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Hegels philosophisches Werk erlebt gegenwärtig eine interkontinentale Renaissance; seine Rechtsphilosophie, einst der Klassiker politischen Denkens, scheint demgegenüber etwas vernachlässigt. Das könnte sich mit der brillanten Studie des Frankfurter Philosophen Axel Honneth rasch ändern, der sich in sechs Kapiteln mit "individueller Freiheit" und "Sittlichkeit" auseinandersetzt.

Produktbeschreibung
Hegels philosophisches Werk erlebt gegenwärtig eine interkontinentale Renaissance; seine Rechtsphilosophie, einst der Klassiker politischen Denkens, scheint demgegenüber etwas vernachlässigt. Das könnte sich mit der brillanten Studie des Frankfurter Philosophen Axel Honneth rasch ändern, der sich in sechs Kapiteln mit "individueller Freiheit" und "Sittlichkeit" auseinandersetzt.
Autorenporträt
Axel Honneth ist Professor für Sozialphilosophie an der Universität Frankfurt und der Columbia University sowie Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt (IfS). 2015 wurde er mit dem Ernst-Bloch-Preis ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001

Hegel für Fahrraddiebe
Neu formatiert: Axel Honneth liest die Rechtsphilosophie / Von Thomas Sören Hoffmann

Bruno Liebrucks, dessen 1966 erschienener Kommentar noch immer zum Inspirierendsten gehört, was über Hegels "Grundlinien der Philosophie des Rechts" von 1821 im zwanzigsten Jahrhundert zu Papier gebracht worden ist, hat die Frage, die das Buch des Berliner Weltweisen beantworten sollte, in die nur vordergründig schlichten Worte gefaßt: "Wer lebt auf dieser Erde?" Wirklich auf dieser Erde statt in akademischen Modellen von ihr leben leibhaftige Individuen, nicht abstrakte Subjekte, leben mit Geist und Sprache begabte Wesen, die sich dennoch zunächst ins Gesicht und nicht ins Bewußtsein schauen. Diese Erde ist der Ort, an dem gekämpft und geliebt, gelitten und überwunden, verworfen und erwählt wird. "Hic Rhodus, hic salta!" sagt Hegel in der Vorrede: Da stell' dich mitten hinein, und du wirst wissen, daß hier und jetzt, daß auf dieser Erde nichts so nötig ist wie das eine: das Recht.

Der Grund, weshalb dem Recht auf dieser Erde ein Vorrang vor der Moral und allen Eschatologien "moralischer Gemeinschaft" gebührt, ist ein sehr einfacher: In ihm ist Anerkennung, ist wechselseitiges Freilassen objektiv da und nicht erst durch das Einverständnis der Individuen vermittelt. Vor dem Recht, sagt Hegel, kann auch der schon Person sein, der es für sich noch längst nicht ist. Wenn moralische Konsense aller mit allen sich selbst auf den Jüngsten Tag vertagen, ist es der Sinn des Rechts, schon jetzt alle mit allen in jedermanns Freiheit versöhnt zu haben.

Man wird nicht zweifeln, daß dies alles heute mehr denn je für die Aktualität der Rechtsphilosophie Hegels bürgen muß. Wenn Hegel heute dennoch aus "dem Diskurs" zwar nicht aller, aber doch "der politischen Philosophie" verschwunden ist, so will dem jetzt ein Büchlein von Axel Honneth abhelfen. Es handelt sich dabei um einen Versuch, Hegel in ein sehr bestimmtes normatives Konzept moderner Gesellschaften zu übersetzen, dessen Frankfurter Zuschnitt unverkennbar ist - was unter anderem heißt, daß von der Einbettung der Rechtsphilosophie in den spekulativen Kontext Hegelschen Denkens bewußt abgesehen und der Text statt dessen auf der Ebene heute gängiger soziologischer Diskurse neu formatiert wird.

Dergleichen zu tun ist gewiß nicht verboten, hat aber seinen Preis: den zum Beispiel, daß die Grundmatrix der Rekonstruktion aller Arten von Interpersonalität jetzt "Gesellschaft" heißt, obgleich gerade Hegel es ist, der die universelle Anwendbarkeit des Gesellschaftsmodells im Praktischen bestreitet; den Preis auch, daß in der Schere von "Normativität" und "Faktizität" gedacht wird, obwohl es eine von Hegels Pointen ist, daß in der Realisierung von Recht als vernünftiger Wirklichkeit von Freiheit in Zeit und Raum dieser Gegensatz schon unterlaufen ist.

