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Für sein "Kriegsmuseum zum Zwecke des Friedens" sammelt ein Mann in Triest Kriegsgeräte aller Art. Sie erzählen die Geschichten derer, die damit getötet haben oder getötet wurden. Als Jahre später das Museum bei einem Brand zerstört wird, versucht Luisa, Tochter einer Jüdin und eines afroamerikanischen Leutnants, es zu rekonstruieren. Dabei wird nicht nur die Geschichte ihrer Vorfahren zwischen Diaspora und Sklaverei wieder lebendig, sondern auch die von San Sabba, dem einzigen Konzentrationslager Italiens. Doch die Kraft des Vergessens erscheint ungeheuer: die Verbrechen wurden vertuscht, die…mehr

Produktbeschreibung
Für sein "Kriegsmuseum zum Zwecke des Friedens" sammelt ein Mann in Triest Kriegsgeräte aller Art. Sie erzählen die Geschichten derer, die damit getötet haben oder getötet wurden. Als Jahre später das Museum bei einem Brand zerstört wird, versucht Luisa, Tochter einer Jüdin und eines afroamerikanischen Leutnants, es zu rekonstruieren. Dabei wird nicht nur die Geschichte ihrer Vorfahren zwischen Diaspora und Sklaverei wieder lebendig, sondern auch die von San Sabba, dem einzigen Konzentrationslager Italiens. Doch die Kraft des Vergessens erscheint ungeheuer: die Verbrechen wurden vertuscht, die Verfahren eingestellt. Gestützt auf eine wahre Geschichte hat Claudio Magris ein gewaltiges Epos geschrieben.
Autorenporträt
Claudio Magris, 1939 in Triest geboren, studierte Germanistik in Turin und Freiburg. Von 1978 bis zu seiner Emeritierung 2006 war er Professor für Deutsche Sprache und Literatur in Triest. Bei Hanser erschienen u.a. Donau (Biographie eines Flusses, 1988), Blindlings (Roman, 2007), Ein Nilpferd in Lund (Reisebilder, 2009), Verstehen Sie mich bitte recht (2009), Das Alphabet der Welt (Von Büchern und Menschen, 2011), Die Verschwörung gegen den Sommer (über Moral und Politik, 2013), Verfahren eingestellt (Roman, 2017), Schnappschüsse (2019) und Gekrümmte Zeit in Krems (Erzählungen, 2022). Magris erhielt zahlreiche wichtige Literaturpreise, u.a. 1999 den Premio Strega für Die Welt en gros und en détail, 2001 den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung und 2006 den Prinz-von-Asturien-Preis. 2009 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und den Essaypreis Charles Veillon. 2012 wurde ihm das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.04.2017

