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In seiner großen Gesamtdarstellung des europäischen Antisemitismus von 1880 bis 1945 zeigt der bekannte Historiker Götz Aly, dass der Holocaust nicht allein aus der deutschen Geschichte heraus erklärbar ist. Sowohl in West- als auch in Osteuropa hatten Antisemitismus und Judenfeindschaft seit 1880 sprunghaft zugenommen - angetrieben von Nationalismus und sozialen Krisen. Erstmals stellt Götz Aly hier den modernen Antisemitismus als grenzüberschreitendes Phänomen dar. Ohne die Schuld der deutschen Täter zu mindern, zeigt er, wie Rivalität und Neid, Diskriminierung und Pogrome seit Ende des 19.…mehr

Produktbeschreibung
In seiner großen Gesamtdarstellung des europäischen Antisemitismus von 1880 bis 1945 zeigt der bekannte Historiker Götz Aly, dass der Holocaust nicht allein aus der deutschen Geschichte heraus erklärbar ist. Sowohl in West- als auch in Osteuropa hatten Antisemitismus und Judenfeindschaft seit 1880 sprunghaft zugenommen - angetrieben von Nationalismus und sozialen Krisen. Erstmals stellt Götz Aly hier den modernen Antisemitismus als grenzüberschreitendes Phänomen dar. Ohne die Schuld der deutschen Täter zu mindern, zeigt er, wie Rivalität und Neid, Diskriminierung und Pogrome seit Ende des 19. Jahrhunderts vielerorts dazu beigetragen haben, den Boden für Deportationen und Völkermord zu bereiten. Während des Zweiten Weltkriegs ermordeten die nationalsozialistischen Besatzer schließlich sechs Millionen Juden, die meisten in Osteuropa, teils unter Mithilfe lokaler Polizei und Behörden. Mit seinem gesamteuropäischen Blick ermöglicht Götz Aly ein neues, umfassendes Verständnis des Holocaust.
Ausgezeichnet mit dem Geschwister-Scholl-Preis 2018.
Autorenporträt
Götz Aly ist Historiker und Journalist. Er arbeitete für die »taz«, die »Berliner Zeitung« und als Gastprofessor. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt. 2002 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis, 2003 den Marion-Samuel-Preis, 2012 den Ludwig-Börne-Preis. Bei S. Fischer erschienen von ihm u.a. 2011 »Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933« sowie 2013 »Die Belasteten. ¿Euthanasie¿ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte«. Im Februar 2017 erschien seine große Studie über die europäische Geschichte von Antisemitismus und Holocaust »Europa gegen die Juden 1880¿1945«. Für dieses Buch erhielt er 2018 den Geschwister-Scholl-Preis.Literaturpreise:Heinrich-Mann-Preis für Essayistik der Akademie der Künste Berlin 2002Marion-Samuel-Preis 2003Bundesverdienstkreuz am Bande 2007National Jewish Book Award, USA 2007Ludwig-Börne-Preis 2012Estrongo Nachama Preis für Zivilcourage und Toleranz 2018Geschwister-Scholl-Preis 2018
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.02.2017

