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Als der Belgier Henry van de Velde um 1900 nach Berlin kam, war er ein Star. Nicht nur in der deutschen Hauptstadt, überall, wo man sich im deutschen Kaiserreich nach neuester Mode einrichten wollte, wurden Möbel und ganze Gebäude bei dem exzentrischen Geschmacksdiktator bestellt. Van de Velde, der mit Dandys, Industriellen und Künstlern um Harry Graf Kessler und Hugo von Hofmannsthal gegen bourgeoise Spießigkeit zu Felde zog und das Leben als Gesamtkunstwerk inszenierte, stieg auf - und wieder ab. 1914 wurde der Belgier zum feindlichen Ausländer und musste in die Schweiz fliehen. Wie sehr er…mehr

Produktbeschreibung
Als der Belgier Henry van de Velde um 1900 nach Berlin kam, war er ein Star. Nicht nur in der deutschen Hauptstadt, überall, wo man sich im deutschen Kaiserreich nach neuester Mode einrichten wollte, wurden Möbel und ganze Gebäude bei dem exzentrischen Geschmacksdiktator bestellt. Van de Velde, der mit Dandys, Industriellen und Künstlern um Harry Graf Kessler und Hugo von Hofmannsthal gegen bourgeoise Spießigkeit zu Felde zog und das Leben als Gesamtkunstwerk inszenierte, stieg auf - und wieder ab. 1914 wurde der Belgier zum feindlichen Ausländer und musste in die Schweiz fliehen. Wie sehr er da schon die deutsche Städtelandschaft geprägt hatte, ist in den Treppenhäusern, Wohnungen und Villen unserer Städte unübersehbar. Ursula Muscheler, Architektin und Expertin für die wandelnden Moden in Archtitektur und Kunst, macht diese deutsch-europäische Geschichte lebendig.
Autorenporträt
Ursula Muscheler, in Stuttgart promovierte Architektin, ist freiberuflich und als Autorin erzählender Sachbücher zur Architekturgeschichte tätig. Veröffentlichungen: "Haus ohne Augenbrauen. Architekturgeschichten aus dem 20. Jahrhundert" (2007), "Die Nutzlosigkeit des Eiffelturms. Eine etwas andere Architekturgeschichte" (2008), "Sternstunden der Architektur. Von den Pyramiden bis zum Turmbau von Dubai" (2009) und, als Herausgeberin: "Unsere Architekten. Feinste Verrisse von Cicero bis Kurt Tucholsky" (2011).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2012

Schöner wohnen aber muss unter allen der Dichter

Er baute Salons für Übermenschen und Ästheten: Ein Buch über die Weimarer Jahre des belgischen Innenarchitekten Henry van de Velde.

Von Martin Mosebach

Das erste vollständig nach dem Geschmack des Autors gestaltete Wohnhaus eines Dichters war ohne Zweifel Goethes Haus am Frauenplan in Weimar. Der Großanreger der Dichterzunft steht am Anfang der Bewegung, die Dichter veranlasste, ihren Häusern eine besondere Prägung zu verleihen. In der Vorstellung, dass der Dichter anders wohnen muss als seine Leser und als jene, die niemals ein Buch von ihm aufschlagen werden, ist gewiss zunächst eine stark empfundene Distanz zur Gesellschaft enthalten: der Dichter schöpft aus anderen Quellen als sein Publikum, Trivialität und Hässlichkeit verletzen ihn, sein Leben soll aus einem Guss sein, die Schönheit seiner Verse muss durch seinen praktischen Schönheitssinn beglaubigt werden.

Dazu tritt ein bedeutsames kulturhistorisches Faktum. Goethes Lebenszeit sah zum ersten Mal in der Geschichte das Auftreten philosophisch einflussreicher Ästheten, die sich mit dem Entwerfen von Innenräumen beschäftigten, der Name Winckelmann mag hier für viele stehen. Zum ersten Mal entstand ein theoretisch entwickelter, argumentativ unterstützter Stil für Möbel und Dekoration, der durch die napoleonischen Eroberungen und erste Formen einer Möbelindustrie in ganz Europa verbindlich wurde. Zum ersten Mal entschied man sich aus weltanschaulichen Gründen für einen Stil. Goethe musste sich Gedanken über seine Wohnung machen, die Cervantes oder Shakespeare unvorstellbar gewesen wären. Farben, Bilder und Mobiliar enthielten jetzt ein Bekenntnis.

