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'Der fliegende Berg' ist die Geschichte zweier Brüder, die von der Südwestküste Irlands in den Transhimalaya, nach dem Land Kham und in die Gebirge Osttibets aufbrechen, um dort, wider besseres (durch Satelliten und Computernavigation gestütztes) Wissen, einen noch unbestiegenen namenlosen Berg zu suchen, vielleicht den letzten Weißen Fleck der Weltkarte. Auf ihrer Suche begegnen die Brüder nicht nur der archaischen, mit chinesischen Besatzern und den Zwängen der Gegenwart im Krieg liegenden Welt der Nomaden, sondern auf sehr unterschiedliche Weise auch dem Tod. Nur einer der beiden kehrt aus…mehr

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Produktbeschreibung
'Der fliegende Berg' ist die Geschichte zweier Brüder, die von der Südwestküste Irlands in den Transhimalaya, nach dem Land Kham und in die Gebirge Osttibets aufbrechen, um dort, wider besseres (durch Satelliten und Computernavigation gestütztes) Wissen, einen noch unbestiegenen namenlosen Berg zu suchen, vielleicht den letzten Weißen Fleck der Weltkarte. Auf ihrer Suche begegnen die Brüder nicht nur der archaischen, mit chinesischen Besatzern und den Zwängen der Gegenwart im Krieg liegenden Welt der Nomaden, sondern auf sehr unterschiedliche Weise auch dem Tod. Nur einer der beiden kehrt aus den Bergen ans Meer und in ein Leben zurück, in dem er das Rätsel der Liebe als sein und seines verlorenen Bruders tatsächliches, lange verborgenes, niemals ganz zu vermessendes und niemals zu eroberndes Ziel zu begreifen beginnt. Verwandelt von der Erfahrung, ja der Entdeckung der Wirklichkeit, macht sich der Überlebende am Ende ein zweites Mal auf den Weg.
Autorenporträt
Christoph Ransmayr wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Neben seinen Romanen »Die Schrecken des Eises und der Finsternis«, »Die letzte Welt«, »Morbus Kitahara«, »Der fliegende Berg«, »Cox oder Der Lauf der Zeit«, »Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten« und dem »Atlas eines ängstlichen Mannes« erscheinen Spielformen des Erzählens, darunter »Damen & Herren unter Wasser«, »Geständnisse eines Touristen«, »Der Wolfsjäger« und »Arznei gegen die Sterblichkeit«, im Juli 2022 »Jägerin im Sonnenbad. Dreizehn Balladen und Gedichte«. Zum Werk Christoph Ransmayrs erschien der Band »Bericht am Feuer«. Für seine Bücher, die in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen, unter anderem die nach Friedrich Hölderlin, Franz Kafka und Bert Brecht benannten Literaturpreise, den Kleist-Preis, den Premio Mondello und, gemeinsam mit Salman Rushdie, den Prix Aristeion der Europäischen Union, den Prix du meilleur livre étranger und den Prix Jean Monnet de Littérature Européenne.  Literaturpreise: Anton-Wildgans Preis der österreichischen Industrie (1989), Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1992), Franz-Kafka-Preis (1995), Franz-Nabl-Preis der Stadt Graz (1996), Aristeion-Preis der Europäischen Union (1996, gemeinsam mit Salman Rushdie), Solothurner Literaturpreis (1997), Premio Letterario Internazionale Mondello (1997), Landeskulturpreis für Literatur des Bundeslandes Oberösterreich (1997), Friedrich Hölderlin Preis der Stadt Bad Homburg (1998), Nestroy-Preis (Bestes Stück - Autorenpreis) für »Die Unsichtbare« (2001), Bertolt-Brecht-Literaturpreis der Stadt Augsburg (2004), Heinrich-Böll-Preis (2007), Premio Itas (2009), Premio La voce dei lettori (2009), Premio Gambrinus (2010), Ernst-Toller-Preis (2013), Brüder-Grimm-Preis der Stadt Hanau (2013), Franz-Josef-Altenburg-Preis (2014), Donauland Sachbuchpreis (2014), Fontane-Preis für Literatur (2014), Prix Jean Monnet de Littératures Européennes (2015), Prix du Meilleur livre étranger (2015), Marieluise-Fleißer-Preis (2017), Würth-Preis für Europäische Literatur (2018), Kleist-Preis (2018), Nominierung für den Man Booker International Prize (2018), Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten (2018), Ludwig-Börne-Preis (2020), Park-Kyung-ni-Literaturpreis (2023).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.09.2006