Komplizen
des Holocaust
Götz Aly blickt auf die Judenfeindschaft in Europa vor
1933 und danach – und dabei vor allem nach Osten
VON BARBARA DISTEL
Es ist sicherlich nicht rufschädigend zu behaupten, dass Götz Aly, den die Welt als „Bestsellerautor, Journalist und Historiker“ tituliert, umstritten ist. Der heute fast Siebzigjährige hat es im Laufe von Jahrzehnten immer wieder verstanden, Mitglieder seiner Zunft vor den Kopf zu stoßen, persönlich zu kränken oder lächerlich zu machen. Wandte sich in den 1980er-Jahren seine Kampfeslust gegen das zeithistorische Establishment, so überraschte er seine Leser in späteren Jahren mit warmen Worten für Professor Ernst Nolte, der 1986 den Historikerstreit mit der Frage ausgelöst hatte, ob der Holocaust eine Reaktion der Nationalsozialisten auf vorausgegangene Massenverbrechen des Gulag-Systems in der Sowjetunion gewesen war.
Mitarbeiter von Gedenkstätten bezeichnete er als „schlecht getarnte Langweiler, die einfallslos und betulich an ihren Lebenszeitstellen kleben und den Status quo verteidigen“. Und in seinem Buch „Unser Kampf“ (2010) polemisierte er gegen die Studentenbewegung der 1968er-Jahre, der er selbst angehört hatte und deren Wirken er im Nachhinein als „kollektiven Wahn“ apostrophierte. Daneben erforschte und publizierte er unermüdlich zur Geschichte des Holocaust und dem Verhalten der Deutschen während der Jahre der nationalsozialistischen Diktatur. Er wurde mit zahlreichen Preisen und Ehrungen ausgezeichnet und ist heute ein beliebter Gesprächspartner und Kommentator in Presse, Rundfunk und Fernsehen.
Nun hat Götz Aly eine neue Studie „Europa gegen die Juden 1880 bis 1945“ publiziert. In neun Kapiteln legt er dar, wie sich außerhalb Deutschlands, insbesondere in Ländern Mittel- und Osteuropas lange vor dem Zweiten Weltkrieg Judenhass sowie Mord und Vertreibung der jüdischen Minderheit ausbreiteten. Darüber hinaus entwickelt er seine These, dass sich der Holocaust ohne aktive und passive Unterstützung und Mitwirkung durch Regierungen, staatliche Institutionen und Teile der Bevölkerung anderer Länder niemals mit gleicher Geschwindigkeit hätte verwirklichen lassen. Er stützt sich nahezu ausschließlich auf zeitgenössische Quellen und bezieht, was etwa bei seiner Darstellung der Geschichte der Wannsee-Konferenz deutlich wird, den aktuellen Diskurs der Zeitgeschichtsforschung nicht ein.
Im ersten Kapitel „Von der Judenfrage zum Holocaust“ entwirft Götz Aly einen zeitlichen Überblick und erklärt sein Vorhaben und seine Arbeitsweise. Er betont, dass er den Schwerpunkt seiner Darstellung auf die Länder gelegt hat, in denen die meisten Juden lebten und die Zahl der Ermordeten am größten war. Daher verwundert es, wenn er schreibt, dass „etwa 85 Prozent der sechs Millionen, im Holocaust ermordeten Juden aus Polen, Russland, Rumänien, Ungarn und den baltischen Staaten (stammten)“ und somit weder die Ukraine, wo man von mehr als einer Million ermordeter Juden ausgeht, noch Weißrussland, einer der schlimmsten Schauplätze des Genozids, Erwähnung finden.
Im zweiten Kapitel „Die Rückkehr der Unerwünschten“ wendet sich der Autor zunächst den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu, in denen jüdische Überlebende aus Todeslagern, Verstecken oder dem Exil in ihre ehemalige Heimat zurückkehrten. In beredten Einzelbeispielen beschreibt er die gleichförmigen Erfahrungen der psychisch und physisch beschädigten Heimkehrer, sei es nach Saloniki, Wien, Wilna oder Ungarn. Ihre Familien und Freunde waren ermordet worden und ihren Besitz hatten sich ehemalige Bekannte oder Nachbarn angeeignet. Die Erretteten waren nirgendwo willkommen, „Millionen Europäer hatten das Verschwinden der Juden gewünscht, zu den Deportationen geschwiegen und von den Hinterlassenschaften der Ermordeten profitiert“, kommentiert Aly. Nicht zuletzt aufgrund von Pogromen und Mordaktionen gegen jüdische Rückkehrer nach Polen und andere Länder Osteuropas verließen Hunderttausende den europäischen Kontinent zumeist in Richtung Israel oder die USA.
Die folgenden Kapitel sind dem Kernthema der Studie gewidmet, der Entwicklung und Zunahme von Hass, Ausgrenzung und Mord außerhalb Deutschlands seit Ende des 19. Jahrhunderts. An den Beispielen Russland, Rumänien, Frankreich und der Vielvölkerhafenstadt Saloniki beschreibt Aly den Beginn des modernen Antisemitismus unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen. In Russland lebte die größte Zahl Juden, jiddisch sprechend und zumeist in Armut. Antijüdische Gesetze, Drangsalierungen und schließlich immer häufigere und immer grausamere Pogrome führten in den Jahren 1880 bis 1904 zu einer Auswanderungswelle russischer Juden in die USA. Das Gleiche galt für Rumänien, wo bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges jeder vierte jüdische Bewohner das Land verließ.
