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Der Zugriff der Soziologie auf die Geschichte erfolgte von Anfang an über die Prägung robuster Prozessbegriffe wie etwa »Differenzierung« oder »Individualisierung«, die in Zeitdiagnosen bis heute eine zentrale Rolle spielen. Thematisiert wurde dabei jedoch selten, welchen geschichtsphilosophischen Ballast diese Begriffe mit sich führen, weshalb in jüngster Zeit einige von ihnen stark kritisiert worden sind. Wolfgang Knöbl analysiert, wie in verschiedenen Phasen der Disziplingeschichte - zumeist erfolglos - versucht wurde, historische Prozesse zu theoretisieren, und arbeitet heraus, welche…mehr

Produktbeschreibung
Der Zugriff der Soziologie auf die Geschichte erfolgte von Anfang an über die Prägung robuster Prozessbegriffe wie etwa »Differenzierung« oder »Individualisierung«, die in Zeitdiagnosen bis heute eine zentrale Rolle spielen. Thematisiert wurde dabei jedoch selten, welchen geschichtsphilosophischen Ballast diese Begriffe mit sich führen, weshalb in jüngster Zeit einige von ihnen stark kritisiert worden sind. Wolfgang Knöbl analysiert, wie in verschiedenen Phasen der Disziplingeschichte - zumeist erfolglos - versucht wurde, historische Prozesse zu theoretisieren, und arbeitet heraus, welche erzähltheoretischen Einsichten die Soziologie aufzunehmen hat, wenn ihre Diagnosen ernst genommen werden wollen.
Autorenporträt
Wolfgang Knöbl ist Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Achim Landwehr ist dem Soziologen Wolfgang Knöbl dankbar für alternative Erklärungsmodelle in den Sozialwissenschaften. Dass der Autor dafür auf den Dialog zwischen Sozial- und Geschichtswissenschaften setzt und Standards wie Modernisierung, Rationalisierung und Globalisierung hinterfragt, scheint Landwehr wichtig und zielführend. Knöbls Skepsis gegenüber herkömmlichen Prozessbegriffen vermittelt sich im Buch laut Landwehr so eingängig wie überzeugend. Knöbels "verlorene" Geschichte der Sozialtheorie, chronologisch erzählt, weist für Landwehr allerdings auch wieder bekannte Muster auf. Für den Rezensenten ist sie konventionell, linear, westlich, männlich. Lesenswert ist sie aber auch, versichert er.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.05.2022