Höhenrausch im Flattersatz
Zwei Brüder erklettern den Himalaya der Transzendenz: Christoph Ransmayrs Roman „Der fliegende Berg”
Der letzte Roman des österreichischen Schriftstellers Christoph Ransmayr, „Morbus Kitahara”, eine apokalyptische Phantasmagorie, erschien 1995. „Die letzte Welt”, das Buch, das von der Verbannung des römischen Dichters Ovid an die Grenzen der bewohnten Welt erzählte und dabei Vergangenheit und Gegenwart in eins fließen ließ, 1988. 1984 veröffentlichte Ransmayr seinen Debüt-Roman „Die Schrecken des Eises und der Finsternis”über die k. u. k.-Arktisexpedition von 1872 – vielleicht sein bestes Buch. Zwischen „Morbus Kitahara” und seinem jüngsten Werk, „Der fliegende Berg”, liegen elf Jahre. Christoph Ransmayr ist, das kann man sagen, kein Viel-Schreiber.
Natürlich ist er deshalb noch lange kein Patrick Süskind. Aber wer so selten auf der Bühne der Neuerscheinungen einen Auftritt hat, den umgibt die Aura des Geheimnisses. Diese Mischung aus Berühmtheit und Zurückgezogenheit, aus Erfolg und Ungreifbarkeit schürt die Erwartungshaltung von Lesern und Kritikern: Hier ist einer am Werk, der aus Tiefen schöpft, die nur ihrem eigenen Rhythmus gehorchen, der unter einem höheren Gesetz steht, kein flink-leichtfertiger Schreiberling, der im Zwei-Jahres-Takt routinierte Variationen seines Lebensthemas auf den Buchmarkt haut. Wessen Werke so langsam reifen, der muss Kostbares zu bieten haben. „Der fliegende Berg” ist ein sehr kostbares Buch. Man würde es im Bücherschrank eher dort einordnen, wo die großen Weisheitsbücher stehen, die heiligen Schriften, jene Werke, die nicht einfach Literatur, sondern Lebenssinn-Offenbarungen sind, arkanische Bücher, die das Geheimnis der Existenz ausloten und eine Erfahrung bezeugen, die nicht ganz von dieser Welt ist.
Natürlich tritt Ransmayr nicht in der anachronistischen Rolle des Dichter-Priesters auf. Und er würde zu Recht darauf beharren, dass das, was er in „Der fliegende Berg” erzählt, ohne allen Hokuspokus auskommt, sondern im Gegenteil höchst real, irdisch und handfest ist. Nur dass diese Irdischkeit mit einer Emphase beschworen wird, dass sie jederzeit in Spiritualität umkippt.
„Der fliegende Berg” erzählt von zwei ungleichen Brüdern, Liam und dem Ich-Erzähler, die zusammen auf einer kleinen Insel vor der Westküste Irlands leben. Beide verbindet die Faszination am Klettern, am Bezwingen steiler Felswände. Sie machen sich auf nach Osttibet, um dort, im Transhimalaya, einen Berg zu besteigen, den Phur-Ri, den Fliegenden Berg, von dem sie auf etwas unklare Weise annehmen, dass er noch auf keiner Karte verzeichnet sei, ein letzter weißer Fleck, der sich dem Zugriff des Menschen und der Satellitenaufnahmen bisweilen entzogen habe. Mancherlei Hindernisse sind zu überwinden auf diesem Weg, denn die chinesische Besatzungsmacht möchte in dieser Region keine ausländischen Beobachter. Aber den Brüdern gelingt es, sich von einer offiziellen Exkursion nach Tibet abzusetzen, um sich im Land Kham einem Nomadenvolk anzuschließen und sich so ihrem geheimnisvollen Berg zu nähern.
Der Ich-Erzähler verliebt sich dabei in die junge Nyema, die glücklicherweise Englisch spricht und außerdem als sogenannte Himmelsbraut praktischerweise mit jedem schlafen darf, ohne deswegen gesellschaftlich geächtet zu werden (eine soziale Praxis, die auf den Frauenüberschuss in diesem Nomadenvolk reagiert) – und Nyema weiß auch mancherlei mythologisch Tiefsinniges über diesen Berg, den Sitz der Götter, mitzuteilen. Schließlich wagen die beiden Brüder den Aufstieg auf den Siebentausender, aber nur ein Bruder kehrt zurück. Liam verliert sein Leben in einem Schneesturm.
Christoph Ransmayr hat für seinen neuen Roman eine besondere Form gewählt, die man rhythmische Prosa nennen kann. Vermutlich befürchtete er, dass diese Form als prätentiös empfunden werden könnte. Deshalb verwahrt er sich in einer kurzen Vorbemerkung dagegen, sein Werk als großes Gedicht aufzufassen, nur weil beim Schriftbild Strophenform und Zeilenbruch ins Auge springen. Es handle sich dabei, so erklärt Ransmayr in einer gewissermaßen anti-pathetischen Understatement-Formulierung, bloß um „Flattersatz” – und dieser, so schreibt er, „ist frei und gehört nicht allein den Dichtern”. Na, wenn er meint.
