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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
In seinem Roman „Zementfasern“ erzählt der italienische Autor Mario Desiati von den Arbeitsemigranten Süditaliens
Die Zürcher Asbest-Fabrik ähnelt einem Höllenschlund. Ein Arbeiter balanciert über einen Steg, während unter ihm Zementmasse brodelt. Andere stehen an Wannen und wässern das Material, wieder andere trennen und sieben es, dann wird es bei großer Hitze gemischt, bis am Ende Platten und Rohre daraus entstehen. Es sind Produkte aus Eternit, „Ternitti“, wie die italienischen Einwanderer es nennen, die Mitte der Siebzigerjahre aus Apulien eintreffen. Ganze Dörfer verdingen sich in der Schweiz, ihre Familien leben zusammengepfercht in provisorischen Unterkünften, und „Ternitti“ wird zum Oberbegriff für alles, was mit Asbest zu tun hat: die Fabriken, die Dächer und Ziegel und schließlich der Zement selbst.
Gegen den grauen Staub, der in den Hallen überall in der Luft hängt, wird Milchtrinken empfohlen, sonst nichts. Aber die Fasern sind tückisch. Ausgestattet mit feinen Häkchen, dringen sie über die Atemwege in den Körper ein und fressen sich im Gewebe fest. Asbestose heißt die Krankheit, unter der die Arbeiter später leiden. Meistens folgt Lungenkrebs. Um das Jahr 2005 setzt in den Gemeinden von Capo di Leuca ein Massensterben ein.
Mario Desiati, 1977 in Apulien geboren, stellt in seinem ersten auf Deutsch erschienenen Roman „Zementfasern“ das Schicksal einer Auswandererfamilie in den Mittelpunkt. Er operiert mit einem etwas altmodisch anmutenden Erzähler, der mit väterlichem Gestus dem Umzug seiner Hauptfiguren aus der agrarischen Welt des Südens in den industrialisierten Norden folgt. Plastische Schilderungen der Arbeitswelt wechseln mit Beschreibungen des bedrückenden Alltags in zugigen Schlafsälen, wo die Arbeiter nach Regionen und Dialekt getrennt dahinvegetieren. Die Verhältnisse sind ausbeuterisch, keiner kennt seine Rechte.
Der Stoff besäße genügend soziale Sprengkraft, und man hätte gern mehr über das komplexe Gefüge der Auslandsitaliener erfahren, aber Desiati zentriert die Geschehnisse schon bald um seine Heldin Mimi, die halbwüchsige Tochter der Familie Orlando. Die Sechzehnjährige beginnt heimlich eine Liebesbeziehung mit dem Arbeiter Ippazio.
Die Figur dient dem Autor, der als Lektor bei dem kleinen römischen Verlag Fandango arbeitet und bereits Erzählungen und einen weiteren Roman veröffentlicht hat, als roter Faden, an dem er seine Geschichte entlang spinnt. Das zweite gestalterische Prinzip sind Zeitsprünge. Desiati gliedert „Zementfasern“ in sieben jeweils mit Jahreszahlen überschriebene Abschnitte. Nach dem Eingangskapitel, das 1975 spielt, katapultiert ein Sprung den Leser ins Jahr 1993. Die Familien sind längst nach Italien zurückgekehrt, viele blieben nur zwei oder drei Jahre, Mimi ist alleinerziehende Mutter einer heranwachsenden Tochter namens Arianna und arbeitet in einer Krawattenfabrik. Ippazio ließ sie damals im Stich, ihre Tochter kennt den Vater nicht. Dann werden die Zeitsprünge kleiner: Mimis Vater stirbt an Asbestose, ebenso wie viele seiner ehemaligen Kollegen, Arianna beginnt mit dem Medizinstudium, Ippazio kehrt schwer krank nach Hause zurück.
Wenn sich die Handlung über eine Hauptfigur aufbaut, muss diese das auch tragen. Desiati hatte vermutlich eine der klassischen italienischen Frauengestalten im Sinn, eine Amazone, eine zeitgenössische Wiedergängerin von Ippolito Nievos Pisana, und er gibt sich alle Mühe, etwas Derartiges zu erschaffen. Immer wieder betont er Mimis weiblichen Instinkt, ihre Schönheit und ihren Mut, die innere Unabhängigkeit, ihr impulsives Wesen und ihre Sinnlichkeit, der alle erliegen. Er überfrachtet Mimi mit Eigenschaften, dennoch wirkt sie merkwürdig schablonenhaft. Ein Erzählen aus der Figur heraus wäre möglicherweise eindringlicher gewesen.
