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2 Kundenbewertungen

Vom Aufwachsen in der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas.
Klug, rasant und herzzerreißend: Stefanie de Velascos aufrüttelnder Roman gibt Einblick in eine verborgene Welt und erzählt von einem Emanzipationsprozess, der sämtliche Fundamente zum Einstürzen bringt.
Ein ostdeutsches Dorf kurz nach der Wende. Die junge Esther wurde über Nacht aus ihrem bisherigen Leben gerissen, um hier, am anderen Ende der Republik, in der alten Heimat ihres Vaters, mit der Gemeinschaft einen neuen Königreichssaal zu bauen. Während die Eltern als Sonderpioniere der Wachtturmgesellschaft von Haus zu Haus…mehr

Produktbeschreibung
Vom Aufwachsen in der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas.

Klug, rasant und herzzerreißend: Stefanie de Velascos aufrüttelnder Roman gibt Einblick in eine verborgene Welt und erzählt von einem Emanzipationsprozess, der sämtliche Fundamente zum Einstürzen bringt.

Ein ostdeutsches Dorf kurz nach der Wende. Die junge Esther wurde über Nacht aus ihrem bisherigen Leben gerissen, um hier, am anderen Ende der Republik, in der alten Heimat ihres Vaters, mit der Gemeinschaft einen neuen Königreichssaal zu bauen. Während die Eltern als Sonderpioniere der Wachtturmgesellschaft von Haus zu Haus ziehen, um im vom Mauerfall geprägten Osten zu missionieren, vermisst Esther ihre Freundin Sulamith schmerzlich.

Mit Sulamith hat sie seit der Kindheit in der Siedlung am Rhein alles geteilt: die Fresspakete bei den Sommerkongressen, die Predigtdienstschule, erste große Gefühle und Geheimnisse. Doch Sulamith zweifelt zunehmend an dem Glaubenssystem, in dem die beiden Freundinnen aufgewachsen sind, was in den Tagen vor Esthers Umzug zu verhängnisvollen Entwicklungen führt. Während Esther noch herauszufinden versucht, was mit Sulamith geschehen ist, stößt sie auf einen Teil ihrer Familiengeschichte, der bislang stets vor ihr geheim gehalten wurde.

Poetisch, wortgewandt und mit unwiderstehlicher Kraft führt uns dieser Roman in eine Welt, die mitten in der unsrigen existiert und dennoch kein Teil von ihr ist. Und stellt eine unvergessliche junge Frau ins Zentrum, die alles daran setzt, selbst darüber zu bestimmen, welche Erzählungen ihr Halt geben.
Autorenporträt
Stefanie de Velasco, geboren 1978 im Rheinland, studierte Europäische Ethnologie und Politikwissenschaft. Sie schreibt regelmäßig für das Berliner Stadtmagazin Zitty, für die FAS und ZEIT Online. 2013 erschien ihr Debütroman 'Tigermilch', der in zahlreiche Sprachen übersetzt und für das Kino verfilmt wurde.
Rezensionen

buecher-magazin.de - Rezension
buecher-magazin.de

„Mitten in der Nacht haben sie mich geweckt und ins Auto gepackt. Ich habe geschrien, aber es hat nichts geholfen.“ Kurz nach der Wende ziehen Esthers Eltern in ein ostdeutsches Dorf. Sie sollen dort einen Königreichssaal bauen, aber sie sind auch auf der Flucht. Das hat mit Sulamith zu tun und damit, dass sie nicht mehr da ist. In Rückblenden erfahren wir von
Esthers und Sulamiths Aufwachsen als Zeuginnen Jehovas, von ihrer Freundschaft, von Sulamiths Zweifeln und ihrer Liebe zu einem Jungen „aus der Welt“. Dieses Buch ist sehr, sehr gut. Und jetzt zähle ich einfach stumpf auf, warum. 1. Das Erzähltempo. Es ist nahezu unmöglich, dieses Buch wegzulegen, bevor es zu Ende ist. 2. Diese Sätze. Die Ich-Erzählerin verwendet eine Sprache, die (wie sie selbst) keine Aufmerksamkeit auf sich lenken will. Und darin dann immer wieder diese Sätze. „Halte dich fern von den Jungen aus Benzin. Von den hohen Eichen und den Weiden am Fluss.“ 3. Fundiertes Wissen. Stefanie de Velasco ist bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen und verließ sie mit 15. Sie hat es an keiner Stelle nötig, auf Klischees zurückzugreifen. 4. Die Autorin rechnet nicht ab, sie versöhnt auch nicht. Sie erzählt einfach. 5. Notwendigkeit. Weißer, deutscher, christlicher religiöser Fundamentalismus findet sonst erstaunlich wenig Beachtung.