Ob nun freier Vers oder Flattersatz: Trotz seiner rhythmisch durchgearbeiteten Sprache – und Ransmayr hat eine außergewöhnliche Sprachbegabung – hat das Werk nichts von der Objektivität des Epos. Es nimmt vielmehr den Tonfall, die Stimme einer esoterischen Kunst an: Die Weisheit dieses Buches ist keine für die Vielen, keine für den Marktplatz. Die unalltägliche Erfahrung, von der es Zeugnis ablegt, bedarf der unalltäglichen, ja sakralen Sprache. Die poetische Form nimmt als Gefäß eine Verwandlung in sich auf, die aus der Konfrontation mit dem mythischen Berg hervorging und die Ransmayr ausdrücklich als immanentes Liebesevangelium verkündet.
Aber was ist das für eine Sinn-Offenbarung? Das Prinzip, nach dem dieses Buch funktioniert, ist simpel. Es lautet: In menschlichen Extremsituationen fallen Immanenz und Transzendenz zusammen. Auch der Ich-Erzähler kämpft zweimal am Berg ums Überleben. Da heißt es: „Ich war müde, unsagbar müde. / Wollte liegenbleiben. / Liegenbleiben, schlafen. / Schlafen.” Was ist das für eine Müdigkeit: Eine konkrete oder eine metaphysische? Natürlich beides, weil man – so bedeutet einem dieses Buch unablässig – 7 000 Meter über dem Meer zwischen beidem nicht mehr unterscheiden kann. Und so steigt der Erzähler immer höher und höher, als wäre Höhe Transzendenz: erkletterbare Transzendenz. Der Berg ist ein Religions-Surrogat.
Es ist die Intensität des Lebens in Extremsituationen, in der die Archaik der Gefühle in majestätischer Gewalt zurückkehrt und in der die Existenz plötzlich nicht mehr zufällig und kontingent, sondern notwendig und unbedingt ist. Wachen, Schlafen, Sterben. Der Schmerz, der Schwindel, die Ohnmacht. Die Nähe, die Ferne, das Meer und der Berg. Der Traum, die Müdigkeit, der Tod und die Liebe: Wie urtümliche Steinbrocken strukturieren diese Groß-Wörter an den Wurzeln des Lebens Ransmayrs Text. Und vielleicht ist dies sogar das Unangenehmste an dem Buch: dass die existenzielle Notwendigkeit dieses Schreibens immer so penetrant durch jeden Satz durchschimmert – für Graf Bühl aus Hofmannsthals „Schwierigem” wäre „Der fliegende Berg” eine ganz und gar ungenießbare Lektüre: viel zu indezent, viel zu sehr Gefühlskraftwerk Ich. „Master Kaltherz” nennt der Ich-Erzähler einmal seinen Bruder. Er selber ist eindeutig ein Vertreter des genre sentimental.
Nach Kant entsteht das Erhabene immer dort, wo der Mensch in Konfrontation mit der überdimensionalen Natur seine eigene physische Ohnmacht zu spüren bekommt. In diesem Sinne ist Ransmayrs Buch eine einzige Erhabenheits-Zelebration, die „zwei verschwindend kleine Gestalten in den Felswänden” des Transhimalaya feiert, die ihre physische Bedrohung moralisch überwinden. Einmal duscht der Erzähler in einem eiskalten Wasserfall: „Ich schrie und erschrak im selben Augenblick / über diese Stimme, die so tief aus meinem Inneren kam, / ohne dass ich auch nur einen Hauch meines Willens spürte.” Der weiße Fleck auf der Landkarte, das ist ins Innere gewendet jene Region jenseits des Willens, wo tiefere Energien entladen werden. An den Grenzen der Menschheit erfährt man die Grenze des Menschen.
Aber erst an diesen Grenzen kann man auch die Liebe wieder entdecken. Die zu Nyema. Aber noch mehr die des Erzählers zu seinem Bruder Liam. Als der Erzähler nämlich während des Aufstiegs in einem fürchterlichen Schneesturm erkrankt und seine Lebensgeister ihn verlassen, da ist es Liam, Master Kaltherz, der seinen Bruder im Zelt in den Armen hält und ihn wärmt mit seinem Körper – eine brüderliche Pieta: deus caritas est. Und deshalb ist dieses Buch auch kein tragisches, obschon Liam in einem zweiten Schneesturm umkommt. Aber wichtiger ist eben, dass die Brüder in der Extremsituation ihres Abenteuers erfahren, dass sie etwas verbindet, was Ransmayr Liebe nennt. Man kann es aber auch Schmock nennen.IJOMA MANGOLD
CHRISTOPH RANSMAYR: Der fliegende Berg. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2006. 359 S., 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.09.2006

