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Was hält Europa zusammen - der reichste Binnenmarkt der Welt, eine starke Währung, die Freizügigkeit seiner Bevölkerung - oder eine geteilte Geschichte? Vier von zehn EU-Bürgern sind Euro-Skeptiker, die in Umfragen bekunden, die Europäische Union sei eine schlechte Sache. Wer die europäische Identität stärken möchte, so die These von Claus Leggewie, der wird die Erörterung und Anerkennung der strittigen Erinnerungen genauso hoch bewerten müssen, wie Vertragswerke, Währungsunion und offene Grenzen. In diesem Buch analysiert er die europäische Erinnerungslandschaft und besucht Erinnerungsorte,…mehr

Produktbeschreibung
Was hält Europa zusammen - der reichste Binnenmarkt der Welt, eine starke Währung, die Freizügigkeit seiner Bevölkerung - oder eine geteilte Geschichte? Vier von zehn EU-Bürgern sind Euro-Skeptiker, die in Umfragen bekunden, die Europäische Union sei eine schlechte Sache. Wer die europäische Identität stärken möchte, so die These von Claus Leggewie, der wird die Erörterung und Anerkennung der strittigen Erinnerungen genauso hoch bewerten müssen, wie Vertragswerke, Währungsunion und offene Grenzen. In diesem Buch analysiert er die europäische Erinnerungslandschaft und besucht Erinnerungsorte, an denen sich die aktuellen Geschichtskonflikte verdeutlichen lassen. Dabei steht die europäische Peripherie im Mittelpunkt, das Baltikum, die Ukraine, Jugoslawien, die Türkei, aber auch die europäische Kolonialvergangenheit und die Geschichte der Migranten. Auf diese Weise wird deutlich, wie weit noch der Weg ist zu einem im doppelten Wortsinne geteilten europäischen Geschichtsbewusstsein.
Autorenporträt
Claus Leggewie (Dr. disc. pol.) ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.05.2011