Der Rest ist Rauch
Kalk löscht nicht alles: Der italienische Autor Claudio Magris erzählt in seinem Roman
von einem Sonderling, der den Kriegsgeheimnissen der Stadt Triest auf der Spur war
VON VOLKER BREIDECKER
Von manischer Sammelleidenschaft getrieben, hat sich ein merkwürdiger Sonderling namens Diego de Henriquez (1909-1974) in der an exzentrischen Figuren reichen adriatischen Hafenstadt Triest die Errichtung eines „Kriegsmuseums zum Zwecke des Friedens“ zur Lebensaufgabe gemacht. An Waffen und Gerät, kriegerischen Ikonen und Denkmälern, an unendlich vielen Zeugnissen aus Metall, Stoff und Papier zur Gewaltgeschichte der Menschheit herrschte in dieser Grenzregion mehrerer Imperien, Ethnien und Ideologien kein Mangel. Kolonialgeschichte, Habsburgerreich, Erster und Zweiter Weltkrieg, Kalter Krieg begleiteten den Lebensweg jenes seltsamen Sammlers, der zwischen den Fronten lavierte, agierte, akquirierte.
Auf die wahre Geschichte des Diego de Henriquez und seiner bizarren Sammlung, die bereits dem im Triest lebenden Krimiautor Veit Heinichen den Plot zum Polit-Thriller „Der Tod wirft lange Schatten“ (2005) lieferte, kam der italienische Germanist, Romancier und Essayist Claudio Magris in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2009 zurück. Der „Schatten dieses Mannes“, bekannte er in seiner Paulskirchenrede, begleite ihn seit Langem. Er hat ihn nicht mehr losgelassen und liegt jetzt über seinem neuen Roman.
Die Museumsidee des Romanhelden und seines realen Vorbilds passt gut zum Schauplatz Triest, der nach dem Ende des Habsburgerreichs seine exponierte kommerzielle Stellung verlor und zum Museum seiner selbst geworden ist. „In Triest“, schrieb Magris einmal, „lösen sich die Zeitalter nicht ab, sie reihen sich nebeneinander wie Wrackteile von Schiffbrüchen, die das Meer am Strand zurücklässt. Durch Triest zu spazieren bedeutet, sich im Nebeneinander zu bewegen, in Zeit, die zu Raum wird, zu Ereignissen, die hier im Hinterzimmer der Geschichte nebeneinander aufgehäuft sind.“
Hinterzimmer sind auch Orte des Unheimlichen, Schauplätze verschwiegener Geheimnisse und lastender Tabus. Ein Hüter solcher Geheimnisse war auch jener seltsame Museumsgründer. Das Pendant seiner Sammelwut war ein ungebändigter Schreibdrang, mit dem er die zusammengetragenen Objekte, die allmählich ganze Lagerhallen, Magazine und Kasernenhöfe füllten, inventarisierte, sie akribisch beschrieb, ihnen die Erzählungen, die sie transportierten, ablauschte und damit Massen von Notizbüchern füllte. Daneben begann er von einem bestimmten Zeitpunkt und Erlebnis an Namen zu sammeln, Namen vermeintlich unbescholtener Mitbürger, die in aller Unschuld dennoch schmutzige Hände hatten oder solche Hände zu schütteln pflegten.
Musste der Mann deshalb sterben, oder war es ein Unfall, als er eines Nachts inmitten einer Feuersbrunst hilflos verbrannte? Wie nur ein Kriegsherr seine Beute, pflegte er seine Sammlung zu hüten. Umgeben von Kanonen, Panzern und U-Booten, pflegte er sein Bett in einem offenen Sarg aufzuschlagen, im Gesicht die Maske eines Samurai, auf dem Haupt eine stählerne Pickelhaube. Mit Henriquez verbrannten offenbar auch Teile seiner Notate, falls sie nicht aufgrund der Brisanz jener Namenslisten beseitigt wurden. Es gab juristische Ermittlungen, doch verliefen sie im Sande.
Durch seinen Titel „Verfahren eingestellt“ erinnert Magris’ Roman an hiesige Verfahren, die seit den Sechzigerjahren eingestellt wurden, Verfahren in Sachen Massenmord und schwerer Kriegsverbrechen gegen höhere Polizeiführer der SS, darunter den namentlich bekannten Mördern von 2,2 Millionen Juden und 50 000 Roma im „Generalgouvernement“, den besetzten Gebieten im Westen Polens und der Ukraine. Die „Endlösung der Judenfrage“ lief dort unter dem Decknamen „Aktion Reinhard“ mit Personal, das zuvor mit der „Aktion T4“ betraut war, der systematischen Auslöschung „unwerten Lebens“, das heißt vorwiegend körperlich oder geistig behinderter Menschen. Nach Einstellung der Euthanasieaktionen rollten die dafür konstruierten Gaswagen mitsamt ihren Betreibern nach dem Osten, wo dieselben Mordexperten die Vernichtungslager Belzic, Sobibor und Treblinka in Betrieb nahmen und sie mit stationären Gaskammern und Krematorien bestückten – bis zum Weiterzug nach Triest.
In Deutschland wie in Italien ist kaum etwas davon bekannt. Aber schon einmal wurde die zeitgeschichtliche Aufarbeitung mit den Mitteln literarischer Fiktion unternommen, in Thomas Harlans fulminantem Roman „Heldenfriedhof“ (2006) über die Täter von San Sabba. Als das Personal der „Aktion Reinhard“ sein Vernichtungswerk im Herbst 1943 abgeschlossen hatte, wurde es nach Triest versetzt. Die Region war nach dem Einmarsch der Deutschen am 9. September 1943 zum „Einsatzgebiet adriatische Küstenregion“ erklärt worden. Die jetzt „Sonderabteilung Einsatz R“ genannte Mordtruppe verwandelte gleich nach ihrer Ankunft die Risiera di San Sabba, eine stillgelegte Reisfabrik, in das einzige Konzentrationslager auf italienischem Boden, das um ein Krematorium erweitert wurde. Es diente der Beseitigung von Tausenden Gefangenen, gefolterten und ermordeten Antifaschisten, Partisanen und auch Juden, von denen die meisten indessen zur Vernichtung weiter nach Auschwitz transportiert wurden.