© BÜCHERmagazin, Elisabeth Dietz (ed)

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.10.2019

Haribo und Harmagedon
Die Zeugen Jehovas und die Nachwendezeit: Stefanie de Velascos Roman „Kein Teil der Welt“
Das Paradies sieht aus wie eine Mischung aus Zoo und Gemüsegarten. An die alte Welt erinnern nur noch Trümmer, Reste von Hochhäusern, Kirchen und Fußballstadien. Was man dort den ganzen Tag macht? Erst einmal für Ordnung sorgen. Also schnell die Trümmerhaufen mit Blumen bepflanzt. Dann die ausgespuckten Kaugummis, die Autoreifen und die Zigarettenstummel aufgesammelt. Am Ende kann man überall Gärten anlegen, mit Obst, Gemüse und Tieren, die sich mit Nuckelflaschen aufpäppeln lassen.
So ähnlich stellen sich Esther und Sulamith die andere Welt vor, die beiden Hauptfiguren aus Stefanie de Velascos neuem Roman. Zwei Mädchen, die sich der Imagination anvertrauen – das erinnert ein wenig an Nini und Jameelah aus de Velascos Debüt „Tigermilch“. Wo es dort allerdings um vielerlei ging, um Freundschaft und die wichtigsten Erinnerungen, um Liebe, Träume und die Stadt Berlin mit ihren gesellschaftlichen Risslinien, geht es im neuen Buch um eine genau benennbare Sache. Esther und Sulamith beziehen ihre Paradiesvorstellung weniger aus ihrer eigenen Fantasie als aus den Schriften der Zeugen Jehovas. Und um das Leben in dieser Glaubensgemeinschaft dreht sich gut 400 Seiten lang nahezu alles.
Stefanie de Velasco ist wie die beiden Mädchen mit den Zeugen Jehovas aufgewachsen, erst als sie 15 war, konnte sie sich lösen. In einem platten Sinn autobiografisch ist ihr Buch aber nicht. Vielmehr versucht sie eine Geschichte zu schreiben, die vor einem bestimmten historischen Hintergrund unterschiedliche Sichtweisen auffaltet. Kurz nach dem Mauerfall zieht Esthers Familie aus dem Rheinland in ein ostdeutsches Dorf. Ihr Vater ist dort groß geworden, das Haus der Großmutter steht leer. Doch den Eltern geht es weniger um nostalgische Gefühle als darum, jenen missionarischen Auftrag zu erfüllen, der mit dem Ende des Kalten Krieges möglich geworden ist: neue Gemeinden zu gründen und für die Zeugen Jehovas, die in der DDR und in vielen anderen Staaten des Ostblocks verboten waren, Menschen zu gewinnen.
Für Esther sieht die Sache freilich ganz anders aus. Und de Velasco dockt mit ihrem Erzählen an die Perspektive der 16-Jährigen an, welche die Zeugen Jehovas zunehmend als patriarchale Zwangsgemeinschaft erfährt. Nicht nur, dass sie weder Geburtstag noch Ostern oder Weihnachten feiern darf, nicht nur, dass ihr die Angst vor Dämonen und der großen Entscheidungsschlacht „Harmagedon“ eingeimpft wird, nicht nur, dass sie die Welt ihrer Freunde nicht als die wirkliche Welt sehen darf – sie hat auch Sulamith durch die Gemeinschaft verloren.
In Rückblenden erzählt sie, wie Sulamith und ihre Mutter einst, nach ihrer Flucht aus Rumänien ins Rheinland, für die Zeugen Jehovas gewonnen wurden. Sulamith aber beginnt bald schon, die Grundsätze in Frage zu stellen, und entzieht sich der Gemeinschaft schließlich. Was genau mit ihr geschehen ist, bleibt lange in einer klug kalkulierten Schwebe. Dabei umschifft de Velasco die Untiefen selbsttherapeutischer Befragung und versucht auch keine Abrechnung zu schreiben. Doch wird genau dieses überdeutliche „Versuchen“ zunehmend zum Problem des Romans. Alles soll von zwei Seiten gezeigt werden. Hier die Freundin, die zweifelt, dort die Freundin, die lange Zeit zu entscheidungsschwach ist. Hier die Nöte, die dazu führen, dass jemand sein Heil in der Glaubensgemeinschaft sucht, dort der empfundene Zwang, der jemanden zum Ausstieg bringt.
