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Jüdische Überlebende deutscher Sprache in Montréal. Dieses Buch dokumentiert die Lebenswege einiger der letzten deutschsprachigen Überlebenden des Holocaust, die sich in Montréal/Kanada niedergelassen haben. Im Mittelpunkt steht das Verhältnis der jüdischen Überlebenden zur deutschen Muttersprache als eine Thematik, in der sich Opfergeschichte und Tätergesellschaft treffen. Kein Kapitel der deutschen Geschichte ist so vom Mißbrauch der Sprache geprägt worden wie das Dritte Reich. Die befragten Emigranten haben mit der erzwungenen Trennung von Deutschland und Österreich auch einen…mehr

Produktbeschreibung
Jüdische Überlebende deutscher Sprache in Montréal. Dieses Buch dokumentiert die Lebenswege einiger der letzten deutschsprachigen Überlebenden des Holocaust, die sich in Montréal/Kanada niedergelassen haben. Im Mittelpunkt steht das Verhältnis der jüdischen Überlebenden zur deutschen Muttersprache als eine Thematik, in der sich Opfergeschichte und Tätergesellschaft treffen. Kein Kapitel der deutschen Geschichte ist so vom Mißbrauch der Sprache geprägt worden wie das Dritte Reich. Die befragten Emigranten haben mit der erzwungenen Trennung von Deutschland und Österreich auch einen linguistischen Schnitt vollzogen und die deutsche Sprache aus ihrem Leben verbannt. Dreissig, vierzig Jahre später jedoch haben sie aus verschiedenen Gründen ihre Herkunftsländer besucht und, nach anfänglichen schmerzhaften Widerständen, wieder Deutsch gesprochen. Heute ist es ihre Lieblingssprache, und das Verhältnis zur deutschsprachigen Kultur ist von Nostalgie geprägt. In den Gesprächen mit den Überlebenden kommt das alte Mitteleuropa auf der geistigen Landkarte zum Vorschein. In ihren Erinnerungen sind Reiserouten und Fortbewegungsmuster zwischen Berlin, Prag, Wien und Amsterdam eingezeichnet, die mit dem Zweiten Weltkrieg und der Ära des Eisernen Vorhang verloren gegangen sind. Sie bekommen mit der jetztigen Erweiterung der Europäischen Union eine aktuelle Brisanz.Es sind meist Porträts von Überlebenden, die vor 1939 emigrieren konnten und von Überlebenden, die sich noch während des Krieges in Deutschland oder Österreich befanden. An Exilstationen werden England, Belgien, Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Kuba, Shanghai und Palästina vorkommen.Die Gespräche wurden geführt mit: Judy Rosenberg; Ellen Joachim; Leo Rosshaendler; Ursula Feist; Sessi Jakobovits; Ruth Perlstein; Jack und Elke Perlstein
Autorenporträt
Verena Stefan, geboren 1947 in Bern, gest. 2017 in Montreal. Autorin, Übersetzerin und Dozentin für kreatives Schreiben, wurde 1975 mit dem Prosaband Häutungen international bekannt. Es folgten u.a. Es ist reich gewesen (1993) und Rau, wild & frei. Mädchengestalten in der Literatur (1997) und ihr Roman Fremdschläfer (2007).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2011