Man ist insofern zugleich überrascht und ist es auch nicht, wenn Honneth leitmotivisch davon spricht, Hegels Rechtsphilosophie sei "eine normative Theorie der Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften". Ein schlichtes Gemüt wird, seinen Hegel in der Hand, vielleicht fragen, wo in diesem Buch außer zur "strafenden" eigentlich etwas von "Gerechtigkeit" stehe. Ein weniger schlichtes wird zugeben, daß man die objektive Anerkennung, die das Recht ist, tatsächlich auch als verwirklichte Gerechtigkeit verstehen kann. Es wird aber vielleicht dennoch der Meinung sein, daß es nicht die geringste Weisheit Hegels war, das Recht nicht am Maß einer "Idee der Gerechtigkeit" zu messen, sondern es seine Gerechtigkeit gerade auch dann vollbringen zu lassen, wenn die Inhaber von "Theorien" oder "Ideen der Gerechtigkeit" alles andere als das Bild einer moralisch homogenen Gesellschaft abgeben.

Honneth selbst ist eher bereit, den Titel "Rechtsphilosophie" als "irreführend" preiszugeben, als auf Einsprüche dieser Art zu antworten. Im Verfolg früher Grundgedanken habe Hegel nun einmal die gesellschaftlichen "Bedingungen von Autonomie" traktieren, nicht hingegen in den engeren rechtsphilosophischen Diskurs als solchen eintreten wollen - eine These, die freilich hart an die endgültige Entmündigung des Autors durch seinen Interpreten grenzt. Dies vorausgesetzt, ist Honneths Deutung auf eine Pointe hin angelegt, die nicht unterschlagen werden soll: Die beiden ersten Teile der Rechtsphilosophie, das "abstrakte Recht" und die "Moralität", seien Momente eines strategischen Gesamtplans, das Sittlichkeitskonzept des dritten Teiles plausibel zu machen. Abstraktes Recht und Moralität werden nämlich als partikulär vernünftige Impulse dargestellt, die durchaus auch in der "modernen Gesellschaft" ihren Platz haben; zugleich aber wird "zeitdiagnostisch" gezeigt, daß sie je für sich keine solche Gesellschaft begründen können, sondern zu "sozialen Pathologien" führen - zu einem "Leiden an Unbestimmtheit", wie Honneth leider etwas unbestimmt sagt. Gemeint ist nicht einfach eine Unterdetermination, sondern eine exzentrische Stellung zum sozialen Kosmos.

Das will besagen, daß Recht und Moralität partielle Anerkennungs- und Selbstverwirklichungsfunktionen haben, aber, sozusagen zur Lebensform gemacht, die Individuen ihrer wahren Selbstentfaltung berauben, was sich für diese selbst in "gedrückten" Gemütszuständen, Apathien und Einsamkeiten melden soll. Die Sittlichkeit gewinnt demgegenüber "therapeutischen" Sinn, weil sie, in Institutionen abgestützt und die Individuen in "rationale" soziale Relationen stellend, das Reich "kommunikativer Freiheit" im Sinne von reziproker Anerkennung, individueller Selbstverwirklichung und Bildungsprozessen eröffnet. Nicht zuletzt der Hegel-Leser selbst, sagt Honneth, soll, bei den eigenen Defizienzerfahrungen gepackt, so begreifen, was er an "falschem Selbstverständnis" ablegen muß, um in dieses Reich eintreten zu können - er muß nur die ausgestreckte Hand, deren einer Finger einstweilen auf die schwärenden Wunden zeigt, noch ergreifen. "Lieber Mensch, wie soll man's anfangen, dich zu bewegen", steht zu Beginn der Herausgeber-Vorrede von Böhmes "Morgenröte"; der Mensch, der darauf meistens auch keine Antwort weiß, wird sich durch Hegels interaktive Bemühung um ihn nicht wenig gehoben wissen.

