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SS-Obergruppenführer Karl Wolff arrangierte 1945 im Zusammenwirken mit dem US-Geheimdienstler Allen Dulles die vorzeitige Kapitulation der Wehrmacht in Italien ("Operation Sunrise"). Ist das der Grund, warum er nie vor ein alliiertes Kriegsgericht gestellt wurde?
Wolff, der vormalige Persönliche Adjutant Himmlers, war als Höchster SS- und Polizeiführer in Italien für zahlreiche kriegsrechtswidrige radikale Maßnahmen gegen Zivilisten mitverantwortlich. Er wäre ein Kandidat für Nürnberg oder spätere Verfahren gegen Kriegsverbrecher gewesen.
Kerstin von Lingen kann auf Grund zahlreicher
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Produktbeschreibung
SS-Obergruppenführer Karl Wolff arrangierte 1945 im Zusammenwirken mit dem US-Geheimdienstler Allen Dulles die vorzeitige Kapitulation der Wehrmacht in Italien ("Operation Sunrise"). Ist das der Grund, warum er nie vor ein alliiertes Kriegsgericht gestellt wurde?

Wolff, der vormalige Persönliche Adjutant Himmlers, war als Höchster SS- und Polizeiführer in Italien für zahlreiche kriegsrechtswidrige radikale Maßnahmen gegen Zivilisten mitverantwortlich. Er wäre ein Kandidat für Nürnberg oder spätere Verfahren gegen Kriegsverbrecher gewesen.

Kerstin von Lingen kann auf Grund zahlreicher neuer US- Dokumente zeigen, wie ein von Dulles aufgebautes Netzwerk von "Old Boys" der amerikanischen und britischen Geheimdienste Wolff vor jeder Verfolgung schützte. Sie war im Kalten Krieg nicht mehr opportun. Ein hochinteressantes Buch über Geheimdienste und alliierte Kriegsverbrecherpolitik.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2010

Unterhändler im Untergang

Zwei hohe SS-Führer bemühten sich im Frühjahr 1945 um Teilkapitulationen an der Westfront. Ihre Motive sind schwer zu durchschauen.

Von Wolfgang Krieger

In den letzten Wochen vor Kriegsende 1945 haben zwei SS-Generäle den Versuch unternommen, durch Teilkapitulationen an der Westfront den unvermeidbar gewordenen Untergang des "Dritten Reiches" abzumildern. Um als Unterhändler glaubwürdig zu erscheinen, retteten sie das Leben von zahlreichen Kriegsgefangenen, inhaftierten Widerstandskämpfern, Juden und anderen KZ-Insassen. Doch was sie letztlich damit bezwecken wollten, ist schwer zu durchschauen. Persönliche Immunität gegen die zu erwartende alliierte Anklage als Kriegsverbrecher? Ein Bündnis mit den Westmächten, um den Krieg gegen die Sowjetunion fortzusetzen? Die Rettung von Nazi-Opfern aus später Einsicht in die ungeheuren Verbrechen des Hitler-Staates?

Der eine hohe SS-Führer war Walter Schellenberg, ein promovierter Jurist, der im Alter von 23 Jahren zugleich in die NSDAP und die SS eintrat, dort im Partei-Geheimdienst SD tätig wurde, rasch avancierte und im Juni 1944 zum jüngsten SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei ernannt wurde. Als Chef der Auslandsspionage des SD (Amt VI) knüpfte er ab 1942 Kontakte zum Schweizer Militärgeheimdienst, wobei es der Schweizer Militärführung unter General Guisan offensichtlich um die Vermeidung eines deutschen Angriffs zu tun war. Zu deren Erstaunen übergab Schellenberg einen von der Gestapo verhafteten Agenten ohne Gegenleistung. Anlässlich eines Geheimtreffens mit dem Chef des eidgenössischen Militärgeheimdienstes, Brigadegeneral Masson, begann er, Friedensfühler zur Kriegsbeendigung auszustrecken.