Gottes kleine Krieger
Wortgefechte: Die schöne Literatur in diesem Herbst

Neben den wichtigen Erinnerungsbüchern von Kertész, Fest und Grass müßte es der Roman schwer haben. Aber die Gegenwartsliteratur verlangt mit drastischen Mitteln nach Aufmerksamkeit. Ihr Thema ist der Terror.

"Im Alter von vierzehneinhalb Jahren", so erinnert sich der ungarische Nobelpreisträger Imre Kertész in seinem neuen Buch "Dossier K.", "stand ich etwa eine halbe Stunde lang Auge in Auge dem Lauf eines feuerbereiten Leichtmaschinengewehrs gegenüber, das auf mich gerichtet war." Das war im Sommer 1944 im Hof der Budapester Gendameriekaserne. Wenig später wurde Kertész nach Auschwitz deportiert.

Im Jahr darauf, im Frühjahr 1945, steht der siebzehnjährige Günter Grass mit der Maschinenpistole in der Hand einem russischen Schützenpanzer gegenüber: ",Der Iwan!', rief ich der Gruppe am Wegrand zu, nahm mir aber keine Zeit, die dem Feindpanzer dicht bei dicht aufsitzenden Schützen als einzelne zu erkennen und so zum ersten Mal einem lebenden Sowjetsoldaten von Gesicht zu Gesicht zu begegnen."

Zwei Nobelpreisträger, zwei Augenblicke mit und ohne Blickkontakt, zwei Erinnerungsbücher, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Zusammen mit Joachim Fests Autobiographie "Ich nicht" (Rowohlt) setzen "Dossier K." (Rowohlt) und "Beim Häuten der Zwiebel" (Steidl) einen gewichtigen Schwerpunkt in diesem Bücherherbst. Er gilt der Vergangenheit und ihren nicht enden wollenden Nachwirkungen, er erzählt von drei vollkommen unterschiedlichen Schicksalen und Lebenswegen im "Dritten Reich", und er konfrontiert den Leser dreimal auf jeweils ganz eigene Weise mit der Frage nach dem Wesen und den Grenzen des autobiographischen Genres.

Neben diesen Büchern, so könnte man meinen, dürfte es der Gegenwartsroman schwer haben. Aber die Gegenwart fordert ihr Recht auf Aufmerksamkeit mit nicht weniger drastischen Mitteln. Sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stehen Haß und Gewalt, Blutvergießen und Leid und Elend von Unschuldigen ebenso im Zentrum dieses Bücherherbstes wie die Erinnerungen einer Generation, die lange Zeit glauben durfte, all dies weitgehend hinter sich gelassen zu haben. Der Terror ist in veränderter Gestalt nach Europa zurückgekehrt, und viele Romane dieses Herbstes haben ihn zum Thema.

