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Schätzungen zufolge überlebten etwa 180.000 zwischen 1935 und 1944 geborene jüdische Kinder den Holocaust. Einige waren versteckt oder mit Kindertransporten in Sicherheit gebracht worden, andere wurden von alliierten Truppen aus Konzentrationslagern befreit. Nach 1945 ging man davon aus, sie würden das Erlebte rasch überwinden oder schlicht vergessen, schließlich hätten sie ja »Glück« gehabt. Ihre Erinnerungen galten als weniger authentisch; in der Forschung spielten sie lange nur eine marginale Rolle. Erst in den letzten Jahren haben sie Anerkennung als Überlebende und Zeuginnen…mehr

Produktbeschreibung
Schätzungen zufolge überlebten etwa 180.000 zwischen 1935 und 1944 geborene jüdische Kinder den Holocaust. Einige waren versteckt oder mit Kindertransporten in Sicherheit gebracht worden, andere wurden von alliierten Truppen aus Konzentrationslagern befreit. Nach 1945 ging man davon aus, sie würden das Erlebte rasch überwinden oder schlicht vergessen, schließlich hätten sie ja »Glück« gehabt. Ihre Erinnerungen galten als weniger authentisch; in der Forschung spielten sie lange nur eine marginale Rolle. Erst in den letzten Jahren haben sie Anerkennung als Überlebende und Zeuginnen gefunden.

In ihrer beeindruckenden Studie folgt Rebecca Clifford diesen sehr jungen Überlebenden auf ihren Wegen aus den Trümmern des Krieges ins Erwachsenenalter. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage: Wie können Menschen ihrem Leben einen Sinn abgewinnen, wenn sie nicht wissen, woher sie kommen? Wenn sie die Angehörigen verloren haben, die ihnen dabei helfen könnten, ihre fragmentierten Kindheitserinnerungen einzuordnen? Clifford wertet Archivmaterial und Oral-History-Interviews aus und bringt unerwartete und schockierende Geschichten ans Licht. Ihre Befunde zwingen uns, unsere Annahmen über die Folgen von Traumata und die Natur des Gedächtnisses zu revidieren.
Autorenporträt
Rebecca Clifford, geboren 1974 in der kanadischen Provinz Ontario, promovierte an der Oxford University und ist Professorin für Modern European History an der University of Swansea in Wales. Stephan Gebauer arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren als freier Übersetzer. Für den Suhrkamp Verlag übersetzte er unter anderem Werke von Paul Mason, Quinn Slobodian und Branko Milanovi¿ ins Deutsche.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension

Rezensent Marc Reichwein nimmt viel mit aus Rebecca Cliffords Fallstudien über Kinder des Holocaust. Die kanadische Historikerin hat im Rahmen einer Studie Zeitzeugen unter 12 Jahren interviewt und ermöglicht in ihrem Buch damit einen breiten Einblick in die Erinnerungskultur dieser von der Forschung lange Zeit vernachlässigten Opfergruppe, erklärt Reichwein. Ihr Verweis auf die schwierigen, wechselseitig individuellen und sozialen Aspekte dieser Erfahrungen und das Aufzeigen emanzipatorischer Wege aus der Opfergruppe heraus machen dieses Buch für den Rezensenten sowohl facettenreich als auch erhellend und er glaubt, dass dies ein Standardwerk der Holocaustforschung werden könnte.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.07.2022

Leben
nach dem Horror
Rebecca Cliffords einfühlsames Buch über Traumata
von Menschen, die als Kind dem Holocaust entkamen
VON ANNETTE EBERLE
Leora überlebte den Zweiten Weltkrieg als kleines Mädchen, versteckt von einer Bäuerin in Frankreich. Sie erinnert sich, dass die Frau sehr arm war, dass sie gemeinsam hungerten und froren, wenn es Winter wurde. Und sie weiß, dass sie einander zugetan waren. Nach Kriegsende wurde Leora – wie viele andere gerettete Kinder – von ihrer Beschützerin getrennt. Diesem persönlichen Verlust sollte ein für ihr zukünftiges Leben noch ungeheuerlicherer folgen. Sie wusste ihren Namen nicht, und niemand konnte ihr helfen. Es gab keine Hoffnung für sie, ihre Eltern, die vielleicht noch am Leben waren, ihre Geschwister oder Angehörige zu finden. So war und blieb sie ein „aus dem Nichts gekommenes“ Kind.
