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Theorie und Gesellschaft Als Mitbegründer der "Subaltern Studies" ist der indische Historiker Dipesh Chakrabarty einer der Vorreiter der postkolonialen Geschichtsschreibung. Seine einflussreichen Schriften umfassen ein breites Spektrum, das von der Geschichte der Arbeiterklasse bis zur Herausbildung einer Mittelschicht im kolonialen Indien reicht, aber auch die Geschichte der indigenen Völker Australiens und globale Risiken wie die Klimakatastrophe umfasst. Mit seinen Arbeiten hat Chakrabarty außerdem wesentlich zu einer Kritik des Eurozentrismus in den Geistes- und Sozialwissenschaften…mehr

Produktbeschreibung
Theorie und Gesellschaft
Als Mitbegründer der "Subaltern Studies" ist der indische Historiker Dipesh Chakrabarty einer der Vorreiter der postkolonialen Geschichtsschreibung. Seine einflussreichen Schriften umfassen ein breites Spektrum, das von der Geschichte der Arbeiterklasse bis zur Herausbildung einer Mittelschicht im kolonialen Indien reicht, aber auch die Geschichte der indigenen Völker Australiens und globale Risiken wie die Klimakatastrophe umfasst. Mit seinen Arbeiten hat Chakrabarty außerdem wesentlich zu einer Kritik des Eurozentrismus in den Geistes- und Sozialwissenschaften beigetragen, zugleich aber auch auf die Schwierigkeiten, diesen zu überwinden, hingewiesen. Seine Studien verdeutlichen die Grenzen der Anwendung zentraler Kategorien der europäischen Moderne, wie Aufklärung und Säkularisation, für eine Analyse nicht westlicher Gesellschaften. Sein Werk ist in mehrere Sprachen übersetzt und weit über die Fachgrenzen der Geschichte hinaus rezipiert worden. Die in diesem Buch versammelten Aufsätze geben erstmals in deutscher Übersetzung einen Überblick über die wichtigsten Thesen und Forschungen von Dipesh Chakrabarty.
Autorenporträt
Dipesh Chakrabarty With a new preface by the author
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung

Vom Zentrum zur Provinz
Der Kontinent der Selbstkritik: Dipesh Chakrabarty beschreibt Europa als globales Vorbild zur Selbstverbesserung
Westliche Kommentatoren lieben Epochenwechsel. Aufmerksamkeit garantierende Headlines sind dann rasch gefunden wie nun bei den Revolutionen in Tunesien und Ägypten oder im libyschen Bürgerkrieg. Von einer Globalisierung der Aufklärung, der Werte und der Menschenrechte ist dieser Tage die Rede. Doch das ist eben ein zutiefst westlicher Blick auf die Weltgeschichte.
Dipesh Chakrabarty hat schon allein aufgrund seiner Herkunft einen anderen Blickwinkel. Der indische Historiker ist Mitbegründer der „Subaltern Studies“, die Arbeiter, Stammesangehörige und Bauern als Subjekte ihrer eigenen Geschichte zu begreifen versuchen, und gilt als einer der Vorreiter der postkolonialen Geschichtsschreibung. Mit seinen Studien zeigt er die Erkenntnisgrenzen des immer noch weit verbreiteten Eurozentrismus in den Geistes- und Sozialwissenschaften auf. Denn zentrale Kategorien der europäischen Moderne wie Aufklärung und Säkularisation erweisen sich für die Analyse nicht westlicher Gesellschaften als nur schwer anwendbar.
Stattdessen plädiert Chakrabarty auch in seinem jüngsten Werk zur Globalgeschichte und Postkolonialismusforschung für eine „Provinzialisierung Europas“. Dabei geht der „South Asian Languages and Civilizations“ an der Universität von Chicago lehrende Historiker von der realistischen Annahme aus, dass die unterschiedlichen Europas, die in den verschiedenen Teilen der Welt in den Köpfen der Menschen existieren, in einer Beziehung zueinander stehen. Man könne die positiven Errungenschaften Europas heutzutage nicht mehr von dessen dunkleren Seiten trennen, die Geschichte der Renaissance und Aufklärung nicht mehr unabhängig von der Geschichte der europäischen Expansion und der Kolonisierung der Länder und Lebenswelten anderer Völker betrachten.
Denn es war das Europa der frühen Neuzeit und der Aufklärung, das der Welt zwar viele der zentralen politischen Ideen der Moderne schenkte – Rechte, Staatsbürgerschaft und die Ideen des Liberalismus, Sozialismus und der Demokratie –, aber zugleich diese Ideen zur Rechtfertigung der Unterdrückung anderer verwandte. Für Chakrabarty ist dies eine historische Lehre, die er „niemals“ vergessen könne, wenn er von Europa spreche – eine Sichtweise, die auch viele Menschen in Nordafrika angesichts des in der gemeinsamen Geschichte nicht selten widersprüchlichen Verhaltens von Europa gegenüber seinen südlichen Nachbarn teilen dürften.
Europa vor diesem Hintergrund nicht als Zentrum, sondern als Provinz zu verstehen, ist für Chakrabarty mit einem postkolonialen Dilemma verbunden: Die Gedankenwelt, die während des Zeitalters der europäischen Expansion und Kolonialherrschaft entstanden ist, erscheint zur Beschreibung und Analyse der nichtwestlichen Geschichte und Gesellschaft ebenso unverzichtbar wie ungenügend.