Fragwürdige Aufklärung
Sich über populäre soziologische Zeitdiagnosen
lustig zu machen, ist leicht. Warum gibt es sie trotzdem?
VON OLIVER WEBER
Was wir nicht schon alles waren! Eine vormoderne Gesellschaft, eine Klassengesellschaft, eine Industriegesellschaft, eine postindustrielle Gesellschaft, die zuerst spät-, dann plötzlich auch postmodern war, bevor sie schlimmerweise flüchtig und regressiv, ganz sicher aber eine beschleunigte wurde. Alsbald werden wir vielleicht eine digitale Gesellschaft sein oder eine der Singularitäten, wenn nicht die Corona-Gesellschaft oder gar die im Ukraine-Krieg wieder postpostheroisch gewordene Gesellschaft dazwischenfunkt. Sich über dieses Potpourri soziologischer Zeitdiagnosen lustig zu machen, ist leicht. Sehr viel schwerer ist es aber, zu bestimmen, wo sie eigentlich ihre Überzeugungskraft hernehmen. Der Hamburger Soziologe Wolfgang Knöbl hat nun einen Beantwortungsversuch gewagt, der einer Kritik soziologischer Vernunft gleichkommt.
Sein Buch beginnt mit einer unterhaltsamen Anekdote, die schon das ganze Problem vor Augen stellt: Die Soziologen Talcott Parsons und Raymond Aron trafen sich 1973 anlässlich eine Kolloquiums zum Frühstück in Rom. Doch auch die schöne Umgebung konnte den darauffolgenden Streit nicht verhindern. Parsons warf seinem Gesprächspartner vor, eigentlich keine Soziologie, sondern Ideengeschichte zu betreiben. Aron, dem diese Unterscheidung kalt lies, beharrte darauf, dass auch eine gegenwartsorientierte Soziologie, die soziales Handeln zu ihrem Kernbegriff macht, an der geschichtlichen Gewordenheit und damit Variation dessen, was „soziales Handeln“ eigentlich bedeutet, nicht vorbeigehen könne. Daraufhin stand Parsons auf und ging.
In einer Art kontrafaktischen Theoriegeschichte fragt Knöbl anschließend, was gewesen wäre, hätte man nicht die Unterschiede obsiegen lassen, sondern das gemeinsame Problem dieses Streits wissenschaftlich ernstgenommen. Denn auch die gegenwartsorientierte Soziologie, wie sie mit Parsons das Fach seither dominiert, beschreibt ihren Gegenstand mit Begriffen, die ihre unklare Herkunft nicht verleugnen können.
Ein Beispiel hierfür ist das berühmt gewordene Postulat Niklas Luhmanns, wonach „Systeme“ – immerhin ein Grundbegriff seiner Theorie – einfach existieren. Darf ein Wissenschaftler das einfach so voraussetzen? Und wenn ja, müsste sich Angemessenheit dieser Voraussetzung am empirischen Material nicht erst beweisen? Schließlich sind es dieselben Soziologen, die häufig mit riesengroßen Prozessbegriffen arbeiten, um so die Evolution des gegenwärtigen Zustands zu erklären: Rationalisierung, Individualisierung, Modernisierung, Differenzierung – um nur einige berühmte zu benennen. Unbeleuchtet bleibt dabei, so Knöbls Kritik, was das wirklich „Prozesshafte an all diesen Prozessen“ ist, wie man sie beobachten könne, und woher eigentlich ihre Notwendigkeit komme.
Kurzum, die Soziologie steht vor einem doppelten Problem, auf dessen geschichtliche Dimension Aron seine Kollegen gerade hinweisen wollte: Woher nehmen wir eigentlich die Begriffe, mit denen wir uns die Gegenwart erklären? Und: woher wissen wir, wie es historisch zu dieser Gegenwart kommen konnte? Knöbls Kritik an der „Soziologie vor der Geschichte“ ist als Warnung zu verstehen, vor diesem Doppelproblem weiter auszuweichen. Andernfalls droht man mit anderen Mitteln fortzusetzen, was das 20. Jahrhundert an seinen beiden Vorgängern kritisierte und für wissenschaftlich überholt hielt: Geschichtsbetrachtung als Geschichtsphilosophie.
Ein Beispiel hierfür liefert der Modernebegriff selbst. Entgegen der üblichen Vorstellung avancierte dieser zur grundlegenden Epochenbestimmung erst nach dem zweiten Weltkrieg. Viele Soziologen griffen ihn auf, um verschiedene globale Entwicklungen auf einen Zustand zulaufen zu lassen, der von den „Gesellschaften des europäischen und nordamerikanischen Kulturraumes“ quasi vorgegeben war, insofern sie „durch säkulare, individualistische, universalistische, leistungsbezogene und wissenschaftliche Werte charakterisiert“ seien. Der Fixpunkt, der zur Erklärung des geschichtlichen und gegenwärtigen Geschehens hergenommen wurde – „die Moderne“ – war nicht selbst dem empirischen Material entnommen, sondern merkwürdigerweise sowohl theoretisch als auch normativ vorausgesetzt.
