29,99 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Versandfertig in 6-10 Tagen
payback
15 °P sammeln
Andere Kunden interessierten sich auch für
Produktdetails
Trackliste
LPDOW
122 (OVER SOON)
210 D E A T H B R E A S T
3715 - CRKS
433 "GOD"
529 #STRAFFORD APTS
6666 UPSIDEDOWNCROSS
721 MOON WATER
88 (CIRCLE)
9____45_____
1000000 MILLION
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2016

Gott der Prothesen und Bärte
Justin Vernon alias Bon Iver ist zurück: Und verkoppelt Körper, Seele und Technik. Ist das noch Pop? Oder schon die nächste Galaxie?

Plötzlich kann Justin Vernon einfach nicht mehr. Die Band schweigt, und er biegt sich auf der Bühne vor Lachen. Der ganze digitale Fuhrpark, all der Schnickschnack an Geräten, in die er hineinsingt, an denen er Regler dreht, Knöpfe drückt und Tasten hält, hat ihm gerade einen Streich gespielt. Plötzlich klingt nichts mehr nach Kunstpop, es knallt und kracht nur noch. Da steht der Künstler als einsamer Mann ratlos zwischen seiner Technik. So muss Sigmund Freud das mit dem "Prothesengott" gemeint haben: "Der Mensch . . . recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie . . . machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen."

Dieser Gott hier lacht also einfach und macht weiter. Justin Vernon ist der Kopf der Band Bon Iver, von der zurzeit die ganze Popwelt redet. Die Europatournee im Februar ist ausverkauft. Beim kleinen Privatkonzert, dass er diese Woche in Berlin gab, schien versammelt, was hübsch ist und weiß, was grad vorn ist. Überall Schirmmützen und Vollbärte. Auch ein Kerl mit buschigem Oberlippenbart und Vokuhila, Haaren bis zum Hosenbund, und da musste man lange überlegen, ob das Ironie ist - oder der Punkt, an dem sie in Ernst umkippt. Ob das etwa schon wieder geht?

Ähnlich ist es mit dieser Musik (auch wenn sie ungleich schöner ist). Was das denn bloß sei, will man immer wieder überlegen. Gleich auf "22 Over Soon", der ersten Nummer des neuen Albums, ist ein Sample von Mahalia Jackson zu hören. Und dann dieser weite, rührende Gesang von Vernon. Saxophon. Dann singen alle Musiker, die Stimmen sind aber kaum zu unterscheiden, so digital verzerrt wird alles. Was ist denn hier los!

Justin Vernon gründete das Projekt Bon Iver im Jahr 2008. Er war 26 Jahre alt, lange krank gewesen und pleite. Sein Vater lud ihn ein, den Winter auf einer Jagdhütte in Wisconsin zu verbringen. Dort in der Einsamkeit entstand mit Laptop, Gitarre und Mikrofon "For Emma, Forever Ago", sein Debüt. Und so begann eine erstaunliche Karriere. Zwei Grammys hat Vernon inzwischen, Peter Gabriel und Kanye West baten ihn in ihre Studios, er spielte Filmmusik für Zach Braff ein. Anfangs wurde er als Singer-Songwriter wahrgenommen. Bloß dass er, anders als all die anderen jungen Indie-Folk-Erneuerer wie Devendra Banhart, die vor ein paar Jahren laut gefeiert wurden, gern elektronische Irritationen einstreute - kleine Loops, Samples, etwas zu viel Hall.

Und während die anderen immer noch Hippie-Folk spielen, sind Bon Iver nun plötzlich eine Galaxis weiter rausgekommen, bei einer Musik, die sich nicht mehr um den Kodex irgendeines Genres schert. Ist es Folk, ist es Lo-Fi-Elektro, Free Jazz, Noise oder Rock? Wie doof solche Fragen immer waren, spürt man jetzt angesichts eines so freien und wunderbaren Pop.

"Down alone in the creek", singt Vernon, einsam unten am Fluss, natürlich drängen sich da Bilder von Amerikas Weiten auf, vielleicht der Pattison National Park in Vernons Heimat Wisconsin. Wasserfälle, einsame Ebenen und die ganze Midwestern-Romantik. Bloß dass hier singende Roboter-Drohnen über das weite Land fliegen. "I've been caught in fire", ich bin entflammt, singt er, mehrstimmig computerisiert, im Duett mit einem ebenfalls durch extreme Effekte geschickten Saxofon. "Without knowing what the truth is", heißt es weiter. Die Ästhetik der Verlorenheit hat schon immer gut funktioniert, egal, ob man ihr den Stempel "Generation X" oder "Y" gibt. Dazu passend inszeniert die Band einen äußerst verrätselten Kult um sich. Da sind die Symbole auf dem Cover, zwischen Runen und Leetspeak, Arabisch und höherer Mathematik. Dann die Songtitel: "19 d E A T h b R E a s T" oder "____45____". Manchmal posten Bon Iver eine Adresse und eine Uhrzeit auf Instagram, und wer dann hinläuft, findet einen einsamen Kassettenrekorder, der die neue Platte abspielt. So auch am Donnerstag in Berlin-Kreuzberg.

Das Aufhebens um eine Popband könnte schon nerven. Würde die Musik einen einfühlsamen Hörer nicht umhauen. Manchmal gerade wegen der Störungen, des Chaos, der digitalen Artefakte. Oft bleibt Vernons Stimme noch stehen, wenn er längst einen Schritt vom Mikro zurückgetreten ist. Ein heiseres, robotisches Echo hallt noch durch den Raum, formuliert Sehnsüchte. In Berlin reißt ein starker Wind an den Papierlampions, die über der Bühne hängen, und Vernon ruft: "Das gehört alles dazu, der Wind ist Teil der Show." Dies ist improvisierte Musik, aber nicht im Sinne des Jazz, hier lassen sich fünf Männer auf den Wellen der Technik treiben. Viel Herz, aber wenig Mensch. Eine wahre Band der Zukunft. Sie werfen sich dem Maschinenpark in die Arme und arbeiten mit dem, was dann passiert. Vielleicht ist das ein Symbol für eine offene Art, mit dem Leben umzugehen. Jedenfalls ist es ein großer Schritt für die Musik. Das Album "22, A Million" ist nur großartig, der Auftritt aber ein bewegendes Ereignis.

Folk-Musik ist immer von denen ideologisch instrumentalisiert worden, die auf eine diffuse Art nichts Neues hören wollen. Gegen Techno. Gegen elektronische Musik, gegen Experimente und zu viel Jazz. Folk war die Musik der Rückwärtsgewandten, die von Erdigkeit und echten Männern träumen. Von Natürlichkeit. Das war schon lange Unsinn - Johnny Cash wäre heute nicht so populär, hätte ihn nicht der Hip-Hop-Produzent Rick Rubin spät in der Karriere an die Hand genommen und fürs 21. Jahrhundert erfunden. Überhaupt war Johnny Cash ja immer schon eine Erfindung von Johnny Cash. Nun wehrt die Musik sich endgültig selbst. Bon Iver holt den Folk zurück in den Schoß der Technik und der experimentellen Unsicherheit. Dass dabei Musik entsteht, die auch noch zu Tränen rührt, ist eher eine interessante Nebenwirkung.

THOMAS LINDEMANN

Bon Iver: "22, A Million" (Jagjaguwar/Cargo)

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr