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Auf Shikoku, der Insel von Oes Herkunft, versucht Bruder Gii, seinen Ahnungen folgend, eine neue Kirche zu errichten. Mit kritischer Distanz und als skeptischer Humanist verfolgt Kenzaburo Oe diesen für unsere Zeit exemplarischen Versuch und sein Scheitern, der die Ungelöstheit der modernen "Bedürfnisse der Seele" unterstreicht.

Produktbeschreibung
Auf Shikoku, der Insel von Oes Herkunft, versucht Bruder Gii, seinen Ahnungen folgend, eine neue Kirche zu errichten. Mit kritischer Distanz und als skeptischer Humanist verfolgt Kenzaburo Oe diesen für unsere Zeit exemplarischen Versuch und sein Scheitern, der die Ungelöstheit der modernen "Bedürfnisse der Seele" unterstreicht.
Autorenporträt
Kenzaburô Ôe, geboren 1935 auf der Insel Shikoku, Romanistik-Studium an der Tokyo University mit einer Abschlussarbeit über Sartre. Er schrieb Essays, Geschichten und Romane. Mit 23 Jahren erhielt Ôe den renommierten Akutagawa-Preis, es folgten zahlreiche weitere Auszeichnungen - darunter 1994 der Nobelpreis für Literatur. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen die Romane »Reißt die Knospen ab...«, »Der stumme Schrei«, »Stille Tage« und »Sayonara, meine Bücher«. In »Tagame. Berlin-Tokyo« schreibt er über seine Zeit als S. Fischer Gastprofessor in Berlin; in »Der nasse Tod« spricht er über das Trauma seines Lebens: der Tod seines Vaters 1944. Über das Zusammenleben mit seinem Sohn Hikari, der mit einer Schädelanomalie geboren wurde, berichtet er in »Licht scheint auf mein Dach. Geschichte meiner Familie«. Bis zu seinem Tod am 3. März 2023 lebte Ôe in Tokyo.

Nora Bierich, 1958 geboren, hat Philosophie und Japanologie studiert, übersetzt aus dem Japanischen und lebt in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.10.2003

Am Tempellimit
Missionarisch: Kenzaburô Ôe beendet seine Trilogie des Protests

"Liebe für alle Menschen in der ganzen Welt" möchten sie verbreiten, die Alten und Jungen, die tief in den schwarzen Wäldern der Insel Shikoku im Süden Japans eine "Kirche" gegründet haben und nun als Missionare des Friedens, der Liebe und eines natürlichen Lebens aufbrechen wollen in die großen Städte, zu den schnellen Eisenbahnen und den Atomkraftwerken, den Quellen bekannter oder noch unbekannter Gefahren. Kenzaburô Ôe, Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1994, hat sie in Marsch gesetzt in einem großen Roman, denn das Land, in dem Hiroshima liegt, hat durchaus einen besonderen Grund und auch ein besonderes Recht zu solcher Tat.

In drei historischen Stufen entwickelt Ôe diese Mission, beginnend mit den Gründerjahren in den Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts ("Grüner Baum in Flammen", deutsch 2000), fortschreitend zu einer Art weltkultureller Fundierung ("Der schwarze Ast", 2002) und schließlich zur Verkündung eines Evangeliums der Liebe:. Dieser letzte, dritte Schritt ist nun jetzt in der Übersetzung von Nora Bierich auch dem deutschen Lesepublikum zugänglich geworden. Eng sind diese drei Bücher in Personal und Handlung untereinander verbunden, so eng, daß es kaum möglich sein dürfte, sich in dem letzten, abschließenden Band ohne Kenntnis der vorausgehenden kundig zu orientieren.

Erzählerin des ganzen dreibändigen Werkes ist die hermaphroditische Satchan, "Mannfrau" und "Fraumann" zugleich, die ein Kind zur Welt bringen wird, das sie von Bruder Gii, dem "Erlöser", empfangen hat, der die zentrale Gestalt von Ôes Trilogie ist. Gii kann durch Handauflegen heilen und mit seinem Charisma inspirieren. Aber seine Gegner zerschlagen ihm die Knie, nötigen ihn in den Rollstuhl, den Satchan als neuer Christopherus - oder als neue Christophera - schiebt. Aber schützen kann sie Gii nicht: als Märtyrer der Liebe wird er gesteinigt. So wandelt er sich zum Christus auf Shikoku, der von Matsuo, dem zenbuddhistischen Priester, mit Gedanken aus dem "christlichen Glauben" ausgesegnet wird. Es ist, alles in allem, eine heikle Sache: Literatur, Religionen, Philosophie und Politik fusionieren untrennbar und ein wenig unübersichtlich in diesem Buch.