Doch nicht nur das. Viele Hauptwerke der Soziologie erzählten die Geschichte der „Moderne“ als einen irgendwie automatisch ablaufenden Prozess der „Modernisierung“. Das was erklärt werden soll, die Herkunft „moderner Gesellschaften“, wurde also kurzerhand selbst als erklärender Faktor in die Geschichte hineinverlegt – als wäre es die Moderne selbst, die in der Geschichte agiert! Sie „handelt also, reagiert, lernt, vertraut, baut ein und so weiter, sodass man ob ihrer zahlreichen Fähigkeiten offensichtlich nicht anders kann als staunen“, so Knöbls Karikatur modernisierungstheoretischen Sprachgebrauchs.
Wäre es da nicht besser gewesen, man hätte auf Aron gehört und „dieses Staunen der Sozialwissenschaftler über die Taten ihres eigenen begrifflichen Geschöpfes“ der eigenen „Reflexion und Skepsis“ ausgesetzt? Vielleicht hätte man sich dann weniger wundern müssen, dass ökonomische „Modernisierung“ mitunter auch mit politischer Regression einhergehen kann.
Knöbls Buch, das trotz mitunter scharfer Kritik an den eigenen Kollegen ihnen mit spürbar großer Sympathie begegnet, ist im besten Sinn des Wortes ein Verkomplizierungsversuch. Soziologische Zeitdiagnosen und große Prozessbegriffe haben durchaus ihre Berechtigung. Aber ihnen muss eine methodische Klärung dessen vorangehen, was das eigentlich bedeutet: ein Prozess, der auf diese Gegenwart zuläuft. Denn die Gegenwart kann unmöglich selbst schon das Vorantreibende gewesen sein. Gleichzeitig waren die Ereignisse, die der Prozess verkettet, im Moment ihres Auftretens noch offen – was hat sie also jeweils verschiedentlich in eine nachträglich einheitliche Richtung bewegt? Und wie ist zu verhindern, dass man die Geschichte dabei von Vornherein bloß auf das hin befragt, was auf den Endzustand hindeutet? Es musste ja doch nicht immer schon so kommen, wie es gekommen ist. Die Frage, warum es dennoch so kam, wird dadurch nur umso interessanter.
All diese Klärungen soziologischer Begrifflichkeiten dienen Knöbl nicht nur dazu, das Feld für noch zu findende, bessere Gesellschaftstheorien abzustecken. Sie ermöglichen zugleich, die Attraktivität heutiger Zeitdiagnosen auf dem Meinungsmarkt zu verstehen. Die Sozialwissenschaften „waren nie bereit anzuerkennen, dass in den von ihnen geprägten oder verwendeten großformatigen Prozessbegriffen fast immer auch eine gehörige Portion Geschichtsphilosophie steckte“, so die Grundthese. Aber gerade dieser Umstand verhalf ihnen immer wieder, ihre theoretischen und empirischen Unklarheiten zu verdecken: Denn das massenmediale Publikum will nicht in erster Linie exakte Verläufe rekonstruieren, es will sich über seine Lage im Weltgeschehen aufklären. Dieser, auch normative Überschuss von Sinn ist genau das, was große Gesellschafts- und Prozessbegriffe, die auch noch einen unklaren theoretischen Status haben, anbieten können.
Natürlich ist auch jenes Publikum ein Adressat dieses elegant geschriebenen Buches. Auch diesem dämmert ja, dass sich „aktuell die Halbwertszeit von Zeitdiagnosen rapide verringert“ – wo sich die öffentlichen Deutungsversuche zu überbieten versuchen, da scheint auch die Lage der Dinge am Ende verworrener denn je. Auf die Sinnangebote der Großprozesse ohne deren genaue Prüfung einzugehen, macht den Umgang mit der eigenen Geschichte also nicht unbedingt aufgeklärter. Im Gegenteil: Gerade die eigene geschichtsphilosophische Vorliebe könnte Teil der geschichtlichen Verstrickung sein, in die man Klarheit zu bringen versuchte. Konsequenterweise steht am Ende von Knöbls gelungener „Historisierung der Sozialtheorie“ deshalb auch kein eigenes Deutungsangebot, sondern nur die trockene Aufgabe, methodisch abgesicherte Perspektiven auf unsere Gesellschaft zu entwickeln, in denen sich mehr spiegelt als unsere eigenen Hoffnungen und Befürchtungen.
Das Buch ist ein
Verkomplizierungsversuch,
aber im besten Sinne
Die Halbwertszeit der
Befunde verringert sich
derzeit rapide
Noch eine große Party oder schon die „Spaßgesellschaft“? Berliner Love Parade 1997.
Foto: dpa
Knöbl, Wolfgang: Die Soziologie vor der Geschichte. Zur Kritik der Sozialtheorie. Suhrkamp, Berlin 2022.
316 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2022