Zwar lässt sich der Einwand, dass das europäische Denken nicht geeignet sei, Gesellschaften mit nichteuropäischen oder nichtwestlichen Vergangenheiten zu erhellen, leicht nachvollziehen. Schließlich besitzt jede Gesellschaft ihre eigene Geschichte; warum sollten diese Geschichten dann in analytische Kategorien passen, die von europäischen Gesellschaftstheoretikern und Philosophen formuliert wurden, die in der Regel lediglich ihre eigene Gesellschaft aus unmittelbarer Erfahrung kannten? Aber dieser Einwand von Chakrabarty lässt zugleich umso schwerer verstehen, weshalb das europäische Denken dennoch unverzichtbar sein soll. Denn dann stellt sich die Frage, ob zum Verständnis nichtwestlicher Gesellschaften nicht ganz auf westliche Kategorien verzichtet und stattdessen deren eigene, indigene Kategorien verwendet werden sollten.
Doch Chakrabarty behauptet das Gegenteil. Für ihn ist das europäische Gedankengut weniger aufgrund seiner analytischen Schärfe als vielmehr wegen seiner emanzipatorisch-visionären Entwürfe unverzichtbar geworden – der Visionen von Gerechtigkeit und Freiheit im menschlichen Zusammenleben, die oftmals den letzten Horizont dieses Denkens absteckten. Nicht zuletzt hat dies viele antikoloniale Denker dazu bewegt, sich auch auf das europäische Erbe zu berufen. Denn wer sich nach Chakrabartys Wahrnehmung seit dem 19. Jahrhundert in irgendeiner Form auf die Moderne berief, ließ sich zugleich auf jenen Teil der Welt ein, der sich als eine, und sei es nur vage umrissene Einheit präsentierte, die den anderen überlegen war: Europa.
Diese Auseinandersetzung mit dem alten Kontinent, auf die sich viele antikoloniale Intellektuelle eingelassen hatten, bedeutet für Chakrabarty wiederum nicht, dass die europäische Überlegenheit je fraglos anerkannt worden wäre; ebenso wenig wurde sie aufgrund einfacher nativistischer Argumente zurückgewiesen. Die Komplexität der intellektuellen Auseinandersetzung mit Europa lässt sich in Chakrabartys Augen am besten erhellen, indem man die europäisch-imperialistische Herrschaft über die Welt, die im Großen und Ganzen in den fünfziger und sechziger Jahren endete, mit jener Art von Macht vergleicht, welche die Vereinigten Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg ausgeübt haben: Während die Herrschaft einer Supermacht darin besteht, dass sie auf ökonomischem, militärischem und technologischem Gebiet eine beherrschende Stellung innehat und auch die Vorstellungswelten prägt, übermittelten die europäischen Mächte, die sich im Zeitalter der Renaissance zu kolonialen und imperialen „Herren der Menschheit“ aufwarfen und diese Stel-lung während der Aufklärung und bis ins 19. Jahrhundert hinein konsolidierten, ihren kolonialisierten Opfern zugleich Begriffe und Denkkategorien, mit denen sich die europäische Herrschaft kritisieren und in Frage stellen ließ.
Als zwei solche „Waffen der Kritik“, die im 19. Jahrhundert zwar in Europa geschmiedet wurden, aber deren Genealogie weiter in die Vergangenheit zurückreicht, nennt Chakrabarty den Marxismus und den Liberalismus. Denn beide wurden mit großer Wirkung von den Denkern vieler, sich entkolonialisierender Nationen zur Kritik an Europa eingesetzt. Damit unterschied sich die europäische Kolonialherrschaft von der Herrschaft einer Supermacht durch einen Zivilisationsaspekt nicht im Sinne einer „zivilisatorischen Mission“ als Vorwand zur Unterwerfung, sondern als Idee einer gemeinsamen menschlichen Zivilisation, die Chakrabarty als ein bedeutsamer Teil des antikolonialen Erbes erscheint. Denn damit hatten die europäischen Mächte zur Kritik an sich selbst eingeladen, wie auch noch heute im öffentlichen Diskurs über das Verhalten Europas gegenüber den autoritären Regimen in Nordafrika deutlich sichtbar wird.
Schon indische Denker wie Gandhi oder der Dichter Tagore, die in einem vielschichtigen Gespräch mit dem Westen standen, waren von der Fähigkeit Europas beeindruckt, sich selbst mit dem Werkzeug zur Selbstkritik und damit auch zur Selbstverbesserung auszurüsten.
Dieses Erbe mit globaler Wirkung zu provinzialisieren, bedeutet für Chakrabarty nicht nur, sich gewahr zu sein, dass das europäische Denken sowohl emanzipatorische wie unterdrückerische Züge trägt, sondern dass es sowohl seinem Geiste wie seiner praktischen Anwendung nach zugleich universalistisch und provinziell war: „Nur durch Prozesse der Verschiebung und Übersetzung seiner grundlegenden Kategorien konnte es zu einem Erbe für andere Völker werden.“
In diesem Sinne ist Europa auch bei der Globalisierung der Aufklärung, der Werte und der Menschenrechte nicht Zentrum, sondern Provinz. Die anfängliche Ohnmacht der europäischen Regierungen gegenüber den Revolutionen in Tunesien und Ägypten und dem Bürgerkrieg in Libyen hat die Thesen Chakrabartys einmal mehr eindrucksvoll bestätigt.   THOMAS SPECKMANN
DIPESH CHAKRABARTY: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2010. 224 Seiten, 24,90 Euro.
Europa nutzte die eigenen Ideen
zur Unterdrückung anderer
Dipesh Chakrabarty lehrt in Chicago „subaltern Studies“. Foto: M. Weiss
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