Goethes Stil war außerordentlich zukunftsträchtig. Der einzige Luxus, den er sich gestattete, war der Einbau einer repräsentativen Freitreppe in das einfache Bürgerhaus, um seinen illustren Gästen ein Empfangszeremoniell nach aristokratischem Vorbild bieten zu können; darüberhinaus gab es in seinem Haus nichts ostentativ Kostbares: Gipsabgüsse, Kupferstiche und Gemäldekopien, die seine Freunde ihm malten, und ein asketisch schlichtes Mobiliar. Nur eines ist sofort klar - der Hausherr hat jedes Bild, jeden Stuhl und jede Wandfarbe höchst bewusst ausgesucht, seine Umgebung enthält keine Unabsichtlichkeiten, keine Improvisationen und keine Spuren flüchtiger Launen. Die schöne Harmonie ist das Ergebnis eines Beziehungsnetzes, das durch die Räume zwischen den Gegenständen gespannt ist.

So ist es denn mit Gewissheit auch Goethes "Reformstil" gewesen, der, wieder mit Weimar als Zentrum, eine spätere Welle ästhetisch geplanter Dichterhäuser auslöste. Ursula Muscheler hat ein Buch über die berühmtesten Jahre im Leben des belgischen Architekten und Innenarchitekten Henry van de Velde geschrieben, der in Weimar mit der nachdrücklichen Unterstützung von Harry Graf Kessler am Bauhaus wirkte. Wir mögen heute dazu neigen, den Sofas und Teppichen eines Dichters für das Verständnis seiner Gedichte einen bescheidenen Rang einzuräumen, aber in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ist das wahrlich anders gewesen. Muscheler fasst in ihrer höchst anregenden Erzählung den Kreis um Kessler nicht zu eng: Nicht nur die eigentlichen Bundesgenossen Rudolf Alexander Schröder, Bodenhausen, Georg Heymel und Hugo von Hofmannsthal sind in ihrem Willen zu einer unverwechselbaren neuheitlichen persönlichen Umgebung in dem seinerseits gleichfalls buchkünstlerischer Schönheit verpflichteten Band präsent, sondern auch Gerhart Hauptmann und Elisabeth Förster-Nietzsche. Es ist vielleicht das letzte Mal, dass ein dezidiert konservativer Schriftstellerzirkel zugleich dezidiert modernistisch agiert. Der ästhetische Feind waren die opulenten Innendekorationen im Geist des Historismus. Dessen von dem Wiener Maler Hans Makart inspirierte Groß-Collagen aus Ritterrüstungen, China-Vasen, Repliken von Renaissance-Fayencen und islamischem Kunstgewerbe waren genaugenommen gleichfalls Zeugnis einer modernen Sammlermentalität, der ihr Abstand zur Kunst der Vergangenheit bewusst war. Aber nun hatte die Industrie sich des Makart-Stiles bemächtigt, aus den Sammler-Schatzhöhlen wurden massenhaft billige Theaterdekorationen für das kleinbürgerliche Heldenleben.

Makart hatte etwas Barockes gehabt - die ästhetische Strömung, der van de Velde angehörte, schloss sich an die Gotik an, wie Ruskin und William Morris sie in England verstanden wissen wollten. Hier stand Gotik für gediegene Handwerklichkeit, für eine aus der Zunftgesinnung hervorgehende Anonymität der Künstler, die, ohne Geniekult zu betreiben, gemeinsam die Kathedralen gebaut hatten, ohne dass sich aus den Riesenbauwerken eine individuelle Handschrift hätte herauslesen lassen. Bei van de Velde verstand sich der Umgang mit gotischen Motiven aber im Sinne einer "schöpferischen Restauration", wie Rudolf Borchardt, der Freund Rudolf Alexander Schröders, es ausgedrückt hätte. Es ging nicht um "Neugotik", sondern um eine in der Gotik gesehene Organik, eine "naturhafte" Sinnlichkeit, eine Übertragung der "naturhaft gewachsenen", nicht kalt am Reißbrett geplanten Architektur in die Sphäre neuzeitlicher Mondänität. Gar so fremd sind, von dem Bezug auf die Gotik einmal abgesehen, solche Gedanken auch unserer Gegenwart nicht. Auch die mit eiserner Konsequenz angestrebte Durchstilisierung eines Hauses von der Architekturzeichnung bis zum letzten Türgriff und Kaffeelöffel einschließlich der in solcher Umgebung zu tragende Damengarderobe ist den Designern erhalten geblieben, wenngleich es heute um Kulissen und nicht mehr um eine "vita nova" geht, die dem Kreis um Henry van de Velde als Hoffnungsziel stilistischer Radikalität vor Augen stand.

Eines der gewichtigsten Projekte, die van de Velde in Weimar realisieren konnte, war der große Salon in der Villa Silberblick, dem Wohnhaus des in sein Innenleben abgestürzten Philosophen Friedrich Nietzsche und seiner ebenso hochbegabten wie zupackenden Schwester Elisabeth, die ihren kranken Bruder mit beträchtlichem Geschick verwaltete und in stattlichem Rahmen Hof hielt. Was hätte Nietzsche, der in seinen gesunden Zeiten den Ästhetenkreis um den Grafen Kessler an nervöser Empfindlichkeit gewiss vielfach übertroffen hätte, wohl zu dem zur Feier seines Werkes geschaffenen Raum gesagt? Hätte er darin "Wahrheit" oder "Maske" und "Lüge" gesehen?