Dank des Buches von Rebecca Clifford, geschrieben auch in Erinnerung an ihre Mutter Julia, geboren 1944 in Budapest, wird diese Geschichte von Leora gemeinsam mit den Erinnerungen all derer, die als Kinder den Holocaust überlebten, als eine kollektive Geschichte erzählt. Clifford stellt die jüngsten unter ihnen vor, geboren zwischen 1935 und 1944. Auf der Basis von mehr als 50 Interviews und biografischen Recherchen in Fallakten von Hilfsorganisationen wird ihr Leben mit einer Kindheit, die im Holocaust ihren Anfang nahm, Kapitel für Kapitel entwickelt.
Gegen sie richteten sich die Mordaktionen als Erstes, denn mit ihnen sollte die Zukunft des jüdischen Volkes vernichtet werden. Fast zynisch mutet es an, dass sie lange nicht als Opfer des Holocaust galten. Vorherrschend war die Annahme, auch seitens der erwachsenen Überlebenden, dass diese Kinder aufgrund ihres Alters noch nicht die Schrecken der Verfolgung realisiert hätten, auch wenn sie diese unmittelbar erlebt hatten.
Da diese von Clifford ausgewählte Gruppe der sehr jungen Kinder, wenn überhaupt, meist nur eine verschwommene Erinnerung an die ersten Jahre ihres Lebens hat, ist es vor allem ein Buch über die Suche nach der eigenen Identität: Wie kann es gelingen, dem eigenen Leben einen Sinn abzugewinnen, wenn man keinerlei Gewissheit hat, woher man kommt? Was bedeutet es, diese Splitter der Vergangenheit mühsam zu suchen und zusammenzusetzen, um zu verstehen, wer man ist?
Diese Suche erstreckte sich auf das gesamte weitere Leben, auf das Erwachsenwerden, ihre Ausbildung, auf Beruf und Ehe, auf eigene Elternschaft und schließlich auf das Alter. Prägend für vielfache Wendungen in dieser Suche war immer auch die sich verändernde gesellschaftliche Haltung gegenüber Verfolgten und Opfern des Holocaust.
Dass man bis heute nur von 180 000 Kindern und Jugendlichen weiß, die den Mord an den europäischen Juden überlebten, spricht Bände über die Randstellung von ihnen als Opfergruppe. Diese Zahl bezog sich ausschließlich auf die vom Jewish Joint Distribution Committee (JDC) ermittelte Anzahl der von Hilfsorganisationen betreuten Kinder und wurde seitdem nicht mehr durch neuere Forschungsbefunde korrigiert. Ihre Überlebenschancen hingen vor allem auch davon ab, ob sie aus Ost- oder Westeuropa stammten und welchen Orten der Verfolgung sie ausgesetzt waren. So überlebten elf Prozent der jüdischen Kinder in Gesamteuropa, in Polen aber nur etwa drei Prozent. Ghettos zählten ab dem Beginn der großen Deportationswellen in die Vernichtungslager zu den gefährlichsten Orten. Von den insgesamt 51 458 Kindern unter zehn Jahren im Warschauer Ghetto überlebten lediglich 498 die ab 22. Juli 1944 einsetzenden Massendeportationen.
Welche Erlebnisse hinter der skizzierten quantitativen Dimension lagen, zeigt Clifford am Beispiel von vier für die Kriegserlebnisse der Kinder charakteristischen Wegen des Überlebens auf: Überleben in einem Versteck, Flucht in ein neutrales oder von den Alliierten kontrolliertes Land, Überleben in Ghettos und Durchgangslagern und Überleben in Konzentrationslagern, wie in Theresienstadt, Auschwitz oder Buchenwald. Und oft überlagerten sich diese Wege.
Anhand vieler einzelner biografischer Skizzen gelingt es der Autorin anschaulich, die – insbesondere im deutschsprachigen Raum – weitgehend unbekannte Geschichte der jüdischen Hilfsorganisationen und der sie prägende Fürsorgerinnen, Sozialarbeiterinnen, Kinderpsychologinnen und Ärzte zu erzählen. So würdigt Clifford mit der Erinnerung an die 21-jährige Marianne Cohn, die auf dem Weg mit einer Gruppe von Kindern in die rettende Schweiz im Mai 1943 in den französischen Alpen verhaftet und in den Händen der Gestapo erschlagen wurde, auch die bis heute unbekannten mutigen Retter und Retterinnen. Nach Kriegsende erreichten die Hilfsorganisationen mit ihrem Netzwerk an Heimen, Hilfen in den DP-Lagern und der Vermittlung von Adoptionen weltweit etwa 120 000 der überlebenden Kinder.
