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Andrea Camilleri nimmt uns mit auf eine Entdeckungsreise in seine Heimat Sizilien:Der Dorfpolizist soll eine Prostituierte in Gewahrsam nehmen und nimmt sie statt dessen zur Frau. Man erfährt, wie man mit Fliegenfang den Jackpot gewinnt. Oder wie ein hungriger Priester das Gesetz umgeht. Spiele und Tischsitten werden erklärt: Die Kinder lösen aus gekochten Eiern das Eigelb und zielen damit auf den geöffneten Mund des Vaters. Wer trifft, bekommt einen Kuss.Von Puppenspielen und Kinobesuchen ist die Rede, von anarchistischen Hutmachern, streikenden Hafenarbeitern, fleißigen Fischern und strengen…mehr

Produktbeschreibung
Andrea Camilleri nimmt uns mit auf eine Entdeckungsreise in seine Heimat Sizilien:Der Dorfpolizist soll eine Prostituierte in Gewahrsam nehmen und nimmt sie statt dessen zur Frau. Man erfährt, wie man mit Fliegenfang den Jackpot gewinnt. Oder wie ein hungriger Priester das Gesetz umgeht. Spiele und Tischsitten werden erklärt: Die Kinder lösen aus gekochten Eiern das Eigelb und zielen damit auf den geöffneten Mund des Vaters. Wer trifft, bekommt einen Kuss.Von Puppenspielen und Kinobesuchen ist die Rede, von anarchistischen Hutmachern, streikenden Hafenarbeitern, fleißigen Fischern und strengen Müttern. Und von Onkel Emanuel, der in einem gewaltigen Gewitter sein Boot verliert und in ein nicht endendes Gelächter ausbricht. Lauter Menschen, die sich anders benehmen, als es vom Staat und seinen Erziehern vorgesehen ist. Leonardo Sciascia und Luigi Pirandello treten auf und bestätigen Camilleris Weltsicht: Auf Sizilien ist alles anders.
Autorenporträt
Andrea Camilleri, geboren 1925 in Porto Empedocle in der sizilianischen Provinz Agrigento, lebt in Rom. Er ist Schriftsteller, Essayist, Drehbuchautor, Theaterregisseur, Erfinder des Commissario Montalbano und Verfasser mehrerer sehr erfolgreicher historischer Romane über sein Heimatland Sizilien.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2001

Vom Vorteil schiefer Mauern
Sizilianisches Taschenlexikon: Andrea Camilleris "Fliegenspiel"

Welches Kapital hätte sich aus dieser Szene nicht schlagen lassen: Unbekannte richten auf der Terrasse eines Cafés ein Blutbad an. Doch was sagt, leichenblaß, einer der Überlebenden zu einem anderen: "Die haben ja eine ganz schön üble Mischung (muzziata) angerichtet." Auf diese Redewendung kam es an. So etwas ist eben nur auf Sizilien möglich. Zumindest machen es die 54 ganz kurzen behenden Anekdoten glauben, die Andrea Camilleri unter dem Titel "Fliegenspiel" eingesammelt hat.

Gewiß, es sind nur Miniaturen für die kleine Lektüre zwischendurch; nichts Weltbewegendes, nichts Neues von den Abseitigkeiten der Menschennatur, keine Sozialfälle, eher das Leben von Tag zu Tag. Und doch bleiben sie nicht belanglos. Langsam, Stück um Stück, dringt ihre große, irritierende Ruhe in der Hinnahme des Lebens durch, wie es ist. Das will einiges heißen in Sizilien, denn nichts, sagen die Beispiele ein ums andere Mal, ist eigentlich so, wie es sein sollte. Deshalb kehrt Camilleri die Beweisführung um. Normal ist, daß das Leben seinen unebenen Gang geht, voller Abweichungen ins Menschlich-Allzumenschliche. Wozu Gott, die Welt oder die Gesellschaft anklagen? Die Kasuistik des Alltags hat ihre eigenen Regeln - der Unregelmäßigkeit. Es kommt eben vor, daß ein Polizist, der eine durchreisende Hure in Gewahrsam nehmen soll, sie bei sich unterbringt, weil sie friert, sie aber dann heiratet.

