Grenzüberschreitung
Saniye ist vom Vater ihrer Tochter Derdâ noch vor der Geburt verlassen worden. Als es in Derdâs Internat zu einem tödlichen Unfall kommt, der ihrer Tochter angelastet wird, entledigt sich Saniye der Verantwortung für ihre Tochter, indem sie die Elfjährige mit Bezir verheiratet.
In Saniyes Dorf schickt man Mädchen sowieso nicht zur Schule. Als verheiratete Frau würde Derdâ…mehrGrenzüberschreitung
Saniye ist vom Vater ihrer Tochter Derdâ noch vor der Geburt verlassen worden. Als es in Derdâs Internat zu einem tödlichen Unfall kommt, der ihrer Tochter angelastet wird, entledigt sich Saniye der Verantwortung für ihre Tochter, indem sie die Elfjährige mit Bezir verheiratet. In Saniyes Dorf schickt man Mädchen sowieso nicht zur Schule. Als verheiratete Frau würde Derdâ wenigstens von den Müttern und Tanten des Schwiegerclans beaufsichtigt werden. Aus einem Dorf stammend, über das ein Aga als Clanchef herrscht und in dem zwischen Dorfschützer und Terrorist kein Unterschied besteht, gelangt Derdâ mit ihrem Mann nach London. Derdâ wird von ihrem Mann geschlagen, vergewaltigt, ins Haus gesperrt und spricht auch nach Jahren noch kein Wort Englisch. Fünf Jahre später kann die noch nicht volljährige "Ehefrau" aus ihrem Gefängnis flüchten, nachdem ihr Besitzer von einem Auftragskiller getötet worden ist. Derdâ beabsichtigt, den Spieß umzudrehen und sich mit einem grandiosen Rundumschlag an allen zu rächen, die sie bisher verletzt haben. Sie erkennt schnell, dass sich mit bizarren sexuellen Gewohnheiten ihrer Mitmenschen viel Geld verdienen lässt. Derdâs Rundumschlag könnte jedoch so interpretiert werden, dass sie nur ihr gewohntes Verhaltensmuster als Opfer von Gewalt beibehält, weil sie nichts anderes kennt.
Während Derdâ mit knapp 18 in England zum ersten Mal in ihrem Leben eine Person trifft, die es gut mit ihr meint, schlägt sich in Istanbul ein Junge als Wasserträger auf einem Friedhof durch. Sein Name: Derda, nur der letzte Buchstabe unterscheidet seinen Namen von dem des zwangsverheirateten Mädchens in London. Derda lebt auf dem Friedhof möglichst unauffällig, um nicht als elternloses Kind entdeckt und ins Heim geschickt zu werden. Als Derda zu groß ist, um bei den Trauernden noch Mitleid auszulösen, arbeitet er bei einem Verkäufer von Raubdrucken. Derdas Erkennen, dass er den Grabstein eines Autors seit Jahren kennt, dessen Bücher er nun transportiert, regt ihn zwar zum Lesenlernen an, bringt ihn in der Folge aber auch für Jahrzehnte ins Gefängnis.
Mit "Extrem" überschreitet Hakan Günay Grenzen des Erträglichen. Zärtlich in der Darstellung seiner Figuren, ungeheuer sarkastisch gegenüber dem "System", das die geschilderte Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern zulässt, schreckt er weder vor einem respektlos wirkenden Umgang mit Leichenteilen zurück noch vor der Schilderung bizarrer sexueller Techniken. Das Ausmaß an Gewalt und Erniedrigung, das seine Figuren erleiden müssen, ist weder zur Einfühlung der Leser in die Figuren noch für einen Erkenntnisgewinn nötig. Mir fällt niemand ein, dem ich das Buch empfehlen würde.