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Der Roman zur gleichnamigen Netflix-Verfilmung!
Balram Halwai - der "weiße Tiger" - erzählt uns mit unwiderstehlichem Charisma die schreckliche und zugleich faszinierende Geschichte seines unwahrscheinlichen Aufstiegs und beleuchtet dabei schonungslos die Abgründe der modernen indischen Kastengesellschaft.
Balram kommt aus einem armen Dorf im Herzen Indiens. Seine düsteren Zukunftsaussichten hellen sich auf, als er, der klügste Junge im Dorf, als Fahrer für den reichsten Mann am Ort engagiert wird und die Chance bekommt, für dessen Sohn in Delhi zu arbeiten. Hinter dem Steuer eines Honda
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Produktbeschreibung
Der Roman zur gleichnamigen Netflix-Verfilmung!

Balram Halwai - der "weiße Tiger" - erzählt uns mit unwiderstehlichem Charisma die schreckliche und zugleich faszinierende Geschichte seines unwahrscheinlichen Aufstiegs und beleuchtet dabei schonungslos die Abgründe der modernen indischen Kastengesellschaft.

Balram kommt aus einem armen Dorf im Herzen Indiens. Seine düsteren Zukunftsaussichten hellen sich auf, als er, der klügste Junge im Dorf, als Fahrer für den reichsten Mann am Ort engagiert wird und die Chance bekommt, für dessen Sohn in Delhi zu arbeiten. Hinter dem Steuer eines Honda City entdeckt Balram eine neue Welt. Er sieht, wie seinesgleichen, die Diener, aber auch ihre reichen Herren mit ihrer Jagd nach Alkohol, Geld, Mädchen und Macht den "großen Hühnerkäfig" der indischen Gesellschaft in Gang halten. Durch seine Augen sehen wir das Indien der Kakerlaken und Call Center, der Prostituierten und Gläubigen, der alten Traditionen und der Internetcafés. Schließlich gelingt es Balram aus dem Hühnerkäfig, dem Sklavendasein zu fliehen - eine Flucht, die ohne List und Blutvergießen nicht möglich ist. Eine anrührende Geschichte voll sprühendem Witz, Spannung und fragwürdiger Moral. In seiner Kritik am Sklavendasein ist sie ein Angriff der dritten auf die erste Welt. "Der weiße Tiger" ist ein aufregender, provozierender Roman mit Kultstatus. Ein moderner Klassiker, dessen Verfilmung durch Ramin Bahrani zuletzt für großes Aufsehen gesorgt hat.
Autorenporträt
Aravind Adiga, geboren 1974 in Madras, wuchs zeitweise in Sydney, Australien, auf, studierte Englische Literatur an der Columbia University und am Magdalen College in Oxford. Er lebt in Mumbai, Indien. "Der weiße Tiger" (2008) gewann den Booker Prize und erschien in fast 40 Ländern. Ingo Herzke übersetzt seit 1999 Literatur aus dem Englischen, vor allem die Werke von A.L. Kennedy, aber auch viele amerikanische Autoren, unter anderem Rick Moody, Joseph Coulson und Paula Fox.
Rezensionen
"Klug, provozierend, atemberaubend: ein grandioses Romandebüt."
Kultur SPIEGEL, Fiona Ehlers

"...ein großartiger Erzähler."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Oliver Jungen

"Global brutal: Der Roman Der weiße Tiger ist das hinreißend böse Porträt eines indischen Aufsteigers."
Die WELT, Wieland Freund

"Aravind Adiga spielt auf einer Klaviatur, die vom Slapstick über die harsche Sozialreportage bis zu Hegels Philosophie reicht."
Die ZEIT, Susanne Mayer

"So simpel dieses Buch konstruiert ist, so mitreißend schildert der Simplicissimus Balram den Witz und Wahnwitz einer geldgeil durchgeknallten Welt, und das ist Botschaft, Kunst und aktuelle Wahrheit zugleich."
Der SPIEGEL, Wolfgang Höbel

"Dieser Roman ist ein Bastard, Satire und Schelmenroman, Gebrauchsanweisung für Indien (...)."
Süddeutsche Zeitung, Alex Rühle