Die Täter gingen straffrei aus. Einer von ihnen betrieb später das Klagenfurter „Tanzcafé Lerch“, in dem Udo Jürgens seine Musikerkarriere begann, ein anderer, Josef Oberhauser, wurde Schankwirt im Franziskaner Poststüberl in München. Im Triest der Nachkriegszeit wurde jede Erinnerung an die Risiera di San Sabba aus dem kollektiven Gedächtnis der Stadt amputiert. Daraus bezieht der Fall Diego de Henriquez seine Brisanz. Seine Aufzeichnungen, derer sich der Roman frei bedient, schildern beim Anblick der Risiera – rot, stumpf, schwarz, tödlich – ein „Damaskus-Erlebnis“. Er notiert und kopiert die von den Häftlingen an den Wänden der Risiera zurückgelassene Graffiti, bevor die vielen darauf verzeichneten Namen mit Kalk übertüncht und ausgelöscht wurden, die Namen jener „unbescholtenen“ Triester Bürger, die mit den Tätern auf gutem Fuß standen, und sei es auch nur als Geschäftspartner. „Nicht von ungefähr“, heißt es, „ist Triest die Stadt der Versicherungen.“
Der Held von Magris’ Roman ist ins Namenlose einer Stimme und eines Stimmengewirrs ohne personalisierte Gestalt und ohne Gegenwart entrückt und nur in Aufzeichnungen und Anweisungen an seine Assistentin, die zweite Hauptfigur, präsent. Das ist Luisa, Tochter einer jüdischen Mutter, die der Risiera entkommen war, und eines schwarzen amerikanischen Besatzungssoldaten. Anhand der Sammlungen und Aufzeichnungen ihres Auftraggebers erforscht sie die Geschichte ihrer Eltern und deren Ahnen, darin sich Kolonialismus, Rassismus und Antisemitismus, Vernichtung, Verfolgung und Versklavung paaren. Aber auch Luisa, von der uns wenigstens die „blauschwarze“ Farbe ihrer Haare und die dunkelbraune Hautfarbe ihrer Hände mitgeteilt werden, bleibt gesichtslos. Von „ihm“ spricht sie durchgängig als „Er“, dem sie sich im Arbeitsverlauf zunehmend annähert, um beinahe – auch in kaum noch voneinander unterscheidbaren Erzählerstimmen – mit ihm identisch zu werden, was seine schriftlichen Anweisungen einlöst: „Reden wir uns also bitte immer mit Er an, auch wenn wir mit uns selbst sprechen.“
Luisa ist die Nachlassverwalterin, Archivarin und Kustodin der Sammlung, sie konzipiert und kuratiert unter Einsatz avancierter audiovisueller und digitaler Museumstechniken. Ihr Ideal ist das Museum als „beweglicher Hypertext“, in dem mit jedem neuen Tastendruck ein jedes Exponat die Geschichte seiner Herkunft und seines Gebrauchs erzählt und Geheimnisse preisgibt, die sich zum Panorama einer einzigen großen und totalen Gewaltgeschichte der Menschheit ausdehnt: Von der Pflanzen- zur Tier- und zur Menschenwelt, vom Krieg auf den Schlachtfeldern zum Geschlechterkampf in den Betten, vom Meer aufs Land und wieder zurück zieht sich da „eine dickflüssige Lache aus Blut, Sperma und klebriger Schmiere“.
„Der Rest ist Rauch“ und Asche, die aus dem Verbrennungsofen der Risiera dringt und ins Meer fließt. Luisas Planungen zufolge muss als „Kernstück diese ganzen Geschichte“ das Verschwinden schlechthin und das Verschwundene im Zentrum des Museums stehen, vertreten durch die Geschichte der verschwundenen Notizbücher. Wenn der tote Museumsgründer seiner Chefkustodin die Worte hinterlässt, sie könne schreiben, was sie wolle und wie sie wolle, „die Hand, die schreibt, ist die Hand des Autors“, so wird Luisa zum Bindeglied zwischen dem Autor und Stifter des Museums und dem Autor dieses Romans.
Dem Nebeneinander der Objekte, Exponate und Notate im imaginären Museumsareal entspricht eine kühne Komposition, die sich in vielen kurzen und mittellangen Kapiteln entsprechend der räumlichen Gliederung des projektierten Museums auffächert, um dann wiederum mit ausgewählten, zum Teil arg ausschweifenden Langerzählungen zu alternieren, die sich entweder an einzelnen Exponaten festmachen – nach der Devise, dass in einem einzigen Messer „schon das ganze Museum enthalten“ sei – oder die in Abständen und Fortsetzungen zum Beispiel „Luisas Geschichte“ erzählen, freilich reduziert auf die Geschichte ihrer Vorfahren.
Der Autor Magris öffnet durch dieses Verfahren und den narrativen Trick des fiktiven Museumsbaus als eines beweglichen Hypertexts sämtliche Schleusen, es mit seinem Roman jenem imaginären Museum gleichzutun. Unterfüttert von einer ganzen Bibliothek der Weltliteratur und unterlegt vom Sound der Hausgötter Joyce, Musil, Kafka, Canetti und Broch, bleibt von der Kolonial- bis zur Zeitgeschichte, von der Atomphysik bis zur Physiologie der Liebe, von der Anthropologie bis zur Ethnologie, von der Waffen- über die Meeres- bis zur Museumskunde kein Wissensgebiet unberührt. Sprachlich ist das alles – auch in Ragni Maria Gschwends kongenialer Übersetzung – grandios durchrhythmisiert, gleichwohl schwelgt der Roman in einer überbordenden Metaphernflut von zuweilen unerträglicher Redundanz, die nach ihrer notwendigen Bändigung durch einen mutigen und gestrengen Lektor geradezu schreit – leider vergeblich. Magris, der sich gerne auf die Unterscheidung des großen argentinischen Romanciers Ernesto Sabato zwischen einem – lichten, disziplinierten und diätischen – „Tag-Schreiben“ und einem düsteren „Nacht-Schreiben“ beruft, das sämtlichen Dämonen, Manien und Obsessionen eines Erzählers wie Autors freien Lauf lässt, ficht dies vermutlich nicht an. Der passionierte Meeresschwimmer hat sich in diesem Roman seiner Dämonen entledigt. Der Leser aber hat die Bescherung und kommt aus dem Schlamassel der Lektüre kaum heraus.
Ein Blick in das Innere der ehemaligen Reisfabrik in San Sabba in Triest. Hier war in den Zeiten des italienischen Faschismus das einzige italienische Konzentrationslager mit einem eigenen Krematorium untergebracht. Im neuen Roman von Claudio Magris ist die “Risiera“ ein wichtiger Schauplatz.
Foto: mauritius images
Diego de Henriquez, Vorbild des Sammlers im Roman.
Foto: Civico Museo di guerra Trieste
Claudio Magris: Verfahren eingestellt. Roman. Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend. Carl Hanser Verlag, München 2017. 396 Seiten, 25 Euro.
E-Book 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.05.2017