Die Unschärfen des Verstehen-Wollens
Mit ihrem neuen Buch wollen der Politologe Claus Leggewie und die Kulturwissenschaftlerin Anne-Katrin Lang der europäischen Einigung geschichtspolitisch aufhelfen
Im Dezember beschloss das Europäische Parlament die Errichtung eines „Hauses der Europäischen Geschichte“ in Brüssel. Schwerpunkt soll das 20. Jahrhundert sein, das 20. Jahrhundert Gesamteuropas natürlich. Einen Sachverständigenrat gibt es längst, im März letzten Jahres wurden Stellen für den Aufbaustab ausgeschrieben, das Projekt rollt. Was fehlt, das ist eine öffentliche Diskussion, nicht allein hierzulande. Das Europäische Parlament hat es auf Verhinderung einer solchen Diskussion angelegt, wie sein Präsident Hans-Gert Pöttering offen zugibt. „Wenn wir jetzt die thematische Debatte bis in jedes Detail führen würden, bevor wir das Fundament gelegt haben, dann zerstören wir das Fundament.“ Aber warum sollte eine Diskussion so schädlich sein? Jedes Vorhaben kann zerredet werden. Was macht gerade dieses besonders empfindlich?
Das berührt die Fragen, die sich der Gießener Politologe Claus Leggewie zusammen mit Anne-Katrin Lang vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen gestellt haben, als sie ihr neues Buch schrieben: „Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt.“ Die beiden glauben, dass Europa eine politische Identität nur gewinnen wird, „wenn die öffentliche Erörterung und wechselseitige Anerkennung strittiger Erinnerungen ebenso hoch bewertet wird wie Vertragswerke, Binnenmarkt und offene Grenzen“. Was aber, wenn die Erinnerungen nicht strittig sind – das heißt ja, dass ein gemeinsames Thema bereits gefunden wurde –, sondern nur verschieden?
Leggewie und Lang haben sieben „Kreise europäischer Erinnerung“ gefunden: den Holocaust, die Frage, ob der Sowjetkommunismus gleichermaßen verbrecherisch sei, die Vertreibungen, die Kriegserinnerungen (auch die an den Ersten Weltkrieg), Kolonialismus und Einwanderungen, zuletzt „Europas Erfolgsgeschichte“. Aber ist sie schon eine „Erinnerung“? Die Autoren sprechen selbst davon, dass aus dem Erfolg noch kein Selbstbewusstsein gewachsen sei. Also keine Erinnerung, eher mehr oder weniger dankbar hingenommene Gegenwart.
Am Beispiel von sechs „Erinnerungsorten“ wollen Leggewie und Lang vorstellen, wie Europa sich zu einer gemeinsamen Geschichte vorarbeiten kann. Ein solcher Ort ist beispielsweise das Ehrenmal für die Rote Armee in Tallinn, das die Esten 2007 aus dem Zentrum ihrer Hauptstadt an den Stadtrand verlagerten; die sowjetischen Soldaten waren für sie nicht Befreier, sie waren neue Besatzer. Das verlagerte Ehrenmal wurde zum Bild für die Auseinandersetzung mit der sowjetischen Herrschaft und der Frage, ob sie der nationalsozialistischen gleichzustellen sei. Andere Erinnerungsorte sind Videos auf YouTube, die Karadzic vor dem Tribunal in Den Haag zeigen, das Kolonialmuseum in Tervuren vor den Toren Brüssels, oder das Moped, das 1964 der millionste Gastarbeiter in Deutschland geschenkt bekam und nun im Bonner Haus der Geschichte der Bundesrepublik die Besucher auf die Arbeitsmigration hinlenkt.
Die Idee, mit solchen Erinnerungsorten zu arbeiten, ist schön, weit trägt sie nicht. Am ehesten kann man bei Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und sowjetischer Herrschaft von einer europäischen Erinnerung sprechen. Aber in den anderen Fällen, ob es nun um die Kolonialgeschichte geht oder die Migration, überwiegen die nationalen Unterschiede, das gibt das Buch auch zu. Tervuren etwa ist ein gern erwähntes Kuriosum geschichtspolitischer Rückständigkeit, wie ja auch die belgische Kolonialpolitik ein sehr eigener Fall war. Darf man daraus auf das aktuelle kolonialgeschichtliche Bewusstsein Europas schließen? Leggewie knüpft an diesen Fall Erwägungen über den politischen Umgang mit dem Kongo, anderen Staaten Afrikas und deren Eliten an. Vieles daran trifft wahrscheinlich zu. Doch was daraus für ein gemeinsames Geschichtsbild der Europäer und ihre politische Identität hervorgeht, das hat er aus den Augen verloren.
Die Autoren wollen der europäischen Einigung geschichtspolitisch aufhelfen, starke Denker sind sie kaum, jedenfalls geben sie sich nicht als solche zu erkennen. Immer wieder entgleitet ihnen das Thema. Sympathisch ist, dass sie im Kampf der Erinnerungen allen Seiten ihr Recht zugestehen wollen. Aber dieses Verstehen-Wollen führt immer wieder zu Unschärfen, zu denen die europäische Diskussion ja ohnedies tendiert. Es liegt eben nicht an den Autoren allein, wenn sich kein deutlich umrissenes Bild der Problemlage herstellt. Es ist auch der Gegenstand, der etwas Fahriges hat. Hat Europa eine gemeinsame Geschichte? Liegt der Fall anders als in Asien und wenn ja, was sind die Gründe? Die Kategorie der Nation ordnet einstweilen die Erinnerung. Wie und ob das zu überwinden wäre, genauer: wie und ob man zu einer europäischen Geschichtsöffentlichkeit kommt, das lässt sich nur schwer absehen. Das macht, zum Teil auch unfreiwillig, das Buch von Leggewie und Lang deutlich. Und das dürfte auch erklären, warum man vom Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel so wenig hört.
STEPHAN SPEICHER
CLAUS LEGGEWIE, ANNE-KATRIN LANG: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. Verlag C.H. Beck, München 2011. 224 Seiten, 14, 95 Euro.
Nationalsozialismus, Weltkrieg,
sowjetische Herrschaft – das hat
Europa gemeinsam erlebt
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.07.2011

