Interesse läge.

Die neue Ausgabe dokumentiert diese Auseinandersetzungen mit den Unternehmern in allen Verfahrensformen. Dagegen enthält sie kein einziges Zeugnis von Auseinandersetzungen mit Arbeitervertretungen oder einzelnen Arbeitern. Die hohen Zahlen tödlicher Arbeitsunfälle oder Verstümmelungen und die geringen Entschädigungstarife, die die Materialsammlung auf der Compact Disc dokumentiert, taten offenbar der Kooperationsbereitschaft von deren gewählten Repräsentanten in den Aufsichtsgremien der Anstalt keinen Abbruch.

Daß sich die Anstalt immer nur mit Unternehmern, nie mit Arbeitern auseinanderzusetzen hatte, war Kafka klar. Wie seine Rede zum Amtsantritt des neuen Direktors Dr. Robert Marschner vom März 1909 bezeugt, faßte er sie einseitig als Sachwalterin der Arbeiterinteressen innerhalb politisch enggezogener Grenzen auf. Aus einer Äußerung, die Max Brod überliefert, geht hervor, wie kraß er die gesellschaftliche Asymmetrie des Versicherungsprozesses beurteilte. Die Arbeiter "kommen zu uns bitten. Statt die Anstalt zu stürmen und alles kurz und klein zu schlagen, kommen sie bitten", sagte Kafka dem Vernehmen nach.

Kafkas Eingabe "Zur Begutachtungspraxis der Gewerbeinspektorate" von 1911, einer der bisher unbekannten Texte, die in der neuen Ausgabe abgedruckt sind, zeigt die Anstalt auf dem Tiefpunkt ihrer Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den Unternehmern. Kafka gesteht darin die Diskrepanz zwischen ihrer offiziellen Selbstdarstellung und ihrer tatsächlichen Geschäftspraxis unumwunden ein. In seinen Romanen "Der Proceß" und "Das Schloß" hat er eine solche Schwäche, ja Hilflosigkeit der Bürokratie, die alle Beteiligten in endlosen Auslegungen zur perfekten Funktionslogik umzudeuten suchen, ironisiert und dramatisiert.

Daß Kafka seine Berufserfahrung aus der Bürokratie literarisch verarbeitet hat, wird seit langem angenommen. Aber wie? Die bisher ungedruckten Akten von Auseinandersetzungen mit einzelnen Unternehmern, die in der neuen Ausgabe zu lesen sind, liefern neue Argumente zur Beantwortung dieser alten Frage. Sie lassen erkennen, daß Kafka die expressive Widersetzlichkeit der "Parteien", die verbissen gegen die Logik des Versicherungsprozesses argumentieren, von Unternehmern auf arbeitende Subjekte übertrug, die gebildet genug sind, um ihre Interessen wortgewaltig, aber fehlgeleitet und daher schließlich erfolglos zur Geltung zu bringen.

Die beiden Hauptfiguren von "Proceß" und "Schloß", ein Bankprokurist und ein Landvermesser auf Stellungssuche, treten Gerichts- und Verwaltungsorganisationen entgegen, die sie einerseits bedrohen, andererseits von sich fernhalten, so daß ihnen die Konfrontation, die sie suchen, nie gelingt. Doch ebendeshalb bleiben jene Organisationen für die Beurteilung ihrer Fälle auf den immer komplexeren Selbstlauf interner Mechanismen angewiesen, statt aus Erfahrung handeln zu können. Mysteriöse Vermittlungsfiguren in untergeordneten Stellungen befördern dieses dysfunktionale Verfahren durch unsichere Botschaften und bizarre Erklärungen.

Im "Proceß" wird der Bankbeamte zu einer Voruntersuchung in einem Arbeiterquartier einbestellt, die ihm wie eine "politische Bezirksversammlung" - erst hatte Kafka "socialistische Bezirksversammlung" schreiben wollen - vorkommt und in der sich die "höheren Klassen" verantworten müssen. Im "Schloß" läßt sich der arbeitssuchende Landvermesser darauf ein, als Arbeiter eingestuft, das heißt benachteiligt und gedemütigt zu werden, und unterliegt deshalb im Arbeitskampf um eine Anstellung, die seiner Qualifizierung angemessen wäre und die man ihm versprochen hat.

