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Ein Vater. Ein Sohn. Libanon-Krieg 2006. Über den Sinn des Schmerzes, wenn der eigene Sohn stirbt.
David Grossman erhielt die Nachricht, dass sein 20jähriger Sohn Uri von einer Panzerabwehrrakete zerfetzt worden war, als er sich gerade öffentlich für das Ende des Libanonkrieges 2006 einsetzte. Nun erzählt er diese Geschichte: Als Tragödie eines gebrochenen Mannes. Entstanden ist eine vielstimmige, mythische, an antike Stoffe erinnernde Erzählung, ein Buch der Trauer, eine universale Klage - und eine so wunderschöne wie dunkle, einzigartig berührende Hymne auf das Leben.

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Produktbeschreibung
Ein Vater. Ein Sohn. Libanon-Krieg 2006. Über den Sinn des Schmerzes, wenn der eigene Sohn stirbt.

David Grossman erhielt die Nachricht, dass sein 20jähriger Sohn Uri von einer Panzerabwehrrakete zerfetzt worden war, als er sich gerade öffentlich für das Ende des Libanonkrieges 2006 einsetzte. Nun erzählt er diese Geschichte: Als Tragödie eines gebrochenen Mannes. Entstanden ist eine vielstimmige, mythische, an antike Stoffe erinnernde Erzählung, ein Buch der Trauer, eine universale Klage - und eine so wunderschöne wie dunkle, einzigartig berührende Hymne auf das Leben.
Autorenporträt
Grossman, DavidDavid Grossman, geboren 1954 in Jerusalem, studierte Philosophie und Theater an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er gehört zu den bedeutendsten Erzählern der israelischen Gegenwartsliteratur. Seine Romane, Sach- und Kinderbücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt. 2010 erhielt Grossman den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels; 2017 den Man Booker International Prize für »Kommt ein Pferd in die Bar«. Zuletzt erschien der Roman »Was Nina wusste« im Carl Hanser Verlag, München.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Dieses Buch muss als Nachtrag zu David Grossmans vorigem Roman "Eine Frau flieht eine Nachricht" verstanden werden, erklärt Rezensentin Natascha Freundel, noch immer erschüttert von der tragischen Koinzidenz: In jenem Roman erzählte der israelische Schriftsteller von einer Frau, die Mitteilung entkommen will, dass ihr Sohn gefallen ist. Während Grossman dies schrieb, fiel sein eigener Sohn. Nun stimmt er also die Totenklage für seinen eigenen Sohn an, indem er einen ganzen Chor trauernder Eltern eine Stimme verleiht. Zwar droht in den Augen der Rezensentin, diese "mit Pathos aufgeladene Symbolik" durchaus in den Kitsch abzugleiten, doch möchte sie dies dem Autor nicht übelnehmen: "Wer kennt die richtigen Worte für den Tod des eigenen Kindes?"

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.2013

Die letzten Erinnerungen
Wenn Kinder vor den Eltern sterben - der israelische Autor David Grossman hat ein bewegendes Buch über die Willkür des Todes geschrieben

Die Stimmen der Trauernden verschmelzen allmählich zu einem Chor der "Gehenden".

"Aus der Zeit fallen" ist Prosa, ist Lyrik, ist Drama - ein Klagegesang, der an antike Tragödien erinnert.

"Am Abend des 12. August 2006, wenige Stunden vor dem Ende des Libanonkriegs, starb mein Sohn Uri zusammen mit den drei Männern seiner Panzerbesatzung durch eine Rakete der Hizbullah", hieß es vor zwei Jahren in der Dankesrede, mit welcher der israelische Schriftsteller David Grossman in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm. "Gerne würde ich Ihnen von Uri erzählen", sagte Grossman, "aber das kann ich nicht. Nur so viel: Stellen Sie sich einen jungen Mann am Anfang seines Lebensweges vor, mit all seinen Hoffnungen, seinem Feuer, seiner Lebensfreude, mit der Arglosigkeit, dem Humor, den Wünschen eines jungen Mannes. So war er. Und so waren Tausende und Abertausende anderer Israelis, Palästinenser, Libanesen, Syrer, Jordanier und Ägypter, die ihr Leben in diesem Konflikt verloren haben und weiterhin verlieren."