Der Eidechse auf der Spur

Unheimliche Gerüche: Claudio Magris erzählt in seinem Roman "Verfahren eingestellt" die vielschichtige und abgründige Geschichte der Hafenstadt Triest.

Eine ungeheuerliche Geschichte erzählt Claudio Magris in seinem neuen Roman: 1943, als Triest unter deutsche Besatzung geriet und die "Operationszone Adriatisches Küstenland" eingerichtet wurde, entstand am Rande der Stadt das einzige Konzentrationslager auf italienischem Boden. In der ehemaligen Risiera di San Sabba, einer stillgelegten Reisfabrik, richtete die SS nicht nur Folterzellen ein. Auch mobile Gaskammern wurde installiert und ein Krematorium gebaut.

"Verfahren eingestellt" heißt Magris' Roman nicht zufällig, denn nach dem Krieg wurde das Morden verdrängt, die Verfahren ergebnislos eingestellt. Die Helfer und Geschäftspartner der Mörder stammten aus den besten Kreisen der Stadt. Nach dem Krieg traf man sich, als wäre nichts geschehen, bei gesellschaftlichen Anlässen - nur einmal verliert Sara, ein junges jüdisches Mädchen, deren Mutter in der Risiera ermordet wurde, angesichts eines Henkers die Fassung. Ihre Tochter Luisa ist eine der beiden Hauptfiguren dieses berührenden und kunstvollen Romans.