"Der Roman zehrt nicht zuletzt von den krassen Gegensätzen, die er freimütig umkreist: Herren und Diener, Weiße und Braune, Reiche und Arme, Westen und Osten, New Delhi und Old Delhi, Macht und Ohnmacht, Licht und Finsternis."
die tageszeitung, Shirin Sojitrawalla

"Aravind Adiga nimmt den Leser mit auf eine unglaubliche Reise ins stinkende, schillernde und pochende Herz Indiens."
Stern, Tanja Beuthien

"Wer nach Indien reist, muss das Buch im Koffer haben."
BRIGITTE, Anke-Maren Koester…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2008

Sharukh Khan tanzt hier nicht mehr

Die zwei Körper Indiens: Aravind Adigas großartiges Debüt "Der weiße Tiger" zeigt den unwahrscheinlichen Aufstieg eines Dieners zum Unternehmer - und den Preis, den er dafür zahlt.

Von Oliver Jungen

Wie kam die Dichtung in die Welt? Nicht als Göttergeschenk. Weise Männer haben sie erdacht - "aus Mitleid mit den Armen". Eine Waffe also, die es dem Ärmsten erlaubt, "den zehntausend Jahre alten Kampf der Köpfe zu seinen eigenen Bedingungen günstig zu beenden". Zu dieser romantischen Eloge schwingt sich Balram, der höchst gescheite, polizeilich gesuchte Held, gegen Ende von Aravind Adigas fulminantem Roman "Der weiße Tiger" auf. Er gehörte lange selbst zu jenen Armen, und das in einem Land, wo es als himmlische Prädisposition gilt, arm oder reich zu sein. Doch Waffen richten sich schnell auf den Schützen.

Die indische Gesellschaft mit ihrem kaum durchschaubaren Kastensystem fasziniert vielleicht auch deshalb viele Europäer, weil sie uns an die eigene Vormoderne erinnert. Giordano Bruno, nur zum Beispiel, bildet in "Über die Ursache, das Prinzip und das Eine" von 1584 diese Schichtendifferenzierung ab, wenn Elitropio, Brunos Stellvertreter, fragt: "Was verschlägt es jenen, dass sie geistlos und mit Werthlosem beschäftigt sind, wenn sie um so glücklicher sind?" Solange die Ungebildeten ihr Unglück nicht erkennen, scheint alles in Ordnung: "So wohl ist der Sau bei Eicheln und Trank, wie einem Zeus bei Ambrosia und Nektar." Aber dann stellt Elitropio die bange, vorausweisende Frage: "Wollt ihr jene vielleicht aus ihrem süßen Wahne reißen, dass sie euch nachher für eure Bemühung den Hals brechen müssten?" Dialektik der Aufklärung.

Adigas Roman stellt diese Frage erneut. Den Hintergrund bildet die inzwischen in soziale Aporien führende Kollision des Kastenwesens mit der profanen Binäropposition des Raubtierkapitalismus: Fressen und Gefressenwerden. Über die ästhetisch bereitliegende Form der Rollenanmaßung, den Schelmenroman, geht "Der weiße Tiger" hinaus. Soviel hier an "Felix Krull" gemahnt: ein Diener aus der Kaste der Zuckerbäcker steigt unter Opferung von Karma und Familie zum Unternehmer auf - dieser Roman zielt auf die Gesellschaft, ist insofern eher an Ralph Ellisons "Der unsichtbare Mann" orientiert.

Adiga ist ein großartiger Erzähler, der bei aller Detailfreude nie die Gesamtkomposition aus den Augen verliert. Obwohl gebürtiger Inder, ist Adigas Blick auf Indien, über das man hier viel lernen kann, ein distanzierter, beinahe ethnologischer: Der Autor studierte in Oxford und arbeitet als Journalist unter anderem für das "Time Magazine". Höchst souverän scheint schon die Erzählsituation: Der gesamte in Ich-Perspektive verfasste Roman, unterteilt in sieben Tagewerke, ist - als stolzes Geständnis im lakonischen Ton - an den chinesischen Premierminister Wen Jiabao adressiert. Einen Erzähler wie Balram Halwai aus dem Dorf Laxmangarh hat man noch nicht gesehen: Sympathie und Antipathie verdient er gleichermaßen, er betrügt nicht nur seinen Herrn, sondern auch sich selbst, seine Familie, den Leser und den chinesischen Premier - und ist dabei doch auch wieder grundehrlich. Stets wirken seine Handlungen unterwürfiger, als die erzählerische Haltung suggeriert, bis sich das Verhältnis genau umkehrt.