Siebzig Jahre ist es her, daß Hermann Hesse mit seiner "Morgenlandfahrt" einer jungen, europamüden Leserschaft Regeneration des Denkens durch eine - wie Hesse es ausdrückte - "Pilgerschaft nach dem Osten" verhieß, so vage auch die Topographie dieses Orients blieb. Ôe nun begibt sich auf eine Art "Abendlandfahrt", denn die religiösen und literarischen Bürgen für seine Mission holt er sich vor allem aus ebendiesem Europa. Apostel des Neuen Testaments, Bachs Matthäus-Passion, der altspanische Visionär Johannes vom Kreuz, Augustinus, Dante, Gralssucher, Wagner, Beethoven, Schubert, Blake, Coleridge, Dostojewski und vor allem Yeats, aber auch Salvador Dalí, Thomas Mann, Mahler und die moderne Gottsucherin Simone Weil - sie alle und viele mehr geben sich in diesen Bänden ein Stelldichein, für deutsche Augen am interessantesten und reichsten im zweiten Teil.

Und nicht zu vergessen: auch der Autor selbst, Kenzaburo Ôe, ist überall präsent als "Onkel K.", was im Japanischen nicht so altmodisch gemeint ist, wie es im Deutschen klingt, sondern eher nur zum Ausdruck der Vertrautheit, der Zugehörigkeit zu einer großen Familie dienen soll. Anwesend ist aber auch Ôes Werk, wie etwa der faszinierende Bericht "Eine persönliche Erfahrung" über seinen Umgang mit dem behinderten Sohn, der dann ebenfalls Teil des Personals der Trilogie wird.

Der dritte und letzte Teil nun beginnt mit dem Abfall Satchans, der Erzählerin, von Giis sogenannter Kirche. Sie zieht sich in ein Sommerhaus zurück, wo sie mit einem Künstlerpaar in Verbindung kommt, von dem sie sogleich in wilde sexuelle Eskapaden verwickelt wird. Erste Begierden lassen sich noch kulturell bewältigen, wie die zwitterhafte Satchan berichtet: "Ich drehte mich um, um es meinem in der Unterhose steif gewordenen Penis bequemer zu machen . . . Im Radio wurde das ,Forellenquintett' gespielt." Dann aber wird die junge Mannfrau zu regelrechter Prostitution getrieben. Denn es gibt überall genügend bemittelte Interessenten, die es gern mit zwei Frauen oder gar - Gipfel des Exquisiten - mit einer Frau und einem Hermaphroditen bis zum völligen Durcheinander der Körperteile treiben möchten. Mit aller Detaillust beschrieben, füllt dergleichen die ersten einhundert Seiten des Buches, während ein beträchtlicher Teil der restlichen zweihundert Seiten sich danach etwa so unterhaltsam und spannend liest wie das Protokoll einer Untersuchungskommission über diverse außerparlamentarische Gruppierungen.

Ôes missionarische Schar vom "Tempel der Reinen Einfalt" hat ihre Ursprünge in den Protestbewegungen der sechziger Jahre. Aber mit ihrem Ziel einer Kirchengründung, mit ihrem Akzent auf den "Belangen der Seele" unterscheidet sie sich fundamental von der "revolutionären Fraktion" einer linken, "marxistisch-leninistischen" Opposition. Ôes Trilogie ist wohl am interessantesten als Entwurf eines Panoramas der japanischen Protestbewegungen gegen Ende des 20. Jahrhunderts, wodurch sich nun wieder manche Einsichten ergeben auch in die deutschen Varianten solchen Protestes zur gleichen Zeit. "Rotbäckchenammern" und "Maskenammern" zwitschern auf den "Zwergkastanien" oder "Seidenraupeneichen" in den Wäldern von Shikoku; Naturapostel, Umweltschützer, Atomkraftgegner und gewaltsüchtige Terroristen begegnen und bekämpfen einander wie im alten Europa auch.

Ist man sich nahe in der Opposition, so unterscheidet man sich zutiefst eben in den Mitteln. Diese wiederum rücken ins Zentrum von Satchans Nachdenken und dem ihres Autors. Und sie betreffen den Kern des ganzen Werkes, nämlich die Frage, inwieweit das, was hier als Mission einer Neuen Kirche vorgestellt wird, in Wirklichkeit nur Synkretismus oder, schärfer gesprochen, ein unverbindliches Sammelsurium aus Lesefrüchten darstellt. Denn entsteht hier wirklich eine Kraft, die die Welt zum Besseren verändern kann? Als man vor ein Atomkraftwerk zieht und dort betet, geschieht im Werk selbst ein Unfall. Gibt es Kausalbeziehungen zwischen beidem? Und wenn ja - sind sie wünschenswert? Denn sind Unfälle mit Kernenergie nicht gerade das, was verhindert werden soll, indem man sich von ihr lossagt?

Es sind Erörterungen dieser Art, die - in zahlreichen Windungen durch eine Fülle von Ideen, aber auch mit manchen Schleifen und Wiederholungen - den zweiten Teil dieses letzten der drei Romane füllen. Sie gipfeln in Satchans Empfängnis eines Kindes und in Giis, des Vaters, Märtyrertod. Aber ist Gii wirklich ein "Erlöser" oder ist das nur, wie es im Roman heißt, ein Zitat aus Mozarts "Don Giovanni", wo der Komtur ein entsprechendes Wort gebraucht? Gii hatte von der sexuellen Beziehung zur Hermaphroditin geträumt als der Vereinigung von "einem wunderbarem Mann und einer wunderbaren Frau", die "die geschlechtliche Dreieinigkeit Wirklichkeit werden läßt". Ist das Blasphemie, Parodie christlicher Trinität oder überzeugende Gründung eines neuen Evangeliums? Ist es Religion, Synkretismus, politisches Statement oder Literatur oder von jedem etwas?

Ôes drei Bücher eines Romans über die Erlösungsbedürftigkeit der gegenwärtigen Menschheit werden von einem leidenschaftlichen Willen zum Guten getragen, und sie verraten immer wieder die Kraft eines großen Erzählers. Die Schwierigkeit mit ihnen besteht darin, daß die gute Absicht die Ganzheit des Kunstwerks ständig bedroht. So ließe sich dessen Kunstcharakter wohl am ehesten im Begriff der Postmoderne unterbringen. Aber ist nicht die Postmoderne, wie man hört, inzwischen auch schon wieder passé? "Japanische Leser schätzen das Uneindeutige", heißt es einmal. Das können deutsche Leserinnen und Leser auf jeden Fall aus diesen Büchern lernen.

GERHARD SCHULZ

Kenzaburô Ôe: "Der atemlose Stern". Roman. Aus dem Japanischen von Nora Bierich. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 320 S., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Auch dies dritte Buch von Kenzaburo Oes Trilogie über die "Erlösungsbedürftigkeit der gegenwärtigen Menschheit" verrät Rezensent Gerhard Schulz immer wieder die Kraft eines großen Erzählers. Auch sieht er den Roman, der sich seiner Ansicht nach allerdings ohne Kenntnis der in Personal und Handlung eng verwobenen vorhergehenden Teile kaum erschließen lässt, von einem leidenschaftlichen Willen zum Guten getragen. Einschränkend fügt er jedoch hinzu, dass diese gute Absicht die Ganzheit des Kunstwerks ständig bedroht. Oe begebe sich in seiner Trilogie auf eine Art Abendlandfahrt, schreibt Schulz mit Blick auf Hermann Hesses "Morgenlandfahrt". Die religiösen und literarischen Bürgen für seine Mission hole er sich aus Europa. Schulz' Liste ist lang und reicht von den Aposteln des Neuen Testaments über Coleridge, Wagner, Salvatore Dali oder Simone Weil. Die ersten hundert Seiten haben ihm jedoch nach eigenem Bekunden am besten gefallen, denn hier wird, liest man, außerordentlich detailfreudig seine hermaphroditische Protagonistin, samt dazugehöriger Verwicklungen mit den verschiedensten Körperteilen beschrieben. Der Rest des Buchs las sich zu seinem Missfallen dann eher wie "das Protokoll einer Untersuchungskommission über diverse außerparlamentarische Gruppierungen".

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