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© BÜCHERmagazin, Katharina Manzke
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die Straße als Kampfzone: In seinem Debütroman „Guter Junge“ erzählt der irische Autor Paul McVeigh
mit beeindruckender Sprachkraft von einer Kindheit im Belfast der Achtzigerjahre
VON HANS-PETER KUNISCH
Wer sich Anfang der Neunzigerjahre ein eigenes Bild von den Verhältnissen in den umkämpften Vierteln Belfasts machen wollte, tat gut daran, schnell zu sein. Ob zu Fuß oder mit dem Rad: in der Shankill Road und ähnlichen Straßen war man sofort von Kinderbanden umstellt, die einen Kreis um Ortsfremde bildeten, sie anpöbelten und mit kleinen Steinen bewarfen, während ihre älteren Brüder und Schwestern wie Väter und Mütter an den Türen der Häuser Stellung bezogen und die Provokateure so misstrauisch wie bedrohlich musterten.
In Paul McVeighs Debütroman „Guter Junge“ geht es um genau diese Kinder und Familien – auf katholischer Seite, in der Havanna Street, Belfast-Ardoyne, gesehen von einem Außenseiter: Mickey Donnelly hat nichts zu lachen. Denn er ist ein guter Junge, der seiner Mutter folgt, aber den Ansprüchen an den IRA-Nachwuchs nicht genügt. Er ist zehn oder elf Jahre alt, spielt am liebsten mit seiner kleinen Schwester und seine Stimme ist viel zu hoch. Gutmeinende beruhigen ihn, der Stimmbruch werde das richten. Alle anderen, auch sein großer Bruder, schimpfen ihn Schwuchtel. Mickey interessiert sich nicht für Randale, sondern für Dokumentarfilme über Afrika oder die kleine Garagen-Theateraufführung, in der Martine, das blonde Mädchen, das er anhimmelt, mitspielt.
Anschaulich und mit grimmigem Witz begibt sich McVeigh mitten in das spannungsreiche Leben von Kindern, denen nichts anderes übrig bleibt, als rasch stark und souverän zu wirken. Da ihre Welt von Erwachsenen dominiert wird, die sich wie Halbstarke aufführen, möchten auch die Kinder brutale Großmäuler werden. Doch was machen die Außenseiter? In der Volksschule war Mickey gut. In den Tagen vor den Sommerferien hat er schon herumerzählt, dass er im Herbst auf die beste Schule der Umgebung darf. Doch dann sagt ihm der Direktor in Anwesenheit seiner Eltern, dass diese nicht genug Geld hätten. Mickey bekommt zum Ausgleich einen kleinen Hund, den er „Killer“ nennt, aber ihm bleibt nur die üble Jungs-Schule, in die hier alle gehen. Sie wird für ihn, der schon in der Volksschule unten durch musste, die Hölle werden.
McVeigh erzählt Mickeys Sommerferien, eine neun Wochen lange, schwierige Übergangszeit. Als sich auch noch Fartin‘, ein kräftiger Junge, der Mickey in Gefahr immer verteidigt hat, von ihm verabschiedet, weil er fortgeht, weiß Mickey, dass er selber ein Kerl werden muss, sonst ist es aus. Rührend verzweifelt kämpft er darum, gierig ergreift er jede Chance mitzumachen. Er lässt sich von einer dicken Klebstoffschnüfflerin betatschen, will bei ihr lernen, wie „hobeln“ geht, damit er es irgendwann bei Martine anwenden kann. Frech spottet er über die Gewänder der Messdiener: „Mich würde man in sowas nie erwischen. Lieber würde ich meine in Bleichmittel eingelegten Augäpfel essen. Da kann man ja gleich in einem T-Shirt rumspazieren, auf dem steht: ,Bitte schlagt mich zu Brei!‘“ Aber sein Witz nützt ihm nichts. Immer wieder wird Mickey beleidigt, verprügelt, einmal von einem brutalen Jungen beinahe vergewaltigt. Und Martine nutzt ihn schließlich ähnlich aus, wie er die dicke Klebstoffschnüfflerin.