Und er erzählte, wie er einen Tag nach der Trauerwoche an seinen Schreibtisch zurückgekehrt war und entdeckt hatte, dass Schreiben der beste Weg war, gegen die Willkür zu kämpfen, die dieser Tod für ihn bedeutete. Es gebe Situationen, in denen die einzige Freiheit, die einem bleibe, die des Beschreibens sei, sagte er. Die Freiheit, mit eigenen Worten das Schicksal zu beschreiben, das über einen verhängt sei.

Wer damals Grossmans Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" schon gelesen hatte, der im selben Jahr erschienen war, ein Roman, so eindrucksvoll und vielstimmig, dass er alles übertraf, was man in den Jahren davor an Romanen sonst noch hatte lesen können, der wusste schon vom Tod des Sohnes. Denn auf eine unheimliche Weise war die Geschichte, die dieses Buch erzählte, noch während Grossman an ihr schrieb, von der Wirklichkeit eingeholt worden: die Geschichte einer Frau, deren Sohn sich freiwillig für den Kriegsdienst verpflichtet und die eine Vorahnung hat, dass er sterben wird; dass die Überbringer der Nachricht seines Todes kommen werden. Eine Nachricht gibt es nur, wenn es einen Empfänger gibt, denkt die Frau und beschließt einfach, nicht zu Hause zu sein. Wenn sie nicht da sei, könne die Hiobsbotschaft nicht ankommen, denkt sie. Im wahren Leben standen dann die Überbringer der Todesnachricht von David Grossmans Sohn Uri vor der Tür in Jerusalem.

"Mit einem Schlag schickte man uns in die Verbannung. / Sie kamen nachts, klopften an unsere Tür, / sagten: Um die und die Uhrzeit, / an dem und dem Ort, wurde Ihr Sohn / auf die und die Art . . .", liest man jetzt in Grossmans neuem Buch "Aus der Zeit fallen", das morgen in der deutschen Übersetzung erscheint. Natürlich denkt man sofort an Uri. An die Nachricht, vor der David Grossman nicht hat fliehen können. Man muss auch deshalb daran denken, weil es hinten auf dem Rücken des Buches dick draufsteht: Nach dem Tod seines Sohnes habe der Autor nun ein "Buch über eine Grenzerfahrung" geschrieben, über den "Verlust eines geliebten Menschen". Das hat er auch. Nur ist es eben nicht Uris und seine Geschichte, oder besser, es bleibt nicht bei dieser. Denn so wenig, wie man "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" im Blick auf seinen Wirklichkeitsbezug gelesen hat, sondern sich lesend gleich verstrickt sah in ein Epos über ein ganzes Land, so wenig nimmt man "Aus der Zeit fallen" als persönliche, vor allem autobiographische Geschichte war. Darin besteht die herausragende Erzählkunst von David Grossman: Er erschafft Echoräume für ganz und gar unterschiedliche Stimmen, von denen die autobiographische nur eine ist. Nur bedingt geht es ihm darum, von der eigenen Geschichte Zeugnis abzulegen, dazu ist er zu bescheiden, zu wenig narzisstisch. Es wäre ihm auch zu wenig. Vielmehr zielt die literarische Verdichtung darauf ab, in der Vielstimmigkeit, die von Flüstertönen bis hin zu umgangssprachlicher Härte reicht, so etwas wie eine Melodie erkennbar zu machen, die alles umfasst.

In "Aus der Zeit fallen" hat er dafür jetzt eine für ihn neue Form gewählt. Eine Art Mischform aus Prosa, Lyrik und Drama. Ein Klagegesang, der aufgrund des ab der Mitte des Buches auftretenden Chors stellenweise an antike Tragödien erinnert, dann aber auch wieder an ein modernes Hörspiel: "Erzählung für Stimmen" heißt im hebräischen Original der Untertitel. Grossman hat in den achtziger Jahren bei "Israel Radio" gearbeitet, als Nachrichtenredakteur und Hörspielautor, bis ihm 1989 gekündigt wurde, weil er Jassir Arafats Ankündigung, einen eigenen Palästinenserstaat zu gründen, als Spitzennachricht bringen wollte. Elemente des Hörspiels findet man seither in nahezu all seinen Romanen. In "Aus der Zeit fallen" beginnt das damit, dass die auftretenden Figuren nach Jahren des Schweigens ihre Stimmen überhaupt erst wiederfinden. Stimmen, die, wenn sie nicht völlig weg waren, bloß noch heiser geklungen haben, "verglimmt zu einem Flüstern".