Und was soll als Modernisierung gelten?
Große Begriffe auf dem Prüfstand : Wolfgang Knöbl nimmt Beschreibungen des Wandels ins Visier

Ein Buchtitel, der zunächst einmal irritiert: "Die Soziologie vor der Geschichte". Wie ist die Präposition "vor" zu verstehen? Ist die Soziologie hierarchisch der Geschichte übergeordnet? Soll sie ihr zeitlich vorgängig sein? Oder wird sie gar vor deren Richterstuhl zitiert?

Der produktiven Irritation, die in dem Titel steckt, ist das Buch von Wolfgang Knöbl - Soziologe und Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung - auf mehrerlei Weise verpflichtet. Beliebigkeit will er durch diese Verwirrung sicherlich nicht andeuten, aber Bescheidenheit und Offenheit in Theoriebildungen sowie eine kritische Haltung gegenüber Versuchen, die sich allzu schnellen Vereindeutigungen überlassen, dürfen es schon sein. Und dafür scheint ihm der Dialog zwischen den Sozial- und Geschichtswissenschaften hilfreich.

Knöbls Ausgangspunkt ist die Skepsis gegenüber standardisierten Erklärungsmodellen in den Sozialwissenschaften, wie sie vor allem durch Prozessbegriffe repräsentiert werden: Modernisierung, Rationalisierung, Säkularisierung, Globalisierung und wie die vielen weiteren '-ierungen' nicht alle heißen. Mit dieser Skepsis kommt eine Verunsicherung zum Ausdruck, wie sie seit mindestens vier Jahrzehnten, mindestens seit Lyotards "Das postmoderne Wissen" auf der Agenda der wissenschaftlichen Diskussion steht. Sie ist dem Unbehagen geschuldet, dass diese Erklärungsmodelle zwar als unpassend entlarvt, politisch aber weiterhin wirkmächtig sind.

Es geht in Knöbls Buch letztlich also um die Gretchenfrage sozialen und historischen Wandels: Wie hältst du es mit der Transformation - und mit ihrer Beschreibung? Bei seinem Misstrauen gegenüber etablierten Prozessbegriffen hat Knöbl insbesondere mit der Modernisierung ein Hühnchen zu rupfen. Und er führt in seiner nicht nur überzeugenden, sondern auch fernab vom hermetischen Fachjargon geschriebenen Darstellung gewissermaßen eine alternative Geschichte der Sozialtheorie vor: Was wäre gewesen, wenn nicht Talcott Parsons, sondern der geschichtsphilosophisch denkende Raymond Aron zur sozialwissenschaftlichen Überfigur geworden wäre? Was wäre gewesen, wenn nicht die normative soziale Ordnung als Maxime über der Soziologie schweben würde, sondern die historische Situiertheit handelnder Personen?

Knöbl will es sich nicht nehmen lassen, eine solche Entwicklung zumindest nachträglich noch möglich werden zu lassen. Deswegen erzählt er eine, wenn man so möchte, verlorene Geschichte, wie nämlich Geschichtsphilosophie und Geschichtstheorie aus der Sozialtheorie verschwunden sind, obwohl sie einst deren Bestandteile waren. Er geht chronologisch vom späten 18. bis ins frühe 21. Jahrhundert vor, lässt dazwischen alle Größen sozialwissenschaftlicher Debatten auftreten: Marx, Weber, Durkheim, Luhmann und viele mehr. Gleichwohl sind es andere Namen, die in seiner Darstellung die Hauptrollen übernehmen, diejenigen, die der Historizität des Sozialen größere Bedeutung zumessen, aber nicht in der ersten Reihe der Theorietradition stehen: Neben Raymond Aron sind Georges Gurvitch, Siegfried Landshut, Andrew Abbott oder Michel Dobry die eigentlichen Helden in Knöbls Buch.