Hölle und Paradies der Erinnerung
Rekonstruktion der geschichtspolitischen Konflikte und Debatten in Europa

Titel und Untertitel dieses inhaltsreichen Taschenbuchs klingen martialisch. Aber wer es liest, wird in der Tat mit einem Schlachtfeld konfrontiert. Zwar fließt im Allgemeinen kein Blut mehr, aber das Thema geht keineswegs im intellektuellen Florettfechten auf. Das Plädoyer der Autoren gilt einem gesamteuropäischen, offensiven, aber friedlichen Austragen von Erinnerungskonflikten - gerade weil diese bislang oft in sehr militanten Formen auftraten oder auch regional begrenzt blieben. Wenn Europa nicht nur mit Brüsseler Bürokratien, undurchsichtigen Agrarmarktordnungen und Währungsproblemen assoziiert werden soll, ist diese Reflexion auf die schwierige gemeinsame Geschichte ein wesentliches Element einer europäischen Identität - so die Leitthese des Buches. Das leuchtet insbesondere für die beiden prägenden Diktaturen des 20. Jahrhunderts ein: "Erst die ungeteilte Kommemoration beider totalitärer Vergangenheiten, der Staatsverbrechen des Nationalsozialismus wie des Stalinismus, sprengt den nationalen Referenzrahmen. Eine antitotalitäre Öffentlichkeit muss genuin europäisch sein, wenn sie den Gräben des Kalten Krieges entkommen will." Eine solche Forderung ist weitgehend konsensfähig. Doch dabei kann es nicht bleiben.

Die verschiedenen Kampfplätze des europäischen "Schlachtfeldes" werden aus der Rückschau rekonstruiert und in ihrer aktuellen Brisanz präzise beschrieben. In Form von sieben konzentrischen Kreisen, die zugleich als eine hierarchische Anordnung konzipiert sind, werden Schlüsselthemen diskutiert, die in einer kritischen europäischen Erinnerung konstitutiv sein sollten. Den Kern bildet der negative Gründungsmythos des in vieler Hinsicht singulären Menschheitsverbrechens, des Holocaust. Er war zumindest insofern gesamteuropäisch, als der deutsche Vernichtungsplan ohne breite europäische Kollaboration kaum hätte umgesetzt werden können. Der 27. Januar hat als Gedenktag der Befreiung von Auschwitz mittlerweile gesamteuropäischen Charakter. Den nächsten Kreis bildet der GULag, auch wenn bisweilen immer noch darüber gestritten wird, ob der Sowjetkommunismus gleichermaßen verbrecherisch war wie der Nationalsozialismus. "Ethnische Säuberungen" (einschließlich der der Deutschen), Kriege und Krisen (von Sarajevo bis zum Mauerbau) sowie Kolonialverbrechen sind die weiteren, negativ konnotierten Kreise. Die beiden letzten mit "Migrationsgeschichte" und "Europäischer Integration" verweisen auf aktuelle Felder, die zwar keine reinen Erfolgsgeschichten beinhalten, aber auch positive Erfahrungshorizonte der jüngsten Zeitgeschichte ansprechen. Diese sieben Kreise sind in Inhalt und Anordnung nicht als normative Setzungen von oben, sondern als diskutable Vorschläge für den Kern einer zivilgesellschaftlich getragenen, kontroversen europäischen Erinnerungskultur zu verstehen. Dass diese kontrovers bleibt und in ihren Gegenständen und Zugängen stets im Fluss sein muss, gehört zu den nachdrücklich betonten Prämissen des Buches.