Der zynische Umgang mit Arbeitskräften, die Erfahrung der Entwurzelung, der Wandel archaischer Lebensformen, die apulischen Dörfer um die Jahrtausendwende – Stoffe wie dieser könnten der italienischen Gegenwartsliteratur wichtige Impulse geben. Für das Sujet der Fabrik gibt es mit Paolo Volponis Romanen „Memoriale“ (1962) und „Corporale“ (1974) Vorbilder von europäischem Rang. Silvia Avallones Debüt „Stahl“ (2011) über die Schwerindustrie in Piombino war ein zum Teil gelungener Versuch, die Arbeitswelt zu erzählen. „Zementfasern“ wird mit jedem Kapitel brüchiger, bis es sich mühsam zum Ende schleppt.
Zwar gelingen Desiati im ersten Teil noch schöne Momente, aber die Handlung franst in zu viele Richtungen aus. Es gibt die Mutter-Tochter-Geschichte von Arianna und Mimi. Es gibt aber auch zwei Vater-Tochter-Geschichten, eine Bruder-Schwester-Geschichte und zahllose Liebschaften, Tändeleien, Liaisons, bis zum finalen Ehedrama mit Ippazio. Die Sprache wird behäbiger und behäbiger.
Kaum geht es um den inneren Zustand seiner Helden, neigt Mario Desiati zu gestelzten Formulierungen, oft mischt sich der Erzähler mit Sentenzen ein: „Es war nur ein inniger Kuss, bei dem der Nektar des Endes und des Anfangs getauscht wurden, als würden alle Gefühle der irdischen Welt und des Jenseits von hier ihren Ausgang nehmen.“ Das ist purer Kitsch. In einem Ambiente mit knorrigen Olivenbäumen, schroffer Küste und Trockenmauern lauern ohnehin überall Klischees. Patronatsfeste werden zur Kulisse, und selbst weniger abgegriffene Gepflogenheiten wie die Vorbereitung eines Totenkorbes für den Verstorbenen bekommen in diesem Zusammenhang etwas Folkloristisches.
Dass Mimi am Ende mit ihren Kolleginnen die Krawattenfabrik bestreikt und wie eine Jeanne d’Arc auf dem Eternitdach des Gebäudes ausharrt, soll vermutlich ihren Emanzipationsprozess unterstreichen. Weniger wäre mehr gewesen.
MAIKE ALBATH
Mario Desiati, 1977 in Apulien geboren
FOTO: ALBERTO CRISTOFARI A3/LAIF
Mario Desiati: Zementfasern. Roman. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012. 285 Seiten, 19,90 Euro.
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In Mario Desiatis Roman wird eine Frau zum Symbol
In der Nachkriegszeit schufteten Tausende italienische Arbeiter in Schweizer Zementfabriken, den sogenannten "Ternitti", in denen der gleichnamige Baustoff (Eternit) hergestellt wurde. Er war asbesthaltig, die Arbeiter ruinierten sich die Gesundheit: ein nicht aufgearbeiteter Skandal, dessen Opfer bis heute daran sterben. Diese Geschichte durchsetzt, wie die unsichtbaren, aber tödlichen Asbestteilchen, Mario Desiatis Erstlingsroman "Zementfasern". Die Eltern der Protagonistin Domenica Orlando arbeiten Mitte der siebziger Jahre für zwei Jahre in einer Fabrik bei Zürich - lang genug, um die Lunge von Antonio zu ruinieren. Lang genug auch, um die damals fünfzehnjährige Mimi ihre Unschuld verlieren zu lassen: Sie gibt sich dem schönen Ippazio hin, der sie verlässt, als sie schwanger wird.