"Halb gar" fühlt sich dieser Balram, weil er kaum Schulbildung genossen hat. Der Grund war nicht mangelnde Eignung, im Gegenteil: "Weißer Tiger" nannte ihn, den klügsten Jungen im Dorf, einst ein Schulinspektor - nach dem seltensten Tier im Dschungel. Es nutzte ihm wenig. Zum ersten Mal rebelliert Balram nun gegen das Schicksal, lehnt sich auf gegen seine angeborene Teehaustätigkeit. Zum Fahrer will er ausgebildet werden, was ihm gelingt. Von einem der reichsten Männer des Ortes als Diener engagiert, begleitet er schließlich dessen Sohn Ashok als Fahrer nach Delhi, nachdem er sich im Machtkampf innerhalb der Dienerschaft durchgesetzt hat. Sein ganzer Ehrgeiz ist darauf gerichtet, den etwas unbeholfenen "Mr Ashok", dessen launische Frau "Pinky Madam" sowie Ashoks gerissenen Bruder "Mukesh Sir" auszuspionieren und zugleich als guter, einfältiger Diener zu erscheinen. Alle Erniedrigungen lässt er über sich ergehen. Als Pinky Madam betrunken ein Kind überfährt, wird erwartet, dass Balram die Verantwortung übernimmt: Nur ein Zufall rettet ihn.

Zu den stärksten Szenen des Romans gehören jene über den Tod der Eltern. Der Vater stirbt auf einem Krankenhausflur an Tuberkulose, ohne dass sich ein Arzt sehen lässt. Am Ufer des Ganges wohnt Balram der Verbrennung der Mutter bei, ohne dass er dem Ritus etwas abzugewinnen vermag: "Hier wurde nichts befreit." Ein Fuß zuckte aus den Flammen. Die Großmutter schob ihn zurück, doch er weigerte sich zu brennen, als würde er dem "schwarzen Schlamm" des Todes, der zu einem "mächtigen, schleimigen Hügel" am Flussufer angewachsen war, zu entkommen suchen.

Der eher gemütliche Plauderton vom Anfang des Romans weicht allmählich einer Steigerung von Intensität und Tempo: Es staut sich etwas an, ein Unmut, eine Wut, ein lauter werdendes Grummeln unter der Oberfläche, das aufzubrechen, sich zum Beben zu weiten droht. Mit Mr Ashok, der ihn gleichwohl nicht als "echten Menschen" sieht, verbindet Balram - den idealen Diener - derweil eine besondere, intensive Beziehung: "Im geschlossenen Raum des Wagens waren mein Herr und ich irgendwie zu einem Körper verschmolzen." Balram rebelliert gegen seine eigene Untertanenmentalität. "Mr Jiabao. Sir. Wenn Sie zu uns kommen, wird man Ihnen erzählen, wir Inder hätten alles erfunden, vom Internet über hartgekochte Eier bis hin zur bemannten Raumfahrt, nur hätten die Briten uns alle Ideen geklaut. Quatsch. Das Größte, was dieses Land in seiner zehntausendjährigen Geschichte hervorgebracht hat, ist der Hühnerkäfig." Der Hühnerkäfig, ein auf indischen Märkten omnipräsentes Drahtgebilde voller paralysierter Tiere, wird zur großen Metapher für das auf Duldsamkeit errichtete, sich heute als Demokratie tarnende System, aus dem es auszubrechen gilt - und sei es auf die chinesische Art.