Eine Geschichte, kurz vor Schluß, erscheint wie eine Parabel auf die Wahrheit, um die es hier geht. Einem Maurer kam es auf ein paar Zentimeter mehr oder weniger nicht an. So trugen alle Fischerhäuschen sein Markenzeichen: Sie hatten einen Fehler und waren schief. Bei der großen Überschwemmung aber blieben sie als einzige unversehrt. Das Gerade, Lotrechte, Schlüssige mag zwar als Maß in Menschendingen gelten. Tatsächlich verläuft das Leben selbst, wie Camilleri es erfaßt, auf Umwegen, unvorhersehbar. Gelebte Wahrheit gibt es nur von Fall zu Fall; sie kommt höchstens lokal vor und ist meist ohnehin das Ergebnis von "unlogischen Schlußfolgerungen". Deshalb, und darin haben die Anekdoten ihren unausgesprochenen Rückhalt, sympathisieren sie insgeheim mit dem Irregulären der Phantasie. Zumindest deutet dies das Motto an - ein Zitat von Franz Brentano. Immer also, wo sich einer vertut, aus der Art schlägt oder mit Mutterwitz eine Situation rettet, setzt Camilleri unsere unberechenbare Natur in ihr kreatürliches Recht.

Das sizilianische Design seiner Exempel darf allerdings nicht täuschen. Sie sind, unmerklich, aber konsequent durchaus "modern". Was etwas ist und bedeutet, hängt davon ab, wie es besprochen wird. Aber was heißt das? "Der Sizilianer weiß sehr genau, daß er nicht einmal Worten trauen darf." Also muß er weniger die Worte als die Geschichten kennen, auf die sie zutreffen. Da hilft auch kein "Direktwörterbuch des Sizilianischen". Und genau daran entzündet sich Camilleris artgerechtes Erzählen: Sein Buch ist ein Taschenlexikon von Redensarten, geflügelten Worten, Aussprüchen, Spitznamen und Flüchen aus der Gegend, aus der er selbst kommt - ein Stück literarische Heimatpflege und doch zugleich eine kleine Anthologie menschlicher Grundreaktionen. Wittgenstein hätte sein Vergnügen an diesen urwüchsigen "Sprachspielen" gehabt.

Im Grunde erinnern sie an Kalendergeschichten von früher. Zugleich hat Camilleri jedoch nicht minder die sizilianischen Novellen seiner Landsleute Leonardo Sciascia, Luigi Pirandello oder Natalia Ginzburgs "Familienlexikon" im Blick. Der Autor hat seine literarischen Ambitionen allerdings sehr diskret behandelt. Selbst Pirandello ist in eine Redewendung verwandelt ("Pirandellos verschobene Einfälle"). Ohne Zweifel war er geachtet, aber ohne Verständnis bei den Leuten. Als ein Bauer im Fernsehen eine Zeitlang, ohne es zu wissen, seinen "Heinrich IV." sah, meinte er zum Autor: "Kommt mir vor wie Pirandellos verschobene Einfälle." Zwanglos führt sich Camilleri so selbst in sein Mosaik ein. Aber er bleibt Chronist, der den Leuten aufs Maul schaut, weil er sie mag; ihre Nähe sucht, weil er inzwischen einer von draußen geworden ist. Dieser Doppelblick liegt, ganz zwanglos, über den Begebenheiten. Zum Glück tritt der Regisseur nur selten hinter dem Registrator hervor und bekennt sich zu der "schwierigen Kunst des Nichtgesagten und Intuitiven". Mehr solcher gewichtiger Worte würden die kurze, narrative Erholung von den Beschwerlichkeiten der literarischen Moderne stören, den diese kleinen Genrebilder bieten.

WINFRIED WEHLE

Andrea Camilleri: "Fliegenspiel". Sizilianische Geschichten. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2000. 93 S., geb., 22,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Von den "Beschwerlichkeiten der Moderne" erholen konnte sich Rezensent Winfried Wehle bei der Lektüre dieser "Miniaturen für zwischendurch". Manchmal erinnerten sie ihn "an Kalendergeschichten von früher". Beeindruckt haben Camilleris Geschichten ihn dann erst auf den zweiten Blick. Als nämlich ihre "große, irritierende Ruhe" durchgedrungen ist. Camilleris Buch, meint er, ist auch ein "Taschenlexikon von Redensarten, geflügelten Worten, Aussprüchen, Spitznamen und Flüchen" aus Sizilien. Und auch eine "Anthologie menschlicher Grundreaktionen". An den "urwüchsigen Sprachspielen" des Buches hätte auch Wittgenstein seine Freude gehabt. Auf eine Weise, meint Wehle, hat Camilleri auch Landsleute wie Pirandello oder Natalia Ginzburg im Blick. Gott sei Dank allerdings habe er seine "literarischen Ambitionen diskret" behandelt. Sonst wäre es wahrscheinlich aus gewesen, mit der Wehrles Erholung von den Beschwerlichkeiten der Moderne.

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