Claudio Magris bündelt hier souverän alle Fäden seines großen, Mitteleuropa umspannenden Werkes: die vielschichtige und abgründige Geschichte der Grenzstadt Triest, in der er jeden Stein über und unter der Erde kennt; die verborgenen, sich durch die Jahrhunderte ziehenden Korrespondenzen zwischen sämtlichen Ereignissen des Habsburgerreiches und seine exzentrischen, manisch forschenden Helden mit ihren uferlosen Notizen. Triest, die einzige, politisch umkämpfte Hafenstadt Österreichs-Ungarns, war ein Schmelztiegel italienischer, deutscher und slowenischer Kultur. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte sie zu Italien und wurde schon 1922 zum Zentrum der faschistischen Bewegung. Gleichzeitig war sie bevölkert von intellektuellen Exzentrikern, die oft zu Widerständlern wurden, weil sie "die Würde des Einzelnen gegen alles Totalitäre" lebten - man denke nur an James Joyce oder Italo Svevo.

Vorbild der namenlosen Hauptfigur des Romans war der sich als Universalgenie gebärdende Triester Professor Diego de Henriquez, den Magris im Nachwort einen von "totalisierender Leidenschaft" Getriebenen nennt. Er ist also ein typischer Magris-Held (wie etwa der Ingenieur Neweklowsky im "Donau"-Buch), der in seiner Forschung, in der er die Welt "en gros und en détail" einfangen will, untergeht. In diesen Figuren, gestand der Autor einmal, parodiere er sich ein bisschen selbst. Aber wie sein Protagonist glaubt er, dass die Feder ein Spaten ist: Sie "deckt Skelette und Geheimnisse auf oder deckt sie zu mit Schaufeln und Worten, die schwerer sind als die Erde". Dieser Furor treibt hier die Geschichte an.

Der Sammler, im Roman nur "ER" genannt, namenlos wie die vielen, deren Leben und Sterben er dokumentiert um es existent zu machen, häuft Waffen aus allen Ländern an, um ein Kriegsmuseum zu füllen, das den Frieden feiert. Wie der Spielzeugladen seiner Kindheit, den er wegen seiner nutzlosen Schönheit und absurden Überfülle liebte. Jedes Exponat dieses imaginären Museums (das es real in Triest seit 2014 gibt) ist Baustein einer Kulturgeschichte nicht nur des Krieges, sondern der gewalttätigen Menschheit überhaupt, deren Leben von Macht und Gewalt bestimmt ist, bis hin zum Liebesleben. Eindrucksvoll beschreibt Magris die Schlachten, die im Kopf seiner Heldin Luisa zwischen Erinnern, Nachforschen und Verdrängen stattfinden.

Der imaginierte Gang durch die Säle des Museums bildet das Ordnungsprinzip des Romans, und Magris hätte für seine Art des Schreibens kein besseres finden können: Gelehrte Exkurse über die Pflanzenwelt, über Kolonialpolitik, Bildungsgeschichte und die Wahrnehmung von Zeit fügen sich selbstverständlich zusammen. Jedes Exponat erzählt seine Geschichte, Deserteure, Partisanen und unglückliche Kaiser - wie Maximilian von Mexiko, dem einer der schönsten Exkurse gewidmet ist - treten auf und ab wie in einem Welttheater. Es sind die Grenzgänger, die Magris interessieren, die eigensinnigen Träumer und naiv Kompromisslosen. Auch wenn manche Abschweifung, wie die zu Luisa de Navarrete, sich in der akribischen Geschichte verliert und ein Lektor die Redundanzen hätte streichen sollen, entstehen im Kopf des Lesers aus diesem tastenden, suchenden Erzählen eindringliche Bilder: ein Erzählgeflecht, das genau jenen beweglichen und historisch durchlässigen "Hypertext" darstellt, der das erklärte Ziel des Museums ist. Luisa, beauftragte Kuratorin, ordnet die Papierberge, verstrickt sich in Streitgespräche mit dem bei einem mysteriösen Brand umgekommenen Schreiber und verliert sich in der Geschichte ihrer Eltern, des jüdischen Mädchens und des farbigen Besatzungssoldaten, der sich in Triest erstmals anerkannt fühlt. Immer wieder setzt sie neu an, hartnäckig wie Scheherazade, denn auch sie erzählt um ihr Leben.