Der die Flammen zurückweisende Fuß kehrt als Vision wieder: Im Lotossitz macht Balram eine Konversion durch, taumelt durch den Untergrund dieser absurden Stadt, begegnet einem Büffel, der einen Wagen voller Büffelköpfe zieht, trifft einen Buchverkäufer, der ihm die Bedeutung der Dichtung offenbart. Der Erwachte scheut das Pathos von Anrufungen nicht: "Erzähl mir vom Bürgerkrieg, sagte ich zu Delhi. Das will ich, antwortete sie." "Erzähl mir vom Blut auf den Straßen."

Es wird Balram, mit Bruno gesprochen, plötzlich klar, dass es keinen anderen Weg gibt, als seinem Herrn den Hals zu brechen. Doch dann verpufft der revolutionäre Impetus. Adiga gibt seinen Helden, gibt die Hoffnung endgültig verloren, opfert beides für sein Fazit. Denn nun steht da ein überheblicher ("Ich sehe nämlich immer schon ,Morgen', wenn andere noch im ,Heute' sind"), ein größenwahnsinniger ("In zwanzig Jahren gibt es bloß noch Gelbe und Braune", durch Sodomie und Handystrahlen sterbe der Westen aus), ein reueloser ("So werde ich doch nie sagen, dass ich in jener Nacht einen Fehler gemacht habe, als ich meinem Herrn die Kehle durchschnitt") Aufsteiger, der selbst das Problem darstellt, gegen welches dieses packende Debüt, die Inversion eines Sozialromans, mit Verve anschreibt.

- Aravind Adiga: "Der weiße Tiger". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Ingo Herzke. C. H. Beck Verlag, München 2008. 320 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Als ”Mordsgeschichte”, ”finstere Satire” und ”Umkehrung eines Bildungsromans” hat Rezensentin Susanne Mayer diesen Booker-preisgekrönten Debütroman gelesen, der ihren Informationen zufolge die Geschichte eines Dorfjungen aus ärmsten Verhältnissen erzählt, der sich in der Stadt eine Existenz aufbaut: ein Weg aus der Unschuld in die Amoralität, wie die Rezensentin schreibt, und zwar so ”unverschämt, finster” wie ”schreiend komisch”. Die Geschichte werde in sieben E-Mails erzählt, die der Protagonist an den chinesischen Premierminister schreibt und in denen die Rezensentin eine ”ausufernde Lebensgeschichte” sich entfalten sieht. Auch ließt sie, gelegentlich mit schaudernder Faszination, die komischen, manchmal quälenden Szenen, die Aravind Adiga seinen Protagonisten aus der ”Froschperspektive des Dieners” aus der Welt der Herrschenden beschreiben lässt, dessen Underdog-Sein ihn schließlich seinen Herren ermorden lässt: für die Rezensentin wohl auch eine Parabel auf das Verhältnis der Dritten Welt zur Ersten.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.10.2008