In Frankreich, wo die Juden seit der Revolution im Jahr 1791 Bürgerrechte genossen und gut integriert waren, offenbarte sich im Jahr 1894 mit der Affäre Dreyfus, in der ein jüdischer Offizier fälschlich des Verrats angeklagt wurde, zum ersten Mal ein bösartiger Antisemitismus. Mit der Einwanderung von mehreren Zehntausend Juden aus Osteuropa nach Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschärfte sich die Stimmung vor allem gegen die ausländischen Juden und vorwiegend in ländlichen Gebieten. Es war der Beginn des Weges, der in den 1940er-Jahren zur aktiven Beteiligung des französischen Staates insbesondere der Polizeibehörden an der deutschen Mordpolitik führte. Französische Polizisten verhafteten die in Frankreich lebenden Juden und trieben sie in die Waggons, die in die Vernichtungslager fuhren. In Saloniki lebten seit der Vertreibung der Juden aus Spanien im 15. und 16. Jahrhundert viele Juden friedlich zusammen mit Angehörigen anderer Völker. Erst im Zusammenhang mit den Balkankriegen und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, als die verschiedenen Minderheiten unter griechische Hoheit gerieten, waren auch die Juden Salonikis Diskriminierung, Ausgrenzung und brutalen Mordaktionen ausgeliefert.
Schon während des Ersten Weltkrieges, aber vor allem in den darauffolgenden Jahren, als das Entstehen neuer Nationalstaaten von kriegerischen Auseinandersetzungen und der Transferierung ganzer Bevölkerungsgruppen begleitet wurde, gerieten die Juden in den Ländern Osteuropas immer stärker unter Druck.
In Polen, der Ukraine und im Verlauf des russischen Bürgerkrieges zwischen „weißen“ und „roten“ Truppen wurden die Juden in immer stärkerem Maße zum Freiwild und Opfer von Raub, Plünderung und Mord. Rumänien beschränkte die Rechte der jüdischen Bürger ebenso wie Litauen oder Ungarn. Überall wurden Pläne und Projekte diskutiert, wie man sich der Juden im eigenen Land entledigen könnte. Gleichzeitig reduzierten die USA die Möglichkeiten der Einwanderung.
Vom Jahr 1933 an fand die nationalsozialistische Gewaltpolitik gegen die jüdische Minderheit Deutschlands in vielen Ländern Zustimmung und Bewunderung. Aly geht wohl auch im Hinblick auf die aktuelle Debatte über die Aufnahme von Flüchtlingen ausführlich auf den Verlauf der Konferenz von Evian im Jahr 1938 ein. Damals verhandelten auf Einladung der US-Regierung Vertreter von 32 Staaten weitgehend ergebnislos über die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen.
Im Zweiten Weltkrieg realisierten die Deutschen schließlich zumeist mithilfe und Unterstützung der verbündeten oder besetzten Länder den Mord an sechs Millionen europäischen Juden. Aly beschreibt das unterschiedliche Vorgehen der mit Deutschland verbündeten Länder, die zum Teil den Judenmord noch brutaler vorantrieben als die Deutschen, bis der Kampf um Stalingrad den Glauben an den deutschen Sieg erschütterte, was vielerorts zur Verlangsamung oder sogar zum Abbruch der Deportationen führte. Er sieht in zahlreichen Ländern eher sozioökonomische Spannungen als Rassenhass als Motiv für die Beteiligung an der Jagd auf die Juden, überall spielte jedoch die Bereicherung an jüdischem Besitz eine bedeutsame Rolle.
Die unterschiedliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit westlicher Staaten mit den Deutschen bei der Deportation der Juden wird untersucht. Diese hatten weit weniger unter dem Terror der deutschen Besatzer zu leiden als die überfallenen Gebiete der Sowjetunion und Polen. Dort war die Zahl der Ermordeten weitaus am höchsten und die Beteiligung der Bevölkerung und der lokalen Institutionen an den Mordaktionen am intensivsten.
Götz Aly schließt seinen Parforce-Ritt durch die Geschichte mit einer Schlussbetrachtung, in der er die sich verbreitende ethnische Säuberungspolitik als einen Strang der Vorgeschichte des Holocaust einordnet. Seiner abschließenden Überlegung, dass der zivilisatorische Fortschritt den Zivilisationsbruch begünstigte, muss man nicht folgen.
Barbara Distel war von 1975 bis 2008 Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau. Sie beschäftigt sich weiterhin mit der Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen.
Ethnische Säuberungspolitik
anderer Staaten betrachtet Aly
als Vorgeschichte des Judenmords
Götz Aly:
Europa gegen die Juden
1880–1945. Verlag
S. Fischer Frankfurt 2017, 432 Seiten, 26 Euro.
E-Book: 22,99 Euro.
Ohne die Hilfe staatlicher Institutionen und der Bevölkerung anderer Länder hätten die Deutschen ihr Menschheitsverbrechen nicht so schnell umsetzen können, schreibt Götz Aly. Im Bild die Gedenkstätte Yad Vashem.
Foto: EITAN ABRAMOVICH/AFP
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.05.2017