Luisas Familiengeschichte kreist um die Risiera, das ungeheuerliche Zentrum des Romans. ER hatte unmittelbar nach dem Krieg die Inschriften auf den Mauern abgeschrieben, mit denen die Häftlinge die Transporte nach Auschwitz und die Namen der vielen Helfershelfer festgehalten hatten. Er streicht über die Wände der Zellen und des Krematoriums, riecht an ihnen - der Geruch muss noch da sein, denkt er, "er muss wie eine Eidechse in irgendeine Spalte geschlüpft sein". Dieses Motiv des Geruchs, das wie der Rauch 1943/1944 über der Triester Bucht allgegenwärtig ist, prägt sich besonders ein.

Man kann diesen Roman, der den Leser verschlingt und mitreißt, als eine Parabel auf die Gewalt lesen und gleichzeitig als überzeugendes Modell ihrer Umkehrung. In seinem fiebrigen, apokalyptischen Schlussmonolog quält sich der Sammler mit der Frage, ob auch er schuldig geworden ist, als er sich in Hitlers Geburtstagsfeier einschmuggelte oder als Kriegsflaneur während der letzten Kämpfe 1945 in Triest - beide Passagen gehören zu den stärksten des Buches. Ein unscheinbares Detail tröstet ihn schließlich: die durchgelaufenen, blutbefleckten Schuhe, die ein slowenischer Partisan vor einem geplünderten Schuhgeschäft hatte stehenlassen - das bescheidene, sehr humane Bild eines hart erkämpften Sieges.

NICOLE HENNEBERG

Claudio Magris: "Verfahren eingestellt". Roman.

Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend. Hanser Verlag, München 2017. 400 S., geb., 25,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Ein solch umfassendes und in der Rücksichtslosigkeit faszinierendes Alterswerk kann man nicht einfach lesen. Man muss es sich in seiner überwältigenden Vielschichtigkeit und seinem Anspielungsreichtum erarbeiten. Es lohnt sich." Wend Kässens, Wiener Zeitung, 14.10.17

"... ein literarischer Gewaltstreich wider das Vergessen von vielerlei Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ein erzählerisches Ungetüm von essayistischer Prägnanz und sprachlicher Virtuosität, auch in der wendigen Übersetzung von Ragni Maria Gschwend. Claudio Magris ist dabei ganz in seinem Element. Zwischen fiktionalen Schnurren und historischen Fakten breitet er sein immenses Wissen aus." Franz Haas, Neue Zürcher Zeitung, 08.06.17

"Magris (...) mutet seinen Lesern einiges zu an intellektueller Bereitschaft. Er belohnt sie jedoch mit einem faszinierenden, packenden, ganz dicht erzählten Roman über den Zustand der Welt. Sein Buch ist der Gegenentwurf zu allen Kriegen." Monika Melchert, SächsischeZeitung, 17.05.17

"Man kann diesen Roman, der den Leser verschlingt und mitreißt, als eine Parabel auf die Gewalt lesen und gleichzeitig als überzeugendes Modell ihrer Umkehrung." Nicole Henneberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.05.17

"Mit 'Verfahren eingestellt' hat sich Claudio Magris noch einmal selbst übertroffen. Sein großes literarisches Projekt, durch seine Literatur Menschen zu ehren, die von der Geschichte oft übergangen und vergessen werden, setzt er eindrucksvoll fort. Aber nicht nur das. Durch seine immer überraschenden poetischen Bilder und sich verändernden Blickwinkel bewegt er sich durch alle Farbstufen des Krieges und des Friedens." Joachim Dicks, NDR Kultur - Neue Bücher, 08.05.17

"Die von Claudio Magris beschriebene Hölle, auch mit vielen Momenten und Figuren höchster Menschlichkeit und Liebe, gerät zu einem historischen Roman immenser Erzählkraft. Die Übersetzung ins Deutsche ist grossartig." Arnaldo Benini, Neue Zürcher Zeitung, 30.04.17

"Brisant: Claudio Magris' Roman (...) verweist auf ein dunkles Kapitel der österreichischen Geschichte. (...) Es ist eine anthologische Sammlung von Erzählungen, deren Eindringlichkeit uns vergessen lässt, ob es tatsächlich ein Roman geworden ist. Starke Literatur ist es auf jeden Fall." Jochen Jung, Die Presse, 18.03.17
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