Dass sie eher in der zweiten oder dritten Theoriereihe zu finden sind, mag am Wissenschaftsdogma der unmittelbaren Nutzanwendung liegen. In einer wissenschaftlichen Diskussionslage, in der kurzfristig wirksame Ergebnisse über langfristig einsichtige Erkenntnisse gesetzt werden, in der ein Relevanzprimat die Wertigkeit wissenschaftlicher Produktivität auf die Bedeutsamkeit für die jetzt Lebenden beschränkt, kann es kaum verwundern, dass Fragen langfristiger Transformationen unter den Tisch fallen. Wenn das auch noch mit einem Modernisierungsparadigma korreliert, das die eigene Gegenwart ohnehin für den Höhepunkt bisheriger historischer Entwicklung hält, wird alles bisher Gewesene flugs zur 'Vorgeschichte' eingedampft.

Knöbl zeigt diese Nutzanwendungsfokussierung anhand des Aufstiegs der sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorie nach dem Zweiten Weltkrieg, als es darum ging, Modelle für die 'Entwicklung' der Welt nach dem Vorbild eines normierten westlichen Standards zu entwerfen. Mit diesem Angebot konnte die Soziologie nach 1945 wissenschaftlich und politisch punkten - mit Auswirkungen bis heute.

Knöbl belässt es aber nicht bei einer kritischen Revue, sondern zeigt unter Zuhilfenahme erzähltheoretischer Erkenntnisse Auswege aus der modernisierungstheoretischen Sackgasse. Und das scheint auch bitter nötig. Denn angesichts von Klimakrise, Schuldenbergen oder Bevölkerungsverschiebungen ist zwar klar, dass wir weiterhin mit der Frage nach den großen Transformationen konfrontiert sind - viel weniger klar ist jedoch, wie sich davon sinnvoll erzählen lässt. Nicht, dass Wandel stattfindet, ist problematisch, sondern wie sich diese Wandlungen beschreiben lassen, ohne in die unilinearen und teleologischen Muster einer Fortschrittsgeschichte einzumünden, wie sie uns (in säkularisierter Fortsetzung christlicher Muster) seit der Aufklärung begleitet.

Dabei ist die Geschichte, die Knöbl in seinem Buch erzählt, selbst nach eher herkömmlichem Muster gestrickt. Sie ist durchaus linear und durchaus in der Tradition konventioneller Wissenschaftserzählungen aufgebaut, soll heißen: sehr europäisch-westlich, sehr männlich dominiert und sehr von der Aufklärung bis in die eigene Gegenwart organisiert. Aber ungemein lesenswert ist das Buch trotz alledem, weil es offen bleibt gegenüber Irritationen, weil Knöbl auf wichtige Anregungen aus der Ethnologie und der postkolonialen Theorie setzt und weil er Wege in ein anderes Erzählen eröffnet.

Um also die Präposition 'vor' im Buchtitel aufzulösen und auf die Partnerschaft hinzuweisen, die Soziologie und Geschichtswissenschaft laut Knöbl eingehen sollten, müssen auch ganz andere Sichtweisen einbezogen werden, die aus räumlichen und zeitlichen Kontexten stammen, die nicht dem Paradigma der Moderne verpflichtet sind. Wir brauchen, wie Ashis Nandy einmal festgestellt hat, nicht nur alternative Geschichten, wir benötigen eine Alternative zur 'Geschichte'. Wolfgang Knöbl weist dahin den Weg. ACHIM LANDWEHR

Wolfgang Knöbl: "Die Soziologie vor der Geschichte". Zur Kritik der Sozialtheorie.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 316 S., br., 22,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Wir brauchen, wie Ashis Nandy einmal festgestellt hat, nicht nur alternative Geschichten, wir benötigen eine Alternative zur 'Geschichte'. Wolfgang Knöbl weist dahin den Weg.« Achim Landwehr Frankfurter Allgemeine Zeitung 20220824