Die Dokumente in ein Raster gezwängt
Götz Aly analysiert einseitig den Antisemitismus in Europa von 1880 bis 1945

Die Geschichte Europas ist ebenso sehr von länderübergreifendem Austausch und Zusammenwirken geprägt wie von Vielfalt und Differenz. Irritierend vereinfachend und reißerisch erscheint deshalb der Titel von Götz Alys Buch. Dabei verspricht es erheblichen Erkenntnisgewinn, sorgsam empirisch herauszuarbeiten, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede es hinsichtlich des Antisemitismus gibt, der sich im 19. Jahrhundert als soziale und politische Bewegung von Deutschland aus verbreitete, im Ersten Weltkrieg und in der krisengeschüttelten Nachkriegszeit radikalisierte und im Nationalsozialismus zur Ermordung von sechs Millionen Juden geführt hat.

Ein am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin angesiedeltes internationales Forschungs-Kolleg sowie eine damit verbundene Schriftenreihe über "Antisemitismus in Europa" (1879-1945) belegen das eindrücklich. Die daraus hervorgegangenen Studien hat Aly nicht in allen Fällen herangezogen. Unabhängig davon hätte seine Publikation mit dem zusammengetragenen umfangreichen Quellenfundus als gutgeschriebene facettenreiche Überblicksdarstellung durchaus bestehen können - wenn er die herangezogenen Dokumente nicht in dasselbe Raster gezwängt hätte, das bereits auf Deutschland bezogen zu kurz griff. Nun hat er - genauso wenig überzeugend - seine früheren widersprüchlichen Thesen von Sozialneid und interessengeleiteter Gleichheitssucht Europa übergestülpt. Sein Deutungsmodell wird jedoch weder der umfassenden Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert noch der Komplexität der darauffolgenden Entwicklungen gerecht.

Von leicht entflammbaren "Volksmassen" angesichts antijüdischer Parolen ist, konkret auf Russland bezogen, einmal die Rede. Alys auf die Praxis der Judenverfolgung gelegtes Augenmerk kreist aber weit übergreifender um diese Frage und mithin um die Wechselwirkung von Emotion und Ressentiment, die dies impliziert. Eben weil das so aktuell ist, sticht Alys Verengung des Blickwinkels umso klarer hervor. Er vernachlässigt die Verschränkungen des synchron und diachron vielschichtigen Vorurteils mit jeweils unterschiedlich gewichteten politischen, ökonomischen oder sozialen Impulsen.

Daraus resultieren Unschärfen bei der Interpretation von Diskursen und Handlungen. Ludwig Börnes zitierte Aussage etwa aus dem Jahr 1808 über "Neid und Habsucht" - die es als Motive auch zu früheren Zeiten schon gab - bezieht sich auf die Auswirkungen des großen Teilhabeversprechens der sich im 19. Jahrhundert herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft. Die damit verbundene Aufhebung der historisch gewachsenen Dominanzverhältnisse bedeutete einen kaum zu ermessenden Ansporn für die bis dahin nur an den gesellschaftlichen Rändern geduldeten Juden, die Zugangskriterien von Bildung und Leistung zu erfüllen.

Ein überdurchschnittlicher Aufstieg gelang zwar bei weitem nicht allen, schon gar nicht in Osteuropa. Die damit einhergehende Mobilität jedoch wurde aufgrund jener älteren Ungleichheitsvorstellungen argwöhnisch beobachtet. Letztere verschwanden nicht einfach, sondern boten gleichzeitig jenem Konglomerat aus Konkurrenzangst, Unterstellungen wirtschaftlicher Konspiration und Animositäten gegen die Moderne im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein wesentliches Fundament. Insofern überzeugt Alys Argument nicht, dass "nicht einmal die antisemitisch gestimmten katholischen Kleriker Polens" sich zu diesem Zeitpunkt auf das traditionelle Vorurteil bezogen, sondern "wirtschaftliche und soziale Argumente der Gegenwart geltend" gemacht hätten.