Diesen Kreisen werden im zweiten Teil des Buches sechs "Erinnerungsorte der europäischen Peripherie" zugeordnet. Hier wird eine sehr instruktive und anschauliche Rekonstruktion von brisanten Kämpfen um Geschichtsinterpretationen geboten, die man als durchschnittlicher Zeitungsleser teilweise längst vergessen hat. So den Transport von "Aljoscha", der sowjetischen Heldenfigur aus dem "großen Vaterländischen Krieg" im estnischen Tallinn, aus der Stadtmitte in die Peripherie eines Friedhofs. Die Auseinandersetzungen darum eskalierten nicht nur bis zu Tätlichkeiten, sie hatten auch diplomatische Konsequenzen. Sie zeigen im Übrigen, wie "feuergefährlich" historische Daten und ihre Interpretation aus dem "Zeitalter der Extreme" sein können. Als weitere Beispiele werden erörtert: Karadzic als Symbolfigur des Bosnien-Krieges vor dem Tribunal in Den Haag; die Debatte um den Genozid an den Armeniern, der stets die Kollision mit dem Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuchs droht; der unklare Platz des Holodomor, der ukrainischen Hungerkatastrophe durch Stalins Zwangskollektivierung, im europäischen Gedächtnis. Ein beklemmendes und oft marginalisiertes Kapitel europäischer Kolonialgeschichte wird mit den Hinweisen auf das belgische "Museum für Zentralafrika" in Tervuren (Vorort von Brüssel) vorgestellt. Die (belgische) Schönfärberei ist hier noch ungebrochen präsent und lässt sich auch als Exempel für das "schwache Kolonialgedächtnis Europas" verstehen. Schließlich: das alte und immer neue deutsche "Gastarbeiter"- und europäische Einwanderungsproblem mit einigen bitteren Hinweisen auf die Biographie des in kaum einer Nachkriegsdarstellung fehlenden "millionsten Gastarbeiters", des Portugiesen Rodrigues.

Einen so komplexen Gegenstand wie europäische "Erinnerungsorte" als Kristallisationspunkte eines kollektiven Gedächtnisses mit extrem weichen und sich ständig verändernden Konturen in den Griff zu bekommen ist ein diffiziles und ambitioniertes Unterfangen. Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, hat sich damit auf höchst anregende Weise auseinandergesetzt. Was dieses Buch über eine zu luftigen Thesen oder regierungsamtlicher Harmonisierung einladende Thematik auszeichnet, ist insbesondere die genaue Rekonstruktion der geschichtspolitischen Konflikte und Debatten der europäischen Peripherie und ihre präzise Kontextualisierung. Über die Grundthese und das Gesamtkonzept in Form verschieden gewichteter konzentrischer Kreise wird man sicher streiten können und müssen. Aber das Buch ist ein wichtiger Anstoß, der hoffentlich auch in dem geplanten "Haus der europäischen Geschichte" eine Rolle spielen wird, das nahezu ohne öffentliche Debatte vom Präsidium des Europäischen Parlaments initiiert und bisher nur in und mit einem kleinen Expertengremium diskutiert wurde.

CHRISTOPH KLESSMANN

Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. C.H. Beck Verlag, München 2011. 224 S., 14,95 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensent Helmut König hat diesen Band mit Gewinn gelesen, vor allem weil er ihm vor Augen führte, wie provinziell Westeuropas historisches Gedächtnis zum Teil noch immer ist. Die Autoren Claus Leggewie und Anne Lang beschreiben darin verschiedene Erinnerungskonflikte, deren öffentliche Erörterung sie für eine europäische Einigung unerlässlich finden. In einem ersten Teil werden verschiedene Themenkreise der europäischen Erinnerung dargestellt (Holocaust, Gulag, Kolonialverbrechen, ethnische Säuberungen), in einem zweiten Teil dann einige Beispiele erinnerungspolitischer Konflikte (die sowjetische Annektierung der baltischen Länder, der Völkermord an den Armeniern, der Holodomor in der Ukraine). Wie kompliziert hier Erinnerung ist und wie ungewiss liebgewonnene Gewissheit, das hat der interessierte Rezensent hier erfahren können.

© Perlentaucher Medien GmbH