In den Jahren 1917 bis 1922, als Revolutionen und Revolutionsversuche kommunistischer Arbeiterbewegungen in Ost- und Mitteleuropa niedergeschlagen wurden, schrieb Kafka eine Reihe von Grotesken über vergebliche Versuche von Arbeitern, durch Eingaben, Vorstellungen, ja Aufstände im Klassenkampf zu bestehen. Sie gipfeln in dem grimmigen Manifest einer Selbstorganisation der "besitzlosen Arbeiterschaft", die nur durch den Verzicht auf ein normales Leben funktionieren kann, und in dem revolutionären Aufruf eines Büroangestellten, der "fünf Kindergewehre" besitzt, an seine Mitbewohner in einer Arbeitermietskaserne, von denen er voraussetzt, daß sie ihm nicht folgen werden.

"Ich kann meiner Natur nach nur ein Mandat übernehmen, das niemand mir gegeben hat. In diesem Widerspruch, immer nur in einem Widerspruch kann ich leben", schrieb Kafka in einem Fragment. Hing er anarchistischen oder sozialistischen Ideen nach, wie seit Klaus Wagenbachs Biographie von 1958 auf Grund unsicherer Zeugnisse oft behauptet wird, zuletzt von Michael Löwy in seinem Buch "Franz Kafka: Rêveur insoumis" (Ed. Stock, Paris 2004)? Wenn ja, wären sie nur in seiner Dichtung zum Tragen gekommen.

Denn anders als Kavafis und Pessoa nahm Kafka die Denkform seiner bürokratischen Arbeit in seine Dichtung mit. Der Antagonismus zwischen Bürokratie und Subjekt gab dem existentiellen Umschwung vom amtlichen zum literarischen Schreiben, dem Aufstieg aus Trübsinn in Vergeistigung, den thematischen Rahmen vor. Hier stilisierte Kafka das unermüdliche Räsonieren gegen die Autorität dysfunktionaler Systeme zu einer existentiellen Grundhaltung, die den Arbeitskonflikt transzendiert und in alle Bereiche jener "Welt" ausgreift, von der er sicher war, daß er sie in sich trug.

Wenn Hermsdorf in seiner Einleitung und Wagner in seinen Kommentaren Kafkas amtliche und literarische Schreibweisen miteinander zu vereinbaren suchen, entgeht ihnen die Dialektik dieser Transzendenz der Bürokratie in die Literatur. Mit seinen Diskursanalysen im Gefolge von Foucault, Deleuze und Guattari stellt Wagner eine "unmittelbare Intertextualität" zwischen beiden fest. So kann er Kafkas Dichtungen als "Kafkas literarische Akten" apostrophieren, während Hermsdorf sie die "wahren, nämlich wahrhaftigen Amtsschriften Franz Kafkas" nennt. Trotz solcher äquivokatorischer Kurzschlüsse tragen die analytisch differenzierten Erläuterungen beider Herausgeber auf ihre Weise zur Entmystifizierung von Kafkas Dichtung bei, die seit geraumer Zeit im Gange ist.

OTTO KARL WERCKMEISTER

Franz Kafka: "Amtliche Schriften". Herausgegeben von Klaus Hermsdorf und Benno Wagner. Mit einer CD-ROM. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004. 1024 S., geb., 178,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.07.2004

Viel Ärger mit den Holzkurzwarenerzeugungen
Franz Kafkas amtliche Schriften in kritischer Edition sind ein Fall für Verwaltungswissenschaftler
„Diesen Berichten war es vielmehr gelungen, alle Hoffnungen auf die Zukunft der Anstalt zum Schweigen zu bringen; die Anstalt schien einfach ein toter Körper, dessen einzig Lebendiges sein wachsendes Defizit war.” Die Rede ist nicht etwa von den Rechenschaftsberichten der Bundesanstalt für Arbeit, von welchen der im Juli 2003 veröffentlichte ein Defizit von 5,2 Milliarden Euro für die erste Jahreshälfte auswies. Vielmehr bezieht sich das Zitat auf die Jahresberichte der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt (AUVA) für das Königreich Böhmen bis zum Jahr 1909.
Krisen, so scheint es, sind im Sozialversicherungswesen nicht Akzidenz, sondern Substanz, und nicht Zufall, sondern Notwendigkeit. Sie erfüllen Funktionen sowohl für die Institutionen, die sie nutzen, erst recht ihre Unentbehrlichkeit herauszustreichen - wohin fiele die Nation denn gar ohne die ,sozialen Netze‘? -, wie für die verantwortlichen Individuen in ihnen, denen sie Gelegenheit geben, sich als Lenker und Retter ins rechte Licht zu setzen. Dass die Erinnerung daran nicht Geheimnis der Sozialhistoriker bleibt, verdanken wir der Autorschaft des zitierten Artikels aus dem Jahr 1911: er stammt von Franz Kafka. Der promovierte Jurist war am 30. Juli 1908 von der Prager AUVA zunächst als Aushilfsbeamter eingestellt worden; nach einer passablen Karriere innerhalb der Behörde wurde Kafka im Juni 1922 seines schlechten Gesundheitszustands halber in Frühpension geschickt.
Die Dokumente seiner Tätigkeit als Versicherungsjurist, Kafkas bürokratisches Werk gleichsam, hat der Literaturforscher Klaus Hermsdorf 1984 im Akademie-Verlag Berlin (DDR) herausgegeben; in einer von ihm gemeinsam mit Benno Wagner erarbeiteten, deutlich umfangreicheren Fassung schließt der Band nun S. Fischers kritische Ausgabe der Schriften, Tagebücher und Briefe ab. Dass eine Edition dieser Art eher schwieriger zu erstellen ist als eine solche literarischer Texte, liegt nicht zuletzt an der Verfahrensweise bürokratischer Hierarchien, in welchen der jeweils Vorgesetzte das von seinen unmittelbaren Untergebenen Geschriebene sich aneignet, indem er es verantwortet: Was Kafka abzeichnete, hat er nicht verfasst; manches hingegen, was der Direktor der AUVA unterschrieb, hat Kafka zum Autor.
Edition wird unter solchen Umständen zum Indizienprozess. Diesen Prozess haben Hermsdorf und Wagner in ihrer wohlkommentierten Edition durchweg nach nachvollziehbaren Kriterien geführt. Worin aber liegen die inhaltlichen Meriten der Ausgabe, über alle philologischen hinaus? Denn dass jemand freiwillig Akten lesen werde, liegt nicht auf der Hand. Kaum hat die literarische Öffentlichkeit ja mit angehaltenem Atem darauf geharrt, sich mit dem Stand der Mahnungen und Strafanzeigen wegen Nichteinsendung der Beitragsrechnung im zweiten Halbjahr 1914 in Humpoletz (Böhmen) bekannt zu machen. Ergibt sich über dergleichen hinaus durch Hermsdorfs und Wagners Ausgabe ein neues Bild Kafkas? Wie etwa reagierte der sensible Mann auf die Schrecken des Weltkrieges, die schließlich auch die Versicherungsbüros erreichten, wie immer indirekt und gefiltert?
Ein Artikel im Prager Tagblatt vom 16. Dezember 1916 scheint zu belegen, dass Kafka in den militärischen Unternehmungen der Obrigkeit ein schlagendes Argument dafür sah, die Untertanen hätten mehr Opferbereitschaft an den Tag zu legen: „Man soll den Begriff des Staats nicht von dem der Gesamtheit seiner Bürger trennen. Der Krieg hat uns klar gezeigt, dass wir alle der Staat sind, dass keiner von uns fremd gegen den Staatsbegriff steht, dass ein Erfolg des Staates ein Erfolg jedes einzelnen von uns ist, dass ein Schlag, der ihn trifft, von jedem von uns gleich eindringlich empfunden wird.” Woraus folge: „dies ist ein Aufruf zur Pflichterfüllung. Er wird nicht vergebens sein, dafür zeugen die vielen schönen Beweise patriotischer Empfindung, welche die Bevölkerung bei anderen im Dienste der Kriegsfürsorge stehenden Sammlungen gegeben hat. Gewiß ist es auch nur in diesem Falle notwendig, auf die Wichtigkeit und den patriotischen Gehalt der angestrebten Ziele, sowie auf die Unerläßlichkeit der privaten Opferfreude hinzuweisen, um einen vollen Erfolg zu erzielen. Millionen sind notwendig.”