Alles wegstecken, heißt die Devise, oder untergehen. Sehr genau und bedrückend zeigt McVeigh, wie die Konflikte die Familie zersetzen. „Unser Paddy“, Mickeys älterer Bruder, wird immer rüpelhafter und verschwiegener. Auf undurchsichtige Weise gehört er zur IRA. Der Vater ist schon lange zum Alkoholiker geworden. Er liegt oben im Haus, lässt alle Arbeit von seiner Frau erledigen, die herrisch, laut und gewaltbereit ist, wenn etwas gegen ihre Familie in Gang ist. Aber Mickey „vermisst“ den Vater, der die so ärmlichen wie unveränderbaren und aggressiven Verhältnisse zum Verzweifeln findet. Er möchte weg, am liebsten nach Amerika.
Einmal lässt McVeigh den Vater mit Mickey spazieren gehen und von seinen Träumen erzählen, um Mickey, der in Amerika in einem Diner arbeiten oder Schauspieler werden will, einen Moment der Verbundenheit mit dem Vater erleben zu lassen. Aber er kennt die Kunstgriffe des Erzählens in Abwärtsspiralen und inszeniert diesen Moment nur, um die Verlorenheit der Figur zu verstärken. Der Vater trifft wenig später alte Säufer-Kollegen, vergisst Mickey und wird wieder zum jämmerlichen Feind, der von der geliebten Mutter Geld stiehlt und für den man sich schämen muss.
Paul McVeigh ist in dem Belfast, das er schildert, aufgewachsen. Dass ihm eine Figur wie dieser Vater nicht zum Klischee gerät, verdankt er einer seiner großen Stärken, seiner – hier wörtlich zu nehmenden – street credibility. Nie entsteht der Eindruck von Verharmlosung oder gewollter Skandalisierung. Aufmerksam folgt McVeigh den Gedanken und oft niederschmetternden Gefühlen des widerspenstigen Mickey. Aber auch die gewalttätigen Straßenkampfszenen – in einer wird Mickeys geliebter „Killer“ getötet – sind über Seiten hinweg großartig geschrieben, was man auch in der Übersetzung merkt.
Diese ist insgesamt sehr gut gelungen. Eigentümlich deplatziert wirken allenfalls häufig wiederholte Wörter wie „linst“ oder „wetzt“, die eine Slang-Atmosphäre schaffen sollen, aber eher anachronistisch nach deutschen Jugenderinnerungen aus den Fünfziger- oder Sechzigerjahren klingen, nicht nach Entsprechungen zum Belfast der Achtzigerjahre.
Gut, dass McVeigh seine Übersetzer im Lauf des Romans immer mehr mitzieht. Je temporeicher die Szenen, desto sicherer werden sie. Spannend und große Kunst ist, wie McVeigh seinen Mickey gegen Ende in ein immer fragwürdigeres Licht rückt. Immer stärker wird Mickeys Hass auf seinen Vater. Er wünscht ihn sich tot. Da passt es, dass er nach einer der Schießereien eine Pistole gefunden hat. Man fiebert mit dem Jungen, befürchtet einen Mord. Aber Paul McVeigh benötigt in seinem ersten Roman keinen Mord, um seinen „guten Jungen“ auf den harten Boden einer Welt aufschlagen zu lassen, neben der sich die neapolitanische Jugend, von der Elena Ferrante erzählt, beinahe idyllisch ausnimmt.
Paul McVeigh: Guter Junge. Roman. Aus dem Englischen von Nina Frey und Hans-Christian Oeser. Wagenbach Verlag, Berlin 2016. 252 Seiten, 22 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Die Frechheit, mit der
Mickey über die Messdiener
spottet, nützt ihm nichts
Der Junge findet eine Pistole,
aber dieser starke Erstling braucht
keinen Mord, um hart zu sein
Belfast, 1998: Kinder vor einem Wandgemälde in der Shankill Road.
Foto: Reuters
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