Es gibt - diesen Satz hört man dahingesagt immer wieder - für Eltern wohl nichts Schlimmeres, als wenn das eigene Kind vor ihnen stirbt. Der Tod des geliebten Kindes ist für sie das größte Unglück. Aber was bedeutet dieser Satz genau? Was macht die Trauer mit Eltern, mit ihrer Beziehung zueinander und zur Welt? Es sind diese Fragen, die David Grossman in "Aus der Zeit fallen" stellt, wenn er zu Beginn, beim gemeinsamen Abendessen, eine Frau auftreten lässt und einen Mann, der mit einem Ruck seinen Teller von sich schiebt und sagt, dass er gehen müsse, "zu ihm, nach dort", weil er, auch nach fünf Jahren, die seit dem Tod des gemeinsamen Sohnes vergangen sind, den "Galgen der Sehnsucht", sein Baumeln "zwischen den Toten und den Lebenden", nicht mehr aushalte. Er geht aus dem Haus, schließt hinter sich die Tür, lässt die Frau im "Hier" zurück.

Das klingt nach einer realistischen Szene. Ein Tisch. Ein Abendessen. Ein Mann, der geht. Indem er sie lyrisch erzählt, kappt Grossman die Verbindung zum psychologischen Realismus aber schon in den ersten Zeilen. Auch verzichtet er auf Orts- und Zeitkoordinaten: Anders als in "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" geht es nicht um Israel, nicht um die politische "Lage", nicht um junge Militärs oder das Gefühl der Bedrohung, dem man in diesem Land nicht entkommt. Sondern um eine mythologische Urszene: um die Reise in die Unterwelt, den Wunsch, Verbindung mit dem geliebten Toten aufzunehmen. Rilkes Gedicht "Orpheus. Eurydike. Hermes" wird an einer Stelle zitiert.

Der Autor, der auf diese Weise eine Topographie vom "Land der Verbannung" anlegt, vom Exil, das über jene verhängt ist, die ihr Kind verloren haben, lässt seinen Mann auf dem Weg in die Unterwelt dabei nicht allein. Gehend begegnet er anderen Männern und Frauen aus allen sozialen Schichten, Eltern, die sein Schicksal teilen: einer Hebamme, deren kleine Tochter gestorben ist, einem Rechenlehrer, dessen Sohn bei einem Streich, der schiefging ("Badewanne, Rasierklinge, durchgeschnittene Adern, beim Spielen"), ums Leben kam, dem "Chronisten der Stadt", dessen Tochter vor seinen eigenen Augen ertrank. Und der Gestalt eines Zentauren, in der griechischen Mythologie ein Mischwesen aus Pferd und Mensch, die Grossman hier aber als halb Schreiber, halb Schreibtisch porträtiert. Also einen mit seinem Schreibtisch zusammengewachsenen Schriftsteller, der versucht, das Unsagbare, das auch über ihn hereinbrach, in Worte zu fassen: "Kneten will ich es, dieses es, ja, das, was wie ein Blitz einschlug und mir alles verbrannt hat, auch die Wörter, verflucht noch mal, die Wörter, die es mir hätten beschreiben können, die hat es auch verbrannt, dieses Monstrum." Ein Aufschrei des Entsetzens angesichts des Todes überall ist "Aus der Zeit fallen" aber nicht. Der lyrische Ton, den Anne Birkenhauer in beeindruckender Weise ins Deutsche übertragen hat, schafft im Gegenteil Distanz und verwandelt die Erzählung in einen Klagegesang, von dem man beim Lesen gerade dort erschüttert wird, wo die Erinnerungen an ein Kind ganz plötzlich konkret werden: "wie er geschwitzt hat, nach dem Spiel, erinnerst du dich, ganz und gar glühend und entflammt".

So verschmelzen die Stimmen der Trauernden allmählich zu einem Chor der "Gehenden". Nur der Zentaur bleibt, auf der Suche nach Wörtern, am Schreibtisch sitzen. "Er ist tot. Er ist tot, doch sein Tod, sein Tod ist nicht tot", begreift am Ende der Mann, der zu Beginn aufbrach, und überlässt die letzten Worte dem Zentauren. Es sind die wohl schönsten Verse in einem weiteren großen Buch von David Grossman: "Und mir bricht es das Herz, mein Augenstern, / wenn ich dran denk, dass ich / - ist's möglich!? - / dass ich dafür die Worte fand."