Die Metaphysik der Verwaltung
Derart demokratisch können Monarchien sein, sobald es um Opfer geht; zumindest dies haben Demokratien von ihnen gelernt. Es wäre indes verfehlt zu glauben, wir erhielten aus Dokumenten wie dem Tagblatt-Aufruf überraschende Einblicke in die persönlichen Überzeugungen des im August 1914 vom Kriegsdienst freigestellten Schriftstellers. Und es liegt den Herausgebern auch durchaus fern, den Lesern derlei weiszumachen. Nicht Meinungsäußerung des Individuums Franz Kafka ist, was in jenem Artikel steht, sondern Ausdruck einer Funktion der Anstalt. Deren bürokratische Logik erweist sich aber bei näherem Hinsehen als alles eher denn uninteressant. Denn sie leitet in Kafkas Texten zu einer wahren Metaphysik der Verwaltung, in welcher sich, als was etwas zu klassifizieren ist, wie eine zweite Wirklichkeit über das legt, was es ist: „Der Durchführung der Versicherung dieser Betriebe” - der Betriebe der Holzspielwarenerzeugung im Erzgebirge - „stellten sich zwei Hauptschwierigkeiten entgegen: Die Betriebe, um die es sich hier handelt, befassen sich mit der Erzeugung von Kinderspielzeug, wie Kubusspielen, Baukästen, Dominospielen, Damenbrettern, Kassetten, Sparkassen, Kindergewehren, Klavieren, Festungen, Theatern, Federkästen, Schreibutensilien, Leiterwagen, Reifen, Küchengeräten, Kaufläden, Ställen, Puppenmöbeln und Malkästen. An und für sich sind es allerdings Holzkurzwarenerzeugungen und sie wurden auch als solche von den Gewerbeinspektoren bezeichnet und so von der Anstalt eingereiht. Diese Einreihung war aber zu hoch, weil es sich nicht um Holzkurzwarenerzeugung im Sinne der Einreihungsverordnung handelte.”
Solche Stellen, ganz wie die eingangs angeführte vom negativen Wachstum toter Institutionen, tragen nichts bei zur Psychologie der Person Franz Kafkas, an der sich vielleicht ohnehin bereits zu viele Kammerdiener versucht haben, Entscheidendes hingegen zur Erkenntnis seines literarischen Werkes, das durchwirkt ist von Denkfiguren der Unfallversicherung, keineswegs nur in den offensichtlichen Fällen, wie dem des 1917 entstandenen Erzählfragments „Beim Bau der chinesischen Mauer”. Für die künftige interdisziplinäre Erforschung des Werks Franz Kafkas möge die Deutsche Forschungsgemeinschaft keine Theologen und Psychoanalytiker mehr bezahlen, sondern Verwaltungswissenschaftler und Versicherungsmathematiker.
ANDREAS DORSCHEL
FRANZ KAFKA: Amtliche Schriften. Mit Materialien auf CD-ROM. Herausgegeben von Klaus Hermsdorf und Benno Wagner. Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. S. Fischer, Frankfurt am Main 2004. 1024 Seiten, 178 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Auch wenn sich Klaus Hermsdorfs und Benno Wagners Unternehmen einer Kritischen Ausgabe der "Amtlichen Schriften" Franz Kafkas zunächst nach einer trockenen Lektüre anhört, kann sie Andreas Maier uneingeschränkt empfehlen, auch und gerade Kafka-Amateuren. Denn mit den Stücken, die Kafka als "Concipist" für die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt des Königreichs Böhmen in Prag erstellte, werde eine bisher eher unbekannte, aber sehr prominente Seite von Kafkas Existenz gegenwärtig, der einen Großteil seines Tages in der riesigen Behörde verbrachte. Irgendwann könne sich der Leser diesen "Monsterapparat" sehr anschaulich vorstellen. Der Rezensent kann sich nun auch vorstellen, wie Kafka "Der Prozess" schreiben konnte, wo der Held schließlich in der Bürokratie untergeht. Zudem verstecken sich in den 1024 Seiten viele "Trouvaillen", etwa die "Unfallverhütungsmaßregel bei Holzhobelmaschinen", in der Maier sogar die "herrlich luziden Kafka-Satzperioden" erkannt haben will.

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