Honneth macht keinen Hehl daraus, daß die gerade skizzierte Idee ein Wittgensteinsches Philosophie-als-Therapie-Konzept rückwirkend auf einen Text überträgt, in dem selbst die wenigen zur Not verwertbaren Stellen zumindest ambivalent sind: Ist denn wirklich, um nur dieses Beispiel zu nennen, die "tiefste innerliche Einsamkeit" des Gewissens, von der Hegel spricht, ein in Zeitumständen begründetes Gebrechen und nicht vielmehr die Würde des Gewissens selbst? Rein philosophisch bewegt sich Honneth auch sonst auf dünnem Eis, was auch damit zu tun hat, daß der primäre Gedankengang Hegels, die Arbeit an den konkreten Begriffen, den Interpreten gerade nicht primär interessiert. Nur so ist es beispielsweise zu erklären, daß bei Honneth das Eigentum als "die Möglichkeit des dauerhaften Zugriffs auf beliebige Sachen" durch "jedes Subjekt" erklärt wird - eine Definition, die jeden Fahrraddieb freuen, aber Fahrradbesitzer und Hegelianer zu einer dissentierenden Fraktion zusammenschweißen wird; nur so auch, daß Sittlichkeit von "moralischen Geboten" als "internen Bestandteilen" intersubjektiver "Handlungsmuster" her gedeutet wird, obwohl Hegel gerade mit ihr auf ethische Kompetenzen nichtmoralischer Art abhebt, auf konkretes Ethos statt allgemeine Regeln.

Die relativ größte Textnähe weist dennoch Honneths Behandlung des Sittlichkeitsteils auf, und es finden sich hier auch manche Analysen, etwa zur Abfolge und internen Struktur der Sphären Familie - Gesellschaft - Staat, die man gerne akzeptiert. Nur hat etwa Honneths breit vorgetragene Vermutung, daß Hegel die Familie vor der Freundschaft deshalb auszeichne, weil sie eine "positiv-rechtliche Institution" und folglich staatlich "kontrollierbar" sei, wiederum mit dem Ethiker und Naturrechtler Hegel wenig zu tun. Für den ist die Ehe, wie es in den Vorlesungen heißt, "etwas Heiliges, Religiöses" und die Familie ein generationenübergreifender Zusammenhang von materieller und psychischer Subsistenz.

Objektive Anerkennung ist eine dreistellige Relation, die nicht nur auf zwei Subjekte, sondern auch auf eine Totalität zeigt, die mehr ist als diese Subjekte oder ihre Summe und die dennoch den Subjekten nicht einfach äußerlich ist. Das Recht, das objektive Anerkennung auf diese Erde bringt, ist selbst ein Gegenstand, nicht nur ein Mittel der Anerkennung, was einschließt, daß Rechtsverhältnisse nicht nur horizontalen Charakter haben. Das Letzte und Höchste sind sie nach Hegel übrigens nicht; aber die Frage des Rechts ist auch nicht die nach dem Letzten und Höchsten, sondern die nach dem Hier und Jetzt.

Axel Honneth: "Leiden an Unbestimmtheit". Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie. Reclam Verlag, Stuttgart 2001. 128 S., br., 8,- DM.

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"'Eine eigenwillige und stellenweise imponierende Interpretation der Auseinandersetzung um Selbstverwirklichung in pluralistisch verfassten Gesellschaften.'" -- 'Neuen Zürcher Zeitung'

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Axel Honneth versucht sich an einer Relektüre der Hegelschen Rechtsphilosophie - und zwar aus der (Frankfurter) Perspektive einer kritischen Gesellschaftstheorie. Die Hegelsche "Sittlichkeit" wird dabei zum Ort eines "kommunikativen Freiheitsbegriffs", den "Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat" verbürgen. Honneth vertraut auf die Fähigkeit der Individuen, Freiheitsrechte in vernünftiger Anerkennung des anderen durchzusetzen, und macht Hegel zum Vorwurf, dass er zuletzt immer die Absicherung in staatlichen Institutionen gesucht hat. Rezensent Ludger Heidbrink nun findet Honneths Umgang mit Hegel ein wenig zwiespältig. Einerseits, räumt er ein, leiste Honneth eine "eigenwillige und stellenweise imponierende" Neuinterpretation, andererseits aber setze er eine kommunikative Vernunft der Lebenswelt voraus, an die Hegel nicht geglaubt hat. An dieser Stelle droht, so Heidbrink, die Gefahr einer Einebnung sehr verschiedener Konzepte. Nicht ohne Ironie sei es, dass angesichts von Honneths staatsferner Zuversicht Hegels Wertschätzung des positiven Rechts ihn geradezu, wie Heidbrink schreibt, zum "kritischen Sozialphilosophen" mache.

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