Noch erstaunlicher ist jedoch, dass Schellenberg auch SS-Chef Himmler zumindest teilweise davon unterrichtete und dass dieser ihn gewähren ließ, obgleich andere SS-Größen wie Ernst Kaltenbrunner und Heinrich Müller versuchten, dem ungeliebten Rivalen daraus einen Strick zu drehen. Nach dem gescheiterten Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944, an dem Geheimdienstler der Abwehr beteiligt waren, wurden die militärischen Geheimdienste weitgehend der SS, und damit Schellenberg, unterstellt, der damit zu "Hitlers Geheimdienstchef" avancierte, aber zugleich noch mehr als bisher auf Himmlers Unterstützung angewiesen war.

Warum Schellenberg immer wieder dort Schutz erhielt und in Himmler eine Lichtgestalt sah - im Unterschied zu Hitler, Kaltenbrunner und Außenminister Joachim von Ribbentrop - , bleibt ein Rätsel, das in der Endphase des Krieges noch erstaunlichere Züge annahm. Denn jetzt nutzte Schellenberg seine Schweizer Kontakte sowie seine ins neutrale Schweden aufgebauten Verbindungen für eine Reihe von waghalsigen Rettungsaktionen, die Tausende von Menschen vor dem sicheren KZ-Tod bewahrten. Sein wichtigster Partner war dabei Graf Folke Bernadotte, Vizepräsident des Schwedischen Roten Kreuzes, der auf sein Drängen insgesamt dreimal mit Himmler konferierte, um KZ-Überlebende aus dem Reichsgebiet transportieren zu dürfen. Mit weißen RK-Bussen und -Lkws wurden zirka 20 000 Personen gerettet, darunter 8000 skandinavischer Herkunft, aber auch 5000 Juden und zahlreiche polnische Frauen.

Mit Akribie und großer Sachkenntnis geht Reinhard R. Doerries den verschlungenen Pfaden dieser Geschichte nach, zieht dazu reichhaltiges, teilweise neues Quellenmaterial heran. Sein Buch zeigt, dass sich Geheimdienstgeschichte zugleich spannend und ohne Effekthascherei schreiben lässt. Schellenberg erntete einigen Dank, wurde jedoch im alliierten Wilhelmstraßen-Prozess 1949 zu sechs Jahren Haft verurteilt. Dabei sagten neben Graf Bernadotte zahlreiche ausländische Kontaktpersonen (auch Vertreter jüdischer Organisationen) zu seinen Gunsten aus, indem sie die Rettungsoperationen im Detail beschrieben. Der seit 1945 inhaftierte, schwerkranke Schellenberg wurde 1950 begnadigt und starb 1952.

Wenn man Schellenberg trotz seiner erheblichen Mitschuld an Untaten des "Dritten Reichs" als tragische Figur empfinden kann, so muss Karl Wolff, der andere spätberufene Friedenssuchende aus der SS-Führung, als Glückspilz gelten. Denn für eine geringere historische Leistung wurde ihm ein erstaunlicher Nachruhm zuteil, sowohl auf der britisch-amerikanischen Seite als auch bei den alten Nazis im Nachkriegsdeutschland. Allerdings ist es eine Legende zu behaupten: "Er starb geachtet 1984, und mit ihm der Verdacht, er sei von Beamten des amerikanischen Nachrichtendienstes vor Strafverfolgung geschützt worden." So lautet das Fazit in Kerstin von Lingens etwas problematischer Studie. Nicht einmal per Indizienbeweis lässt sich der Vorwurf einer gezielten Strafvereitelung durch die CIA erweisen, zumal die unterbliebene Anklage Wolffs vor alliierten Gerichten auch anders erklärbar ist, wie das von der Autorin ausgebreitete Quellenmaterial zeigt. Immerhin verbrachte Wolff zehn Jahre in alliierter und deutscher Haft.

Gegen Kriegsende war Wolff als General der Waffen-SS in Italien der höchste SS-Mann und vor allem für die Partisanenbekämpfung zuständig. Als die Alliierten nach Norditalien vorstießen, erkannte er (wie auch der Wehrmacht-Oberbefehlshaber Südwest Generalfeldmarschall Albert Kesselring und andere) die aussichtslose Situation. Gemeinsam mit den Westalliierten wollten sie "die Bolschewisierung Norditaliens" verhindern und nach Kriegsende einer Anklage als Kriegsverbrecher entgehen. Nachdem Wolffs Glaubwürdigkeit durch die Freilassung von zwei Resistenza-Führern geprüft worden war, traf er am 8. März 1945 in Zürich mit Allen Dulles, dem Leiter des amerikanischen Geheimdienstes OSS (und späteren CIA-Direktor), in Zürich zusammen. Komplizierte Verhandlungen folgten, die erst am 29. April zur Unterzeichnung eines Abkommens führten (Operation Sunrise). Zur Erinnerung: In diesem Moment war Hitler, der alle Friedensversuche strikt verboten hatte, noch am Leben. Somit war eine deutsche Gesamtkapitulation nicht absehbar.

Die italienischen und Schweizer Kontaktvermittler hofften, die Zerstörung der Industriezentren und der Infrastruktur Norditaliens zu vermeiden. Briten und Amerikaner wollten die Tito-Verbände und die Rote Armee aus Italien fernhalten und zugleich die vermutete "Alpenfestung" der Nationalsozialisten einkreisen. Auf alliierter Seite war unklar, ob den Nazi-Unterhändlern dabei eine Art Immunität zugesagt wurde. Ein klarer schriftlicher Beleg existiert nicht. Die von der Verfasserin vorgebrachten Hinweise reichen allenfalls für eine Vermutung aus, werden jedoch durch zahlreiche von ihr selbst zitierte Belege in Frage gestellt. Gewiss entging Wolff einer Anklage in Nürnberg, doch ist zu vermuten, dass den alliierten Anklägern die Beweislage zu dünn erschien.

Wenn überhaupt, wollte man weniger Wolff und die beteiligten alliierten Militärs und Geheimdienstler als die Schweizer Vermittler schonen. Zudem wollte die italienische Regierung möglichst wenig Aufmerksamkeit erzeugen für Kriegsverbrechen in Italien und auf dem Balkan, weil sie die Bloßstellung hoher italienischer Beteiligter durch Titos Kommunisten fürchtete. Vor einer "Verschwörung des Schweigens" zugunsten Wolffs kann also kaum die Rede sein. Unzweifelhaft ist nur, dass man gegenüber Wolff eine gewisse Milde walten ließ, da er sein eigenes Leben und das seiner Familie riskiert hatte, um in Italien Menschenleben zu schonen und den Westalliierten militärisch-politische Vorteile zu verschaffen.

Doch von Straffreiheit konnte keine Rede sein, wie die langjährige Gefangenschaft demonstrierte. Seit 1959 ermittelte die Münchner Staatsanwaltschaft, um Wolff wegen "Beihilfe zum Völkermord in Treblinka" anzuklagen. Er wurde 1964 zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, allerdings 1969 vorzeitig entlassen. Im Unterschied zu anderen Nazi-Größen fand er nie wieder Anschluss an das bürgerliche Leben. Lässt man die angebliche "Verschwörung" der CIA beiseite, so legt Kerstin von Lingen eine spannende Untersuchung über den wechselvollen Umgang mit dem seltsamen Nazi-Idealisten Wolff vor.

Reinhard R. Doerries: Hitler's Intelligence Chief. Walter Schellenberg. Enigma Books, New York 2009. 250 S., 25,- US Dollar.

Kerstin von Lingen: SS und Secret Service. "Verschwörung des Schweigens": Die Akte Karl Wolff. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2010. 260 S., 29,90 [Euro].

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