Die Körper der Armen und der Reichen
Aravind Adiga erzählt in „Der weiße Tiger” eine Herr-und-Knecht-Geschichte aus dem Hühnerkäfig Indien
Wer schon mal auf einem indischen Markt war, muss sie gesehen und gerochen haben, diese Verschläge, in denen Hunderte von dreckigen Hühnern sitzen, mit aufgerissenen Augen, in einer Wolke aus Angst, Ammoniak und Verwesung, während über ihnen der Verkäufer eines nach dem anderen schlachtet und ausnimmt. Das Blut tropft in die Käfige, die Hühner sehen die Organe der toten Tiere um sich herumliegen. Sie wissen, sie sind als Nächste dran. Dennoch halten alle still. Kein Huhn würde auf die Idee kommen, auszubrechen. „Sir, wenn Sie zu uns kommen, wird man Ihnen erzählen, wir Inder hätten alles erfunden, vom Internet über hart gekochte Eier bis hin zur bemannten Raumfahrt, nur hätten die Briten uns alle Ideen geklaut. Quatsch. Das Größte, was dieses Land in seiner zehntausendjährigen Geschichte hervorgebracht hat, ist dieser Hühnerkäfig.”
Balram Halwai hat es geschafft, er konnte aus dem Hühnerkäfig der indischen Gesellschaft ausbrechen, dem riesigen Verschlag aus Armut, duldsamer Lethargie und Angst. Jetzt sitzt er nachts in seinem Büro in Bangalore und schreibt Briefe. Zugegeben, er schreibt zu merkwürdigen Zeiten, zwischen Mitternacht und vier Uhr früh, aber zu der Zeit ist nun mal ganz Bangalore wach, da glühen die Drähte der Call Center für die Amerikaner. Balram richtet seine Briefe an den chinesischen Premierminister Wen Jiabao, hat er doch gehört, dass dieser nach Bangalore kommen will, um die Erfolgsgeschichte indischer Unternehmer in ihren eigenen Worten zu hören. Nach der Lektüre der Briefe kann sich der Premier die Reise sparen, so ehrlich wie Balram wird ihm kein anderer Inder erzählen, was Sache ist. Keinem anderen wird es außerdem gelingen, die eigene Geschichte derart gekonnt mit einem sarkastischen Porträt des Subkontinents in Zeiten von Call Centern, Malls und Handyboom zu verweben.
Erfunden hat diesen Selfmade-Unternehmer Aravind Adiga, ein 34-jähriger Inder, der für seinen Briefroman soeben überraschend den Booker-Preis erhielt. Adiga stammt aus Südindien, ist aufgewachsen in Australien, studierte in Oxford und lebt heute als Korrespondent der London Times in Bombay. So vermag er als Inder mit dem Blick des Fremden auf sein Land zu schauen. Genau wie sein Held.
Balram kommt aus dem „Dunkel”, wie er selber sagt, aus einem Dorf in Bihar, dem ärmsten Bundesstaat Indiens. Gewürzdüfte, bunte Tücher oder den Gott der kleinen Dinge gibt es hier nicht, die Gegend ist dreckig und grau. Zuhause hat er nicht mal einen Namen bekommen, er hieß nur Munna, Junge, weil seine Mutter zu beschäftigt damit war, an Tuberkulose zu sterben, und sein Vater den ganzen Tag Rikschas ziehen musste. Ein Lehrer nennt ihn später Balram und streicht dafür gleich seine Stimme ein für die anstehende Wahl.
Durch Zufall, Glück und Chuzpe wird Balram Fahrer einer reichen Familie, die den Großteil ihrer Zeit damit verbringt, die richtigen Leute zu schmieren. Sein Herr Ashok geht mit ihm nach Delhi, um näher am Zentrum der Macht zu sein, und so kommt es, dass Balram, der Junge aus dem Dunkel, wo noch nie jemand etwas von Start up oder neunprozentigem Wachstum gehört hat, plötzlich Tag um Tag vor diesen gleißenden Gebäuden steht und sich einen Reim zu machen versucht auf die schöne neue Welt.
Ashok ist ein schwacher Mensch, fast möchte man ihn liebgewinnen, schließlich glaubt man zu anfangs in ihm rudimentäre Herzensbildung, Menschenwärme, Gerechtigkeitssinn zu spüren. Er hat lange in den USA gelebt und ist so zunächst ebenso fremd im indischen Großstadtdschungel wie Balram. Die beiden verbringen viel Zeit zusammen und es entwickelt sich ein dialektisch verfilztes Intimitätsverhältnis wie in Hegels Gleichnis von Herr und Knecht: „Dieser kleine rechteckige Rückspiegel, Mister Jiabao, ist noch niemandem aufgefallen, in welche Verlegenheiten er einen stürzen kann? Dass er gelegentlich, wenn die Blicke von Herr und Diener sich darin begegnen, wie die Tür zur Umkleidekabine aufschwingen kann, und wie die beiden sich dann plötzlich nackt sehen?”