In seiner Rede zum Friedenspreis hat David Grossman die Rückkehr an den Schreibtisch als Freiheit beschrieben, die ihm blieb, um gegen die Willkür des Todes anzukämpfen. Wie schwer diese Freiheit, sosehr sie Rettung bedeuten mag, zu ertragen ist, darauf deuten diese letzten Worte des Zentauren hin. Sie brechen einem das Herz.

JULIA ENCKE

David Grossman: "Aus der Zeit fallen". Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, Hanser, 128 Seiten, 16,90 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.02.2013

Die Sprache des Zentaurs
Im August 2006 fiel ein Sohn des israelischen Schriftstellers David Grossman in Libanon – in seinem neuen Buch erkundet der Vater das Leben mit den Toten
Die Stimmen namenloser Figuren – „der Mann“, „die Frau“, „der Chronist der Stadt“ – ziehen den Leser in die verschattete Welt dieses Buches hinein. Sie sprechen wie Bühnenwesen, rhythmisiert, in gebrochenen Zeilen. Nach wenigen Seiten fällt ein Satz, der wie ein Punktstrahler die Szene erhellt: „zusammen wurden wir auf der anderen Seite geboren, / ohne Worte, ohne Farben / und lernten das Negativ des Lebens leben“.
  Damit verdichtet der Mann das Gesetz, unter dem sein Leben und das seiner Frau steht, zu einer Formel. Zuvor hat er berichtet, wie die Boten kamen und die Todesnachricht brachten. Es fällt kein Name, aber es ist offenkundig, dass es der Sohn des Paares ist. Und dass Zeit vergangen ist seitdem, fünf Jahre des Schweigens.
  Das Buch beginnt damit, dass dieses Schweigen gebrochen wird so wie man ein Fasten bricht. Es beginnt mit der Ankündigung des Mannes, er wolle aufbrechen, um „ihm“ zu begegnen, in einem „dort“, von dem er nicht weiß, wo es ist und ob es überhaupt existiert. Das „Negativ des Lebens“ ist in diesem Buch nicht der Tod. Sondern das Leben, in das sich der Tod eingenistet hat und das dadurch wie in einem fotografischen Labor verwandelt wurde: das Helle wurde dunkel, das Dunkle hell, die Sprache zum Schweigen, und der Moment der Todesnachricht zur Geburtsstunde dieses Lebens im Negativ.
  Der 1954 in Jerusalem geborene israelische Schriftsteller David Grossman ist weit hinaus über sein eigenes Land ein bekannter Mann. Seine Romane werden in viele Sprachen übersetzt, die Mahnungen und Interventionen, mit denen er seit langem die Politik Israels begleitet, damit es friedensfähig bleibt, werden von der internationalen Presse registriert und häufig nachgedruckt. Im Herbst 2010 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Im Jahr zuvor war sein Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ auf Deutsch erschienen. Während der Arbeit an diesem Buch, im August 2006, hatten David Grossman und seine Frau erfahren, dass ihr Sohn Uri in einer der letzten Militäraktionen des Krieges im Südlibanon getötet worden war. Wenige Tage zuvor hatte sein Vater vom damaligen Ministerpräsidenten Ehud Olmert die Einstellung der Kampfhandlungen gefordert.
  David Grossman schrieb den Roman zu Ende. Sein englischer Titel „To the End of the Land“, nahe am Original, deutet an, wie wichtig darin die Wanderung der Hauptfigur durch Israel ist, die Durchquerung der Landschaften, während im Erzählen alles aktuelle Geschehen in die Erinnerung an die Kriege eingebettet ist. Dieses neue Buch nimmt die Wanderung ans Ende des Landes und durch die eigene Innenwelt in sich auf. Aber es ist kein Roman, es ist, so der Untertitel des Originals, „eine Erzählung für Stimmen“, die von der ersten Zeile an der Bewegung folgt, die der Titel verspricht: „Aus der Zeit fallen.“
  Diese Bewegung führt aus der Welt heraus, in der David Grossman ein berühmter Schriftsteller ist, heraus aus der Zeitgeschichte, die ihn in die ideale Hauptfigur eines aktuellen Romans verwandelt hat: in den Schriftsteller, den die Todesnachricht erreicht, während er über die Flucht vor ihr schreibt. David Grossman will dieser Romanheld nicht sein. Er verweigert den O-Ton der Zeitzeugenschaft, löst sich auf in das Stimmengeflecht seiner Figuren, und die Form, die er dafür gefunden hat, verhält sich zu der des Romans wie das Leben im Negativ des Lebens, von dem sie berichtet, zu seinem unerreichbaren Gegenüber. Die Stimmen messen aus, setzen ins Bild, was es heißt im Negativ des Lebens zu leben. Eines der Worte, die sie für ihre Welt benutzen, ist: Exil.
  „Mit einem Schlag schickte man uns in die Verbannung, / Sie kamen nachts, klopften an unsere Tür, / sagten: Um die und die Uhrzeit / an dem und dem Ort, wurde Ihr Sohn / auf die und die Art . . .“. So verschlucken die Stimmen die konkreten Daten und Umstände. Ihre Welt ist nicht die der datierbaren Ereignisse, sie erkunden die Topographie ihrer Verbannung in einer Sprachbewegung der Wiederholungen, der spiralförmigen Vergewisserungen über die Gesetze, nach denen die Toten entschwinden und doch bei aller Unnahbarkeit in ihr neues Leben, das des Nicht-Daseins, der spürbaren Abwesenheit hineinwachsen. Und die im Negativ Lebenden wachsen mit ihnen in dieses neue Leben der „Dunkelstille“ hinein.
  David Grossman hat einen Chor von Gestalten erfunden, die als wunderliche Karawane ins Grenzgebiet zu dem unerreichbaren „dort“ ihrer toten Kinder vorstoßen und dort mit der Kraft ihrer Sehnsucht aus einer Felswand deren Gesichter herausmeißeln. An die Seite des Mannes, der aufbricht, und der Frau, die dableibt, treten ein Schuster, der irgendwann die Nägel im Mund, die ihn im Schweigen festhalten, ausspuckt, und seine Frau, eine stotternde Hebamme, ein greiser Rechenlehrer und eine Netzflickerin und ein Herzog, der es irgendwann aufgibt, über die Erinnerungen Regiment zu führen.
  Die Stimmen dieser Figuren – Anne Birkenhauer nähert sie nicht selten den jambischen Metren deutscher Verssprache an – kennen den Tonfall alter Totenklagen und Beschwörungen, aber sie kennen auch die Worte der Gegenwart und die aktuelle Einrichtung eines Kinderzimmers, mit Turnschuhen und Monopoly, und wenn sie von der Wiederbelebung der Abwesenden träumen, kommt ihnen die Gentechnik in den Sinn: „ich, auf meine Art, versuch es weiter: / wiederbelebe, wecke, klone unaufhörlich / jene Zellen von dir, die noch in mir leben, / letzte Abdrücke deines Daseins . . . “.
  Es gibt zwei Figuren in diesem Buch, die einen Sonderstatus innehaben. Auch sie haben ein Kind verloren und leben im Negativ des Lebens, aber sie sind zudem Figuren des Schreibens: der „Chronist der Stadt“ und der „Zentaur“. Der erste kommt daher wie ein Beamter, der die Stimmen der anderen im Auftrag des Herzogs aufzeichnet. Der andere, der Zentaur, ist die Schlüsselfigur des Buches, er ist die Verkörperung der Sprachbewegung, aus der es hervorgegangen ist.
  Einmal findet der Chronist im Stadtarchiv die Akte des Zentaurs. Und es erweist sich, dass er früher einmal Geschichten geschrieben hat, auch Gedichte, Balladen und ein langes Poem. Nun aber, nach dem Tod seines Kindes, verweigert er das Erzählen, verweigert die Antworten auf die zudringlichen Fragen nach seinem Sohn. Er ist, wie jeder Zentaur, ein Doppelwesen, Schriftsteller und Vater, der seinen Sohn überlebt hat, zugleich. Aus dieser Doppelnatur resultiert seine Gestalt, in der ein menschlicher Kopf und Oberkörper mit dem Schreibtisch verwachsen ist. Er ist darum in seinem Zimmer gefangen, kann nicht wandern wie der Mann, der aufgebrochen ist, wie die Karawane. Der Schriftsteller in ihm nimmt den Vater, der er zugleich ist, in Geiselhaft, bis es ihm am Ende gelingt, die Geschichte zu schreiben. Diese Geschichte, die keine gewöhnliche ist, sondern eine Erzählung in Stimmen, trägt den Titel „Aus der Zeit fallen“. Sie ist das Buch, das wir lesen.
  Der Zentaur hat, meist in Prosa, die rüdeste, wütendste, frechste Stimme in diesem Buch. Nie würde er sich interviewen lassen. Nicht den kleinsten Schreibfinger will er denen reichen, die sich an der Hölle und den Schmerzen der anderen berauschen. Der Zentaur weiß: „Um mich selbst, / allein um meine Seele kämpf ich hier /gegen mein Ausgelöschtwerden, / gegen das Abstumpfen / und die Verringerung. / Mein Leben hängt jetzt ganz / am dünnen Faden der Feder.“
  Dieser Pegasus, dem die Flügel abhanden gekommen sind und die Pferdehufe in Schreibtischbeine verwandelt worden sind, ist ein entfernter Verwandter der modernen Wiedergänger antiker Mythen, die Franz Kafka ersonnen hat. Wie der Bucephalos Alexander des Großen, den Kafka als Anwalt wiederauferstehen lässt, ist der Zentaur ein Streitross. Mit ihm ist der Autor David Grossman ausgezogen, um die Welt des negativen Lebens zu vermessen, ihre Bewohner vor dem Umschlag von Schmerz in Wahn zu schützen.
LOTHAR MÜLLER
David Grossman: Aus der Zeit fallen. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Carl Hanser Verlag, München 2013. 128 Seiten, 16,90 Euro.       
Aus Chor aus Stimmen zieht aus,
eine Karawane, welche das
Reich der Verbannung vermisst
„ich wecke, klone unaufhörlich /
jene Zellen von dir, /
die noch in mir leben“
David Grossman, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels im Oktober 2010 in Frankfurt am Main.
FOTO:  REGINA SCHMEKEN
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Die Bücher David Grossmans, so unterschiedlich sie sind, machen begreiflich, was es bedeutet, in Israel seine Heimat zu haben, und wie allgegenwärtig dort Verlust und Trauer sind." Claudia Voigt, Der Spiegel, 28.01.13