Auch führt die Vorstellung der zwei Seiten dazu, dass der Roman bisweilen wirkt, als hätte sich die Autorin den ParadiesTraum ihrer Figuren zum Vorbild genommen und erst einmal für Ordnung gesorgt. Der Osten ist winterlich grau und kalt, der Westen warm und voller Sommergerüche. Der Vater ruht in seinem Glauben, sein Bruder im Osten ist der Außenseiter, der im Untergrund lebt. Dass dies zum Teil Esthers jugendlicher Perspektive und Sprache geschuldet ist, in die sich auch noch ein Hang zur Sentenz mischt – geschenkt. Trotzdem leidet der Roman über weite Strecken an einem Schwarz-Weiß-Schema und bekommt etwas leicht Didaktisches.
Vor allem aber wiederholt de Velasco nicht selten einfach Denkmuster, wie sie auch bei den Zeugen Jehovas vorkommen, statt sie erzählerisch zu durchdringen. Ähnliches gilt für den Alltag, den sie einspeist, um zu zeigen, dass die „Kinder aus der Wahrheit“ in Wahrheit in der wirklichen Welt leben. Wo sie in „Tigermilch“ mit der Sprache gespielt hat (aus jedem „Falter“ wurde dort flugs eine „Folter), werden hier einfach die Waren und ihre Namen reproduziert. Kaum eine Seite, auf der nicht ein kursiv gesetztes „Sinalco“, „Snickers“ oder „Haribo“ aufblinken würde.
Das ist schade, denn es gibt eine spannende historische Ebene, die anhand der Geschichte von Esthers Großmutter angeschnitten wird: die Verfolgung der Zeugen Jehovas im Dritten Reich. Und es gibt eine fantastische Ebene, fünf kleine Einschübe über eine inselartige Welt, die im Salz versinkt, eine Erzählung, deren Herkunft nur lose angedeutet wird. Hätte Stefanie de Velasco diese beiden Ebenen noch dichter mit der erzählten Geschichte verbunden – vielleicht wäre ihr jene Offenheit gelungen, die in der Salzgeschichte einmal erwähnt wird: „Jemand hat die Himmelsrichtungen geändert ..., keiner weiß mehr, wo was liegt“.
NICO BLEUTGE
Stefanie de Velasco: Kein Teil der Welt. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 432 Seiten, 22 Euro.
Der Osten ist winterlich grau und
kalt, der Westen warm und
voller Sommergerüche
Stefanie de Velasco.
Foto: imago images/Leber
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Rezensentin Cornelia Geissler hat nur wenig an dem neuen Roman von Stefanie de Velasco auszusetzen. Der Geschichte um die 15jährige Esther, die mit ihren Eltern nach der Wende vom Westen in den Osten zurückzieht, wo ihre Eltern eine Gemeinschaft der Zeugen Jehovas aufbauen, liest die Kritikerin interessiert, vor allem mit Blick auf die Emanzipation des jungen Mädchens, das sich weder im Osten noch in der Religionsgemeinschaft dazugehörig fühlt. Auch die Konflikte zwischen Esther und ihrer Freundin Sulamith, ebenfalls durch ihre Mutter bei den Zeugen Jehovas, erscheinen Geissler "differenziert" und plastisch beschrieben. Dass die Autorin noch ein "dunkles Geheimnis" in ihren Roman einbaut, findet die Kritikerin indes überflüssig.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.02.2020

Jehovah will es nicht
In "Kein Teil der Welt" erzählt Stefanie de Velasco vom Aufwachsen in einer Sekte

Die Apokalypse ist nah. Die Erde wird von Satan beherrscht, der sich allerdings darauf gefasst machen muss, demnächst in der Endschlacht von Harmagedon vernichtend geschlagen zu werden. Danach mögen für die Auserwählten paradiesische Zustände anbrechen und die Lämmer mit den Löwen kuscheln. Immerhin wird den Ungläubigen von den Zeugen Jehovas nicht die ewige Höllenpein angedroht, sondern bloß die völlige Annihilation.