Desiati erzählt von einer kleinen Welt im Exil, in der eine ehemalige Glashütte als Gemeinschaftsunterkunft dient. Elend und Leid der Asbest-Arbeiter werden engagiert und bildstark benannt: "Die Farbe des Teigs aber war hässlich und sein Geruch unerträglich, stechend, er blähte die Nasenlöcher und drang wie unsichtbare Nadeln unter die Haut, fuhr durch die Glieder bis in den Brustkorb, schließlich in die Lunge. Jeweils eine Nadel. Eine nach der anderen und wie alles Böse sorgsam darauf bedacht, langsam, unkenntlich und unabwendbar zu sein."
Dieser Zeitabschnitt ist jedoch der kürzeste Teil des Romans, es geht um Mimis Leben: Von 1993 bis 2011 zeigen Querschnitte die Heldin in wechselnden Konstellationen. Das im Gegensatz zu den sterbenden Arbeitern "ewig junge Mädchen" führt ein nur scheinbar geregeltes Leben. Mimi arbeitet in einer Krawattenfabrik und zieht ihre Tochter Arianna auf; Liebhaber wechseln regelmäßig, mit den Jahren kommen einige zusammen. Schon das fällt auf in der Provinz Lecce, jenem Teil Apuliens, der den Absatz des italienischen Stiefels bildet: Auch im 20. Jahrhundert schlagen die Uhren im südlichen Mezzogiorno anders, Carlo Levi hat es in "Christus kam nur bis Eboli" schon 1945 eindrucksvoll gezeigt.
Hinzu kommt, dass Mimi sich um ihren Bruder Biagino kümmert, der wegen seiner früher blau gefärbten Haare Celestino genannt wird, mit "Giacomo Daniele" (Jack Daniels) auf Du und Du ist und die Gassen des Städtchens Tricase unsicher macht. Zudem redet Mimi mit Geistern und versteckt sich gern unterm Tisch: Manchen gilt sie als macara, als Hexe. Ihre Rolle zementiert sie am Ende: Sie besetzt ein Fabrikdach, um gegen die Verlagerung der Krawattenproduktion zu protestieren, und schafft es ins Fernsehen. Mimi wird zum Symbol - das freilich war sie den ganzen Roman über, und genau darin liegt das Problem.
So spannend der Hintergrund, das Sterben der Eternitarbeiter, so lau ist der Vordergrund: Mimis Treiben, das Abrutschen von Celestino, das ankerlose Leben von Arianna, die Medizin studiert, mit den Männern kein Glück hat und sich für die kranken Arbeiter engagiert. Das gilt besonders für die letzten beiden Teile, 2006 und 2011, in denen Mimi ihre erste Liebe Ippazio wieder trifft, der auch vom Asbest gezeichnet ist. Was vorher in einem eher heiteren, bisweilen poetischen Gesamttableau verschmelzende Schrullen waren, wird in der Zweierkonstellation zu handfestem Kitsch. Interpretationen des Erzählers, der vorsichtshalber die eigene Geschichte erklärt, verschlimmern den Befund. Zu Ippazio: "Er wollte nicht fern von seiner Erde sterben, von ihren Fossilien und ihrer Sprache; Mimi repräsentierte die Welt vor den Ternitti, die Zeit, bevor er von der Hybris des Materials erfahren hatte, das Eternit hieß wie die Ewigkeit, sich aber nicht für fehlbare äußerst sterbliche Menschen eignete, und für das Tausende von Männern einberufen worden waren." Der Protagonistin wird eine geradezu kosmische Rolle zugeschrieben.
Die Annäherung von Mimi und Arianna ist ebenfalls klinexlastig: "Sie sahen einander in die Augen und suchten ihr zaubermächtiges Einverständnis, ihre ineinander verwickelten Lebensgeflechte." Erst erfrischend grotesk, später missraten ist schließlich die Figur des Alkoholikers Celestino, "ein Mensch voller Wahrheit". Es ist schade, dass Desiati keine nüchterne Sicht wählt; auch gäben die Arbeitergeschichten genügend her. Stärkere Beschränkung hätte die Straffung der etwas, nun ja, fasrigen Konstruktion erlaubt. Bei allem Respekt vor Asbest: Ästhetisch gesehen, ist zügelloses Gefühl das größte Gift.
NIKLAS BENDER
Mario Desiati: "Zementfasern". Roman.
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012. 288 S., geb., 19,90 [Euro].
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