Anderswo in Europa war dies genauso. Nur waren Priester als moralische Autoritäten per se mit der langen Überlieferung christlich-antijüdischer Rituale und Motive assoziiert, mussten sie darum nicht einmal explizit formulieren, um entsprechende Affekte zu bedienen. Wenn Aly außerdem die jüdisch-bürgerlichen Eliten als "gelenkige Fremde" charakterisiert und - teils historische Stimmen anführend - bei russisch-jüdischen Schülern deren "überragende Wissbegier" hervorhebt oder bei deutsch-jüdischen Studenten, sie seien "so sehr viel gescheiter und betriebsamer" gewesen, verdreht er Inklusionshürden und Exklusionsargumente: Juden wurden trotz ihrer Verwurzelung in Sprache und Kultur und ihrer Loyalitätsbekundungen oder gerade wenn sie erfolgreich waren, rasch als "fremd" etikettiert.

Darum ist es in diesem Kontext richtig, darauf zu verweisen, dass die Idee der Nation einem Homogenitätsideal Raum bot, das ebenso exklusiv wie inklusiv ausgelegt werden konnte. Ein protektionistisch begründeter Numerus clausus für jüdische Studierende in Ungarn, Polen oder Rumänien lange vor dem Nationalsozialismus beispielsweise zeugt davon. Lithuanisierung, Magyarisierung, Hellenisierung, Polonisierung, Tschechisierung gingen nahezu unweigerlich zu Lasten von Minderheiten, konnten Zwangsassimilation, Zwangsumsiedlung, Vertreibung oder gar Mord bedeuten. Nicht falsch ist für das 20. Jahrhundert zudem, dass der Krieg zur Unterhöhlung von Moral und Menschlichkeit beitrug; auch dass das, was Aly die deutsche nationalsozialistische "Tatherrschaft" nennt, auf unterschiedliche Tatbereitschaft stieß, nicht zuletzt abhängig davon, ob sie eigenen sozial- beziehungsweise bevölkerungspolitischen Zielen gelegen kam; dass darum das Ausmaß der Deportationen nicht allein von Berlin bestimmt wurde und die Überlebenschancen für die verfolgten Juden nicht überall gleich waren.

Die Feststellung, dass Demokratien ihre eigenen Grundprinzipien wie Anerkennung und Integration von Minderheiten mitunter nicht beherzigen, gilt nicht nur für Europa. Das klägliche Versagen der Flüchtlingskonferenz von Évian 1938 ist dafür ein Beispiel. Wichtig wäre indessen gewesen, herauszustellen, dass die Gefährdung des demokratischen Systems stets von jenen ausgeht, die seine Prinzipien ausnutzen, missachten oder sie schlicht mit Privilegien verwechseln.

ANDREA HOPP

Götz Aly: Europa gegen die Juden 1880-1945. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 430 S., 26,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

In einem ausführlichen Resümee erklärt und veranschaulicht Rezensent Stefan Reinecke Götz Alys Kernthese und stellt diese als durchaus originell und einleuchtend dar. In "Europa gegen die Juden" betrachtet der Historiker den Antisemitismus als europäisches Phänomen, das mit dem modernen Kapitalismus auftrat und im Holocaust seinen Höhepunkt fand, lesen wir. Gekonnt, unterhaltsam und gut zu lesen, montiert er Quellen und Szenerien, sodass sie seine These unterstützen: Die Basis des Antisemitismus ist für Aly ein im Grunde antikapitalistischer Affekt, der Neid auf den Erfolg der Juden im modernen Europa, ein interessanter Gedanke, dem in Teilen sicher zuzustimmen ist, meint der Rezensent, der sich jedoch daran stört, wie Aly auf "Biegen und Brechen" alles umgeht oder auslässt, was seine Behauptung infrage stellen oder einschränken würde.

© Perlentaucher Medien GmbH
Alys Panorama des Schreckens ist erschütternd, die Lektüre streckenweise für die Leser eine - notwendige - Zumutung. Martin Doerry Der Spiegel - LiteraturSpiegel 20170301