Sie sahen sich mit ihren Programmen auch als Beschützer vor drohender Kriminalisierung. Dieser Anspruch fußte in dem auch von der frühen Berichterstattung beschworenem Bild der Kriegswaisen als „Wolfskinder“, die infolge der unmenschlichen Gräuel jegliches moralische Empfinden verloren hätten. Die Therapiekonzepte zielten darauf ab, die Kinder in einen psychischen, emotionalen und moralischen Normalzustand zu überführen, um damit die mentale Rehabilitation einzuleiten.
Clifford zeichnet anschaulich nach, wie nach und nach diese rein pathologische Sicht auf die Kinder verschwand und das professionelle Verständnis über die psychologischen Wirkungen kindlicher Kriegserfahrungen wuchs. Gleichzeitig veränderte auch die zunehmende gesellschaftliche Thematisierung des Holocaust ihren eigenen Umgang mit den frühen Kindheitserinnerungen, bis weit in ihr Erwachsenenleben hinein. Doch dies war aus Sicht der Kinder immer auch ein Kampf und kein Prozess auf Augenhöhe. Clifford spürt in den Gesprächen immer wieder der Kluft zwischen den Anforderungen der Erwachsenenwelt und den Bedürfnissen der Kinder als eigenständige Akteure und handelnde Subjekte nach.
Sehr aufschlussreich ist etwa die Analyse über die scheinbar konträren Erinnerungen daran, ob sie über ihre schrecklichen Kriegserlebnisse sprechen konnten oder ob diese beschwiegen wurden. So zeugen die Aufzeichnungen der Kindertherapeutin Alice Goldberger davon, dass sie in dem von ihr geleiteten Kinderheim Weir Courtney in England, angeregt von neuen psychoanalytischen Therapieformen, das Erzählen der Kinder über das Erlebte immer wieder anregte und förderte. Dagegen erinnern Überlebende, die in dem Heim waren, dass sie dort zum Schweigen angehalten wurden. Clifford identifiziert hier als einen Grund, dass die therapeutische Absicht sich gegen die Bedürfnisse der Kinder richtete: Ziel war es, das Erlebte schnell hinter sich zu lassen, um auch leichter in eine Adoption oder zu noch lebenden Angehörigen vermittelt zu werden. Die Kinder waren auf der Suche nach Geborgenheit und Trost in dem Wissen, dass sie mit ihren Kriegserlebnissen eine gemeinsame Geschichte hatten.
Gerade dieser Fokus auf der Selbstbehauptung der bislang weitgehend unbekannten Opfergruppe der jüngsten der überlebenden Kinder, die heute als letzte noch lebende Zeugen des Holocaust gewürdigt werden, macht die Stärke des Ansatzes von Clifford aus. Offen bleibt lediglich der Wunsch, dass die Interviewbasis auf Überlebende in Osteuropa erweitert worden wäre. Denn es gelingt Clifford in einzigartiger Weise, Begriffe wie Trauma, Überleben und Schweigen auch mit Blick auf den heutigen Umgang mit Kriegs- und Gewalterfahrungen von Kindern zu hinterfragen.
Annette Eberle ist Historikerin und Erziehungswissenschaftlerin. Sie lehrt an der Katholischen Stiftungshochschule München.
Es geht in den Interviews
um die Suche nach Identität
und um Selbstbehauptung
Rebecca Clifford:
„Ich gehörte nirgendwohin.“ Kinderleben nach dem Holocaust.
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
447 Seiten, 28 Euro.
E-Book: 23,99 Euro.
Erinnerung an eine gestohlene Kindheit: Handschuhe einer Überlebenden in der Gedenkstätte Ravensbrück; Fotos jüdischer Kinder im DP-Camp Föhrenwald bei Wolfratshausen.
Fotos: Hartmut Pöstges, Julian Stratenschulte/dpa
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»Indem die Zeithistorikerin Clifford auf ... diffizile, wechselseitig individuelle und soziale Aspekte von Erinnerungskultur hinweist und indem sie gleichzeitig den Weg der Emanzipation einer bislang unterbelichteten Opfergruppe nachzeichnet, hat sie ein außergewöhnlich facettenreiches und gerade in seinen Nuancen erhellendes Buch geschrieben.« Marc Reichwein DIE WELT 20220719