Die Jeckes
schmettern Choräle
Juden, die nach Kanada flüchteten,
erzählen ihr zersplittertes Leben
Ellen Dienemann ist noch sehr jung, als sie ihre große Liebe Joe Farren, Multimillionär und Besitzer eines der größten Nachtklubs in Shanghai, kennenlernt und ins schillernde Nachtleben eintaucht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Shanghai die wohl abenteuerlichste Stadt der Welt, berühmt und berüchtigt, mit mehr als einer Million Einwohner internationaler Herkunft – und sie ist, neben der dominikanischen Republik, ein Zufluchtsort für Juden, nachdem 1938 die westlichen Staaten die Einwanderungsquoten einfroren – bis auch hier im August 1939 die Türen verschlossen werden.
Ellen erreicht Shanghai mit ihrem Vater und ihrer Stiefmutter im April 1939, da ist sie achtzehn. Sie musste sich zuvor von ihrer geliebten Schwester trennen, die nach England emigrierte; sie stürzt sich in Arbeit und Ablenkung, obwohl sie auch hier bald nicht mehr sicher ist, die Herrschaft der Japaner ist unberechenbar, jederzeit kann man in ein Bajonett hineinlaufen und den Kopf verlieren. 1942 verhaften sie Joe, der stets alles tat, um den Flüchtlingen zu helfen, ihre große Armut und den Hunger zu lindern. Ellen erfährt es von einem Freund. „Drei Tage später ruft er mich an und sagt: Ellen, sie haben ihn ermordet. Sie haben ihm die Kehle durchgeschnitten.“ Sie landet schließlich in Montreal, Kanada. Wie viele andere deutsche Juden.
Mit sieben von ihnen haben die Schriftstellerin Verena Stefan und der Schriftsteller Chaim Vogt-Moykopf in den letzten fünf Jahren lange Gespräche geführt, die sie zu Lebensgeschichten geformt und nun veröffentlicht haben. Die Interviews fanden hauptsächlich in deutscher Sprache statt. Das hat, schreibt Stefan, Erinnerungen lebendig gemacht, die in der englischen Sprache verborgen geblieben wären. Ein langer Prozess sei dieses Erinnern und Erzählen gewesen, schmerzhaft, überraschend, heilsam.
Die deutsche Sprache, das war immerhin das Einzige, was die Vertriebenen von ihrem Kulturgut mitnehmen konnten, das sie aber in Kanada nicht gebrauchen konnten und auch meist gar nicht wollten. Sie gerieten in Kanada als „Jeckes“ – wie deutsche Juden oft genannt werden – zwischen Stühle und Bänke: jüdisch und zugleich deutsch zu sein, hat sie doppelt stigmatisiert. Das Buch „Als sei ich von einem anderen Stern“ erschließt nun einen Teil der vielfältigen Identitäten, die sich zwischen verlorener Heimat, Flucht und neuem Leben im fremdsprachigen Exil ereignet haben.
Der während des Kriegs geborene Jack Perlstein erzählt, wie sie als Jeckes in Kanada nicht in die französische Schule durften, sondern zu den anglophonen Protestanten geschickt wurden. Seine Klasse bestand fast vollzählig aus Juden – nichtsdestoweniger hatten sie das gesamte protestantische Programm abzuspulen: „Das muss man sich mal vorstellen. Dreiundreißig Juden schmettern tagein, tagaus ,Vorwärts wackere Christen / als Soldaten in den Krieg / mit dem Kreuz von Jesus / gegen den Feind bis zum Sieg.‘“
Perlstein ist als abenteuerlustiger junger Mann später durch ganz Europa gereist, bis er 1968 in Kiel Elke sieht, um sie wirbt und heiratet. Und erkennt, dass er ganz und gar Kanadier ist, und Jude. Die vielfältigen Selbstverständnisse der Jeckes reichen von diesem zu jenem Leo Rosshaendlers, der sein Jüdischsein als reinen Zufall betrachtet und selbst wenig damit verbindet, über das von Judy Rosenberg, die als „Mischling“, wie Kinder mit nur einem jüdischen Elternteil genannt wurden, zu beiden religiösen Traditionen Bezüge hat, bis zu Sessi Jakobowits, die sich als „Bat-Thora“, als Tochter der Thora bezeichnet und streng nach den jüdischen Geboten lebt und mit Deutschland komplett gebrochen hat.
Es bleiben zerstückelte Narrative. So, wie eben die Familien auseinandergerissen, Identitäten verletzt, gespaltet und ausgelöscht wurden. Ihre Eindrücklichkeit gewinnen diese Zeugnisse nicht zuletzt dank der mühelos changierenden Form zwischen erzählendem, mit historischen Fakten angereichertem Gesprächsbericht durch die Herausgeber und die Ich-Erzählung der Interviewten. Trotz der Kürze erhält man eine Ahnung der Intensität dieser Leben, der großen Verluste, der äußersten Nöte, der erlittenen subtilen und brachialen Gewalt, wie auch später Freuden. SUSANNE GMÜR
VERENA STEFAN, CHAIM VOGT-MOYKOPF (Hrsg.): Als sei ich von einem anderen Stern. Jüdisches Leben in Montreal. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2011. 264 Seiten, 29,80 Euro.
Die deutsche Sprache, die die
Exilanten kaum noch benutzten,
hat Erinnerungen lebendig gemacht
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensentin Susanne Gmür hat sich mit der doppelten Stigmatisierung deutscher Juden im Exil im kanadischen Montreal befasst und stellt fest: Das Ganze ist nur in Form zerstückelter Erzählungen zu bekommen. Was die beiden Herausgeber Verena Stefan und Chaim Vogt-Moykopf in überwiegend auf Deutsch geführten Gesprächen mit Betroffenen herausgefunden haben, überrascht die Rezensentin durch die durch Flucht und Exil sich ergebende Vielfalt jüdischen Selbstverständnisses. Von dem Gefühl des rein zufälligen Jüdischseins bis zur orthodoxen Thoratreue reicht das Spektrum. Den Wechsel zwischen historischen Fakten und subjektivem Bericht findet Gmür reizvoll, trotz aller Kürze erhält sie ein Bild vom Leben und Leiden der Menschen.

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