Yasmina Khadra, ein ehemaliger Offizier der algerischen Armee, hat soeben im Gespräch mit dieser Zeitung darauf aufmerksam gemacht, daß Europa den Terrorismus nicht als Importartikel betrachten dürfe (F.A.Z. vom 29. September). Die Quellen terroristischer Gewalt sprudeln in Europa nicht anders als in den Vereinigten Staaten oder in der islamischen Welt. In den letzten Jahren hat sich die Literatur vor allem der Opfer angenommen, jetzt ist ein Wechsel der Perspektive zu verzeichnen. Im vorigen Jahr hat der junge amerikanische Autor Jonathan Safran Foer ein New Yorker Wunderkind ins Zentrum seines Romans "Extrem laut und unglaublich nah" gestellt, das seinen Vater beim Anschlag auf das World Trade Center verloren hat. Yasmina Khadras Held ist ein arabischer Chirurg in Israel, der die Opfer eines Attentats operiert, das seine eigene Frau verübt hat. In immer neuen Anläufen kreist der Roman "Die Attentäterin" (Nagel & Kimche) um die Frage, was eine junge Frau aus geregelten Mittelstandsverhältnissen dazu bewogen haben mag, sich selbst in die Luft zu sprengen, um möglichst viele Menschen mit sich in den Tod zu reißen.

Während Khadra ein Bild der Attentäterin nur aus Erinnerungen und Erzählungen entstehen läßt und die Introspektion verweigert, läßt Christoph Peters uns in seinem neuen Roman "Ein Zimmer im Haus des Krieges" (btb) gleich in zwei Köpfe schauen. Sie gehören dem islamistischen Terroristen Jochen "Abdallah" Sawatzky und dem Botschafter der Bundesrepublik in Kairo, der den deutschen Staatsangehörigen Sawatzky vor der Hinrichtung in Ägypten bewahren soll. Der erste Teil des Romans schildert eindrucksvoll die letzten Stunden vor dem Anschlag in Luxor, der für die Terroristen mit einer Katastrophe endet: Sie werden von ägyptischen Sicherheitskräften erwartet, gejagt und zum größten Teil getötet. Sawatzky kommt mit dem Leben davon, ist aber den brutalen Verhörmethoden im ägyptischen Hochsicherheitsgefängnis ausgesetzt. Niemand kann wissen, was im Kopf eines Terroristen vorgeht, der den eigenen Tod vor Augen hat, aber Peters vermittelt uns zumindest eine Vorstellung davon, wie sie eindringlicher und beklemmender kaum sein könnte.

Gleich drei Seelen in eine Brust implantiert der indische Schriftsteller Kiran Nagarkar. Seine Hauptfigur namens Zia ist "Gottes kleiner Krieger" (A1 Verlag), von dem der Titel des Romans kündet. Zia, der als indischer Muslim geboren wird, wechselt zwar zweimal die Religion, nicht aber den Charakter. Auch als Trappistenmönch und als Hindu bleibt er ein Eiferer und gewaltbereiter Fanatiker. Bietet also jede Religion dem Extremisten Anknüpfungspunkte? Wird also derjenige zum religiös motivierten Terroristen, in dem die charakterliche Disposition dazu angelegt ist, gleichviel, welcher Religion er angehört? Nagarkars phantasievoller und erzählerisch überbordender Roman ist das wichtigste unter den erstaunlich zahlreichen interessanten und guten Büchern, die uns in diesem Herbst aus Indien erreichen. Das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse wird zweifellos Spuren hinterlassen.

Aber hat die Literatur denn sonst nichts mehr zu bieten außer den Erinnerungen der Greise und den Schrecken der Gegenwart? Ganz im Gegenteil, die Zahl guter Bücher ist in diesem Herbst erstaunlich groß, und in jedem Genre sind Entdeckungen zu machen, angefangen bei den Romandebüts eines Steffen Popp ("Ohrenberg oder der Weg dorthin"; kookbooks) oder Michel Mettler ("Die Spange"; Suhrkamp) bis hin zur Lyrik von Charles Simic ("Mein lautloses Gefolge"; Hanser) oder den abgründig funkelnden Kalendergeschichten und Prosaminiaturen, die Botho Strauß unter dem Titel "Mikado" (Hanser) versammelt hat.