"Der Zusammenhang zwischen Grossmans Tragödie und diesem Buch ist so ungeheuerlich, dass der Außenstehende kaum mehr als seinen Umriss wahrnehmen kann. Kein Kommentar wird solchem Unglück gerecht. Nur David Grossman selbst darf ihm noch etwas hinzufügen." Jakob Hessing, Die Welt, 09.02.13

"Jeder, der nach dem Tod eines geliebten Menschen dessen Stimme noch einmal gehört hat, wird Grossman für dieses Buch dankbar sein." Natascha Freundel, Frankfurter Rundschau, 28.01.13

"Die Welt dieses Werks ist eine Zwischenwelt, ein bisschen Märchenreich, ein bisschen Mittelalter, ein ortloser Raum, mythisch und dunkel." Uwe Stolzmann, Neue Zürcher Zeitung, 20.06.2013

"In 'Aus der Zeit fallen' hat der israelische Autor den Schicksalsschlag auf atemberaubende Weise verarbeitet. Das Buch ist Totenklage trauernder Eltern, vielstimmiges Oratorium und Hymne an das Leben zugleich." Valeria Heintges, Focus, 26.01.13

"Grossmans Buch ist ein ergreifende, erschütternde Trauer-Arbeit." Britta Heidemann, Westdeutsche Allgemeine, 28.01.13

"'Aus der Zeit fallen' ist ein berührend wahres Buch vom Schock der Todesnachricht über den schmerzhaften Prozess, sie zu begreifen und sie als Teil des Lebens anzuerkennen." Elke Schröder, Neue Osnabrücker Zeitung, 30.01.13

"'Aus der Zeit fallen' ist kein Buch über den Tod, sondern ein vielstimmiges, wahrhaftiges und poetisches Werk über die Trauer, und die ist den Lebenden vorbehalten." Felicitas von Lovenberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.02.13

"Ein bewegendes Buch über die Willkür des Todes." Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 27.01.13

"Jeder, der nach dem Tod eines geliebten Menschen dessen Stimme noch einmal gehört hat, wird Grossman für dieses Buch dankbar sein." Natscha Freundel, Frankfurter Rundschau, 28.01.13
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