Leider ist Ashok molluskenhaft weich und macht mit bei den familiären Betrügereien, schmiert die Politiker und unterhält sich im Fond mit seiner Frau und seinem Bruder über Balram, als sei der gar nicht da, oder als sei er ein Hund, der sein Herrchen ohnehin nicht versteht. Tut er aber. Er ist, wie er selbst sagt, „kein origineller Denker, aber ein origineller Zuhörer”, er setzt sich sein Weltbild und seine Bildung aus dem zusammen, was er so hört, und hat so mit dem, was er dem chinesischen Premier erklärt, auf komische Art oftmals Unrecht und Recht zugleich.
So stehen Balrams Briefe tief in der Tradition des Schelmenromans, in dem ein scheinbar naiver Erzähler die Welt beschreibt, einer von außen, von unten meist. Vordergründig versteht er sie nicht, in echt demaskiert er sie durch seinen naiven Blick: Auf die sogenannte Demokratie, die hier, da nehmen sich rechte und linke Parteien nichts, nur eine gigantische Bestechungsmaschinerie ist; auf den glitzernden Boom in den Städten; auf Kleidersitten und Arbeiter; kurzum: auf den ganzen indischen Hühnerkäfig.
Leider sind die Zeiten hart, als indischer Schelm muss man schon einen Mord begehen, um rauszukommen aus der Dunkelheit. Balram ist verschlagen und egoistisch, ohne dass man ihm das übelnähme, Adiga treibt da ein beeindruckend diabolisches Spiel mit dem Leser. Ähnlich wie man Nabokovs Humbert Humbert irgendwann ja fast von Herzen wünscht, dass er seine 12-jährige Lolita bekommt, so hofft man für Balram, dass sein mörderischer Plan aufgehen möge.
Der Roman sei „in mehrfacher Hinsicht perfekt”, sagte der Vorsitzende der Booker-Preis-Jury, Michael Portillo, es sei schwer, auch nur den geringsten Gestaltungsfehler darin zu finden. Außerdem kämen hier endlich einmal einfache Inder zu Wort, Alltagsmenschen aus kleinen Dörfern. Das stimmt zwar, sagt aber in dieser Formulierung mehr über die Leselücken Portillos aus als über die eigentliche Qualität von Adigas Debütroman. Wer etwas über den einfachen Inder erfahren will, der kann genauso gut Tyref Altewala, Shashi Tharoor oder das Werk Kiran Nagarkars lesen, aus dem heraus man ganz Bombay mit all seinen Gerüchen, Träumen und verschrobenen Typen rekonstruieren könnte.
Es ist der helle, knappe Sarkasmus, der Aravind Adigas Buch so lesenswert macht. Ohne zu belehren, ohne je in journalistische Exkurse zu verfallen, beschreibt er ganz aus dem engen, verzerrten Blickwinkel seines kleinen Helden, wie in diesem Land die Schere zwischen Reich und Arm so weit aufgegangen ist, dass man meinen könnte, reiche und arme Inder gehörten mittlerweile verschiedenen Gattungen an. „Der Körper eines Reichen ist wie ein erstklassiges Baumwollkissen: weiß, weich, ohne Spuren. Das Rückgrat meines Vaters sah aus wie ein knotiges Seil, kleine Schnitte, Risse und Narben zogen sich wie Peitschenspuren über seine Brust und Taille, auch den Rücken hinunter bis über die Hüfte zum Hintern. Die Lebensgeschichte eines Armen ist ihm mit scharfer Feder auf den Körper geschrieben.”
Früher habe es zwischen Reichen und Armen zumindest eine gemeinsame Kultur gegeben, aber die sei längst restlos abgetragen, sagte Adiga bei der Preisverleihung in London. Auf die Frage, was er mit dem Preisgeld von umgerechnet 64 000 Euro mache, sagte er in dem trockenen Ton, der auch sein Buch so unterhaltsam macht: „Erstmal muss ich eine Bank finden, wo ich es überhaupt noch einzahlen kann.” ALEX RÜHLE
ARAVIND ADIGA: Der weiße Tiger. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Ingo Herzke. Verlag C. H. Beck, München 2008. 320 Seiten, 19,90 Euro.
Das Größte, was Indien hervorgebracht hat, ist die Erfindung des Hühnerkäfigs – heißt es bei Aravind Adiga boshaft Foto: Parth Sanyal/Reuters/Corbis
Booker-Preis-Gewinner Aravind Adiga Foto: David Levenson/Getty Images
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