Auffallend ist dabei nicht zuletzt, daß die Literatur in diesem Herbst viel formbewußter auftritt als in den Jahren zuvor: Neben die Lust am Erzählen tritt der Wille zur Form. Christoph Ransmayrs erster Roman seit elf Jahren ist ein Versepos, gehört also zu jenem selten gewordenen Genre, dessen sich zuletzt so gewichtige Autoren wie Derek Walcott mit "Omeros", Les Murray mit "Fredy Neptune" und Durs Grünbein mit "Vom Schnee" angenommen haben. Während Ransmayrs "Der fliegende Berg" (S.Fischer) eine Geschichte von Eifersucht und Bruderliebe im ewigen Eis von Tibet erzählt, nähert sich Felicitas Hoppe dem ewigen Feuer der Hölle und den gierigen Flammen der im Namen der Christenheit errichteten Scheiterhaufen. Auf einem dieser Scheiterhaufen endet Johanna, Jungfrau von Orléans und Titelfigur von Felicitas Hoppes neuem Buch (S. Fischer). Der Vielzahl der Deutungen der historischen Johanna wird hier nichts hinzugefügt, aber die Hoppesche Sprachkunst bewirkt, daß uns selbst eine Ikone wie Johanna entgegentritt, als begegneten wir ihr zum ersten Mal.

Der Tod, die Liebe, die Freuden und Nöte der Kindheit, das sind die ewiggleichen Themen der Literatur, und der Ire John Banville zeigt in "Die See" (Hanser), daß man sie immer wieder aufs neue behandeln kann. Tatsächlich ein Novum ist der neue Roman des Österreichers Wolf Haas. Oder wann hätte es zuvor einen Roman in Dialogform gegeben? "Das Wetter vor 15 Jahren" (Hoffmann & Campe) ist kein Briefroman und kein Drama, sondern die Wechselrede zweier Figuren über ein Buch, den Roman im Roman also. In dem mehrtägigen Gespräch zwischen einem Schriftsteller namens Wolf Haas und einer Literaturkritikerin, die als "Literaturbeilage" bezeichnet wird, erfährt der Leser nicht nur den überaus spannenden Inhalt des Romans, sondern wird überdies zum Zeugen einer Liebesgeschichte zwischen zwei literarischen Verbalerotikern. Das klingt kompliziert, konstruiert und so schrecklich ausgedacht, als wäre hier ein Albtraum wahr geworden, als habe nämlich ein Schriftsteller ein Buch einzig und allein für die Literaturkritik geschrieben. Aber das Gegenteil ist wahr. Haas hat sich einen Traum erfüllt, der unerfüllbar schien: Einmal etwas ganz anderes als alle anderen zu machen. Daß dieses Buch gelungen ist, grenzt an ein Wunder. Es zu lesen ist ein Vergnügen. Was für ein Bücherherbst!

HUBERT SPIEGEL

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Tilman Spreckelsen hat schon lange kein Versepos mehr gelesen. Wieso auch. Nun ist er doch sehr überrascht, wie gut sich diese unzeitgemäße Form macht, wenn einer wie Christoph Ransmayr sich ihrer "klug" und "mutig" bedient. Schon Ransmayrs ebenfalls als Verszyklus verfasstes Debüt hatte Spreckelsen mächtig beeindruckt. Daran fühlt er sich erinnert, als er den unerwartet weiten Kosmos vom "Gang ins Eis", von Bruderliebe und erzählender Wiedererweckung betritt. Und er rekapituliert, was so ein Verepos ausmacht: Transzendenz, Leitmotivik, Metaphorik. Alles da, meint Spreckelsen, auch wenn der Autor das nicht wahrhaben will (siehe Vorwort). Einen weiteren Beweis sieht er im retardierenden Moment, das die "stupende Sprachgewalt" des Buches manchmal bändigt und Erleben und Schilderung trennt.

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