Wie es sich anfühlt, in einer Sektierer-Welt zwischen Anstand und Apokalypse aufzuwachsen, vermittelt der zweite Roman der 1978 geborenen Schriftstellerin Stefanie de Velasco so eindringlich, dass es auch einem "Weltmenschen" - so werden alle bezeichnet, die nicht zur Gemeinschaft der Zeugen Jehovas gehören - unter die Haut geht. Denn hinter deren zufriedenen Fassaden tun sich Abgründe auf; sie sind den Einflüssen der Dämonen preisgegeben.

So bekommt es Esther Joellenbeck, die sechzehnjährige Ich-Erzählerin, von ihren Eltern eingetrichtert. Kontakt mit Weltmenschen wird jedenfalls möglichst vermieden, etwa indem man deren Feste wie Weihnachten, Silvester und Geburtstag nicht mitfeiert.

Der Roman spielt kurz nach dem Mauerfall. Gerade ist Esthers Familie vom Rheinland in den "nahen Osten" gezogen, womit ein fiktives Provinzkaff namens Peterswalde in der ehemaligen DDR gemeint ist. Die Eltern kommen ursprünglich von dort. Jetzt geht es darum, in der atheistischen Steppe, wo der Zusammenbruch des alten Systems viel Orientierungslosigkeit hinterlassen hat, missionarische Pionierarbeit zu leisten und den ersten Königreichssaal aufzubauen. Es ist eine bisher nicht erzählte Variante des Nachwenderomans.

In schneidender Kälte stehen die Brüder und Schwestern mit dem "Wachturm" vor dem neuen Supermarkt oder gehen mit ihrer Botschaft von Haus zu Haus, wo sie oft nicht willkommen sind. Verachtung, Spott, Hass - aber Esthers Mutter scheint den Widerwillen geradezu zu genießen. Sie ist eine hartgesottene Missionarin, die bereits auf mehreren Kontinenten Menschen gefischt hat. Regelmäßig wechseln die Kapitel über das neue Leben in Peterswalde mit Rückblenden in die Zeit vor dem Umzug, in denen die Geschichte einer Widerspenstigen erzählt wird. Esthers Kindheitsfreundin Sulamith macht sich früh eigene Gedanken, die in der Wachturm-Welt nicht vorgesehen sind. Es ist eine Qual für sie, wenn sie der Biologielehrerin beim Thema Evolution Paroli bieten und an die Mitschüler das "Schöpfungsbuch" verteilen soll. Am Ende dieser beklemmenden Szene flieht Sulamith beschämt auf die Schultoilette, wo sie die Seiten des Buchs ins Klo stopft.

Dann aber scheint der verheißene Tag von Harmagedon gekommen. Es beginnt mit Lichterscheinungen am Himmel; darauf folgt ein schweres Gewitter mit sintflutartigem Regen. "Es geht los", entscheidet Esthers Vater, und die Gemeinde versammelt sich mit den lange vorbereiteten "Harmagedon-Beuteln" für die Kinder (darin ein Gesangbuch und eine Überlebensration Süßigkeiten) im Königreichssaal. Kurz darauf wackeln die Wände, und die Dachziegel fallen klatschend zu Boden. Ein Erdbeben, wie in der Bibel angekündigt! Bald verzieht sich der Sturm jedoch; es war eines der leichten Beben, wie sie in der Rhein-Region vorkommen können. Die fabelhaft geschilderte Komödie dieses Fehlalarms bestärkt Sulamith in ihrem Widerwillen. Wie einengend die Doktrin der Zeugen ist, erlebt sie aber erst wirklich, als sie sich in einen "Weltjungen" verliebt. Die Freundlichkeit unter den Brüdern und Schwestern weicht sauren Mienen: "Jehovah will es nicht!" Sulamiths labile Mutter rastet völlig aus.