Tatsächlich mutet der von van de Velde entworfene Salon wie eine große luxuriöse Kajüte an; der für seine Länge eher niedrige Raum scheint unter einem Schiffsdeck zu liegen. Das ist die Wirkung der Holztäfelungen, der in die Täfelungen eingelassenen Möbel, auch der im Boden verankerten großen Kästen. Zugleich kann sich der Besucher im Bauch eines stilisierten Walfischs denken, denn die geschnitzten Verstrebungen haben etwas Organisches, an hölzerne Gaumensegel Gemahnendes. Am meisten verblüfft an der Schmalseite des langen Raumes, der nur wenige kleine Fenster hat, eine goldene kleine Tür, die vermutlich einer Tabernakeltür gleichen soll, aber viel eher an eine Ofentür erinnert - dahinter liegen die Manuskripte des umnachteten Meisters, als sollten sie dort eigentlich verheizt werden. An dieser Übermenschen-Katakombe ging Zarathustra doch wohl höchstens einmal vorbei, eingetreten ist er sicher nicht.

Es bleibt im Rückblick erstaunlich, wie weitgehend sich die Dichter im Kreis des Grafen Kessler dem "schönheitlichen" Diktat unterwarfen. Noch einmal, nach Empire und Goethe-Zeit, glaubten Dichter, dass Stil nicht etwas sei, das, den Zeitgenossen beinahe unsichtbar, alle künstlerischen Hervorbringungen, seien sie einander noch so scharf entgegengesetzt, gleichermaßen durchtränkte, sondern dass individueller künstlerischer Wille den Stil der Zeit hervorbringen könne. Dass der "Jedermann" und die "Dreigroschenoper" für uns Nachgeborene unendlich mehr gemeinsam haben, als deren Autoren es in ihren geheimsten Albträumen hätten ahnen können, gehört zu den Überraschungen, die erst der Rückblick auf die Geschichte möglich macht. Van de Velde und Kessler suggerierten den Dichtern, dass es ihnen möglich sei, in einer gleichsam widerspruchsfreien, perfekt neuzeitlich und zugleich im traditionellen Sinne repräsentativen Umgebung zu leben, und dass dies im Grunde auch ihre Pflicht sei.

Die Anknüpfung an den Goethe-Stil, eine gewisse Magerkeit, Anti-Opulenz, durch neoklassizistische Reminiszenzen vor gar zu molliger Gemütlichkeit bewahrter englischer Cottage-Stil, ein "zeitloses" Biedermeier schuf Abgrenzung zu neureichem Wilhelminismus und "style Rothschild", aber auch zur Industriewelt und ihrem Technizismus. Wenn man die Kessler-Salons ohne Information über die Farben und Materialien der Räume betrachtet, kommen dem Nachgeborenen diese einst als überwältigend elegant beschriebenen Interieurs geradezu ein wenig vor wie etwas, was man nach dem Zweiten Weltkrieg "Bauernstube" genannt hätte. Und als "le comble du chic" gehörten an die Wände über den halbhohen sparsam ornamentierten Täfelungen dann Impressionisten-Gemälde, die einen viel lässigeren Umgang mit den Belle-Epoque-Hinterlassenschaften bewiesen als der strenge van de Velde.

Muscheler schildert unterhaltsam den Streit und die Intrigen, an denen die Weimarer Idylle in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zerbrach, aber es muss auch den Protagonisten dieser Bewegung, die den Zweiten Weltkrieg überlebten - van de Velde wurde uralt und hat später ganz andere Sachen gemacht -, sehr seltsam vorgekommen sein, was sie damals ins Werk gesetzt hatten. Diese erste ehrgeizige Phase der Moderne mutet den heutigen Betrachter ferner an wie eine bauchige Barockkommode.

Ursula Muscheler: "Möbel, Kunst und feine Nerven". Henry van de Velde und der Kultus der Schönheit 1895 - 1914.

Berenberg Verlag, Berlin 2012. 200 S., Abb., geb., 25,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ausführlich und ein wenig mäandernd, insgesamt aber positiv bespricht Schriftsteller Martin Mosebach diesen Band über einen berühmten Kunsthandwerker und seine Dichterhäuser. Das späte 19. Jahrhunderts setzte gegen die aufkommende Serienproduktion und Industrialisierung die Idee des Handgemachten und lud sie sogar mit großem Pathos auf, schildert Mosebach, der dieser Idee Sympathie, aber auch Ironie entgegenbringt. So ganz zu überzeugen scheinen ihn die Interieurs van de Veldes nicht, die ihn in einer abschließenden Bemerkungen an "bauchige Barockkommoden" erinnern. Aber die Beschwörung dieser Zeit durch Muschelers Buch beschreibt er als lehrreich und unterhaltsam.

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