Literarisch hat das Verhaltenskorsett der Sekte den Effekt, dass eine eigentlich gewöhnliche Liebesgeschichte wie in den Dramen vergangener Jahrhunderte zur tragischen Passion wird. Später, in Peterswalde, bekommt Esther durch die Erinnerung an ihre tote Freundin selbst die Kraft, sich gegen die Zwänge der Gemeinschaft aufzulehnen.

So schlicht die Sprache des Romans ist, sein Aufbau zeigt die gewachsene Erzählkunst der Autorin seit ihrem durchwachsenen Debüt "Tigermilch". Zur geschickten Dramaturgie gehört es, dass die zunehmend kritische Perspektive auf die Zeugen Jehovas, wie sie sich mit der Emanzipation Esthers verbindet, kontrastiert wird durch die Darstellung einer anderen jungen Frau, die sich zur Sekte hinwendet: Cola, die eigentlich Marie heißt, lebt mit ihrem Trinker-Vater auf einer heruntergekommenen Biberpelz-Farm in Peterswalde; sie ist eine verlorene Seele, die die Rettungsleine, die ihr die Zeugen hinhalten, ergreift. Gierig schlürft sie beim Bibelstudium die Verheißungen auf - eine Tochter ganz nach dem Herzen von Esthers Mutter. Am Ende hat sie mit Esther die Rollen getauscht. Sie trägt ihre knielangen Kleider und blickt kritisch auf die "Abtrünnige": "Du bist so verwöhnt ...Wie du deine Mutter anschaust, als wäre sie ein Monster und du ein entführtes Grafenkind."

Diese Gegenläufigkeit macht das Buch literarisch stärker, als es eine bloße Aussteigergeschichte wäre. Und es gibt weitere Passagen, in denen die Zeugen Jehovas durchaus Anerkennung finden, etwa wenn die alte, herzkranke Schwester Wolf, die anfangs nur als komische Figur erscheint, von der Zeit des Nationalsozialismus erzählt. Esthers Großmutter kam damals als Kommunistin ins Lager und wurde dort von den Zeugen bekehrt, beeindruckt von deren Zusammenhalt und Unbeirrbarkeit. Als "Himmelskomiker" wurden sie von der SS verhöhnt, die sich einen Spaß daraus machte, ihnen Blutwurst in die Häftlingssuppe zu schneiden, so dass sie wegen des Bluttabus nichts davon essen durften. Auch Schwester Wolf war in Haft: "Wir hatten Jehova, er war immer bei uns. Diese SS, das waren doch auch nur verlorene Schafe, in den Fängen Satans."

Historisch hat die 1870 gegründete Sekte ihre dunkle biblizistische Vorstellungswelt vom Endkampf satanischer und göttlicher Kräfte in dem Moment entwickelt, als sich die Amtskirchen davon entfernten. Heute hat die Offenbarung des Johannes, die finale apokalyptische Vision des Neuen Testaments, für die meisten Christen geringe Bedeutung. Für die Zeugen Jehovas dagegen ist sie das zentrale biblische Buch, weil sie daraus ihre Endzeit-Berechnung beziehen. Zwar behaupten sie, die Bibel "wörtlich" zu nehmen, interpretieren deren Texte aber oft im dilettantischen Freistil, wenn sie etwa das siebenköpfige Tier der Hure Babylon umstandslos auf die Organisation der Vereinten Nationen beziehen. Auch die UN - ein Werkzeug Satans.

Evangelikale Strömungen haben weltweit starken Zulauf. Und manche Jugendliche wachsen hierzulande in Elternhäusern auf, die den Koran so fundamentalistisch verstehen wie die Zeugen Jehovas die Bibel. Von daher behandelt dieser Roman über das Leben im Korsett des Glaubens ein wichtiges Thema, und er tut es auf fesselnde, formal gelungene Weise. Wo zuvor die Religion war, ist bei Esther am Ende nur noch eine "Leere", die sie "mit Hoffnungen und Träumen ausfüllen kann". Ob das Leben als geächtete "Abtrünnige" nicht auch Albträume bereithält - diese Frage bleibt offen.

WOLFGANG SCHNEIDER

Stefanie de Velasco: "Kein Teil der Welt". Roman.

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 434 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Sie schildert die Gemütszustände ihrer Protagonistin so glaubhaft und präzise, wie es wohl nur jemand kann, der eine solche Situation selbst miterlebt hat.« Isabelle Bach Deutschlandfunk 20191113