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'Wir möchten euch Musik und Mathematik erzählen: das Schönste nach der Liebe, das Schwerste nach der Treue.' Diese beiden Worte, Musik und Mathematik, stehen für die Wurzeln von Kunst und Wissen: musikè, die Lust des Singens, Tanzens, Spielens heisst nach der Muse, die im Herzen alles aufbewahrt und daher davon sagen kann. Musik macht also nach, was Musen tun, seit sie auf ihrem Götterberg mit allem Singen angehoben haben. Aus fast dem selben Ursprung stammt mathesis, das Lehren im allgemeinen, und Mathematik, das Denken über Zahlen im besonderen. Bei Homer heisst mathein nämlich noch nicht…mehr

Produktbeschreibung
'Wir möchten euch Musik und Mathematik erzählen: das Schönste nach der Liebe, das Schwerste nach der Treue.' Diese beiden Worte, Musik und Mathematik, stehen für die Wurzeln von Kunst und Wissen: musikè, die Lust des Singens, Tanzens, Spielens heisst nach der Muse, die im Herzen alles aufbewahrt und daher davon sagen kann. Musik macht also nach, was Musen tun, seit sie auf ihrem Götterberg mit allem Singen angehoben haben. Aus fast dem selben Ursprung stammt mathesis, das Lehren im allgemeinen, und Mathematik, das Denken über Zahlen im besonderen. Bei Homer heisst mathein nämlich noch nicht zählen oder rechnen, wie Aristoteles gelehrt hat, mathôn nennt vielmehr ein dunkles Wissen, das Helden erst nach Jahrzehnten des Erfahrens in Fleisch und Blut gegangen ist. Unter den wenigen Reimen, die in Griechenohren widerhallten, blieb der alte Spruch von pathein/mathein, leiden und lernen unverloren. Friedrich Kittlers aufmerksamste Lektüren folgen also erst Odysseus und den Sirenen, denen er eine - gemessen an Horkheimer und Adorno - atemberaubende Neudeutung widmet, um in Band I/2 nach Aphrodite Eros in den Sphärenharmonien Platons und im Spiel von lógos und phonè bei Aristoteles zu begegnen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.05.2006

Was Homer den Zigeunern sagt
Friedrich Kittlers wissenschaftliche Antiken-Phantasie, erster Teil

Wer von diesem Buch Friedrich Kittlers die ersten dreißig Seiten gelesen hat, mag dabei wohl des öfteren die Neigung verspürt haben, es umstandslos aus der Hand zu legen und einem ungewissen Schicksal in entlegenen Regalen zu überlassen. Er wird sich dann auf Seite hundert oder zweihundert etwas erstaunt fragen, warum er immer noch darin liest. Und jetzt wird er sich hüten, es sich mit einer Antwort leichtzumachen.

Hegel sagt irgendwo, "Seichtigkeit" sei es, "die Wissenschaft statt auf die Entwicklung des Gedankens und Begriffs auf die unmittelbare Wahrnehmung und die zufällige Einbildung zu stellen". Wer bei Gelegenheit der Reisen des Odysseus auf die Malediven zu sprechen kommt und seinen Einfall abschließt: "Diego Garcia. Von dort aus starteten die B-2 Bomber 2003 nach Bagdad", der hat wohl von Anfang an das Ziel verfolgt, Leser, die Hegel wie Berliner Hegel-Schüler lesen, abzuschütteln. Und die Technik des Abschüttelns bei Kittler könnte darin bestehen, den Denkfaulen zu einem Widerspruch zu reizen, der, richtig oder nicht, ganz bestimmt unangemessen ist. Das für Kittler Angemessene dürfte bei etlichen Gebildeten und Gelehrten Unlust provozieren. Nachzudenken wäre darüber - ein umständliches Sesam-öffne-dich -, warum das so ist.

Worum es in Kittlers neuestem Buch geht, ist rasch gesagt. Das Griechische, wie es vom frühen Griechentum herkommt, so die These, verstehen wir nur dann, wenn wir begreifen, daß alles mit Sexuellem, Erotischem, auf deutsch: mit sinnlicher Fleischeslust zusammenhängt. So die Worte, so die Götter, so die Erziehung, so die Wissenschaft: ein Thema, von Aphrodite bis zu den Pythagoräern, von Odysseus bis zur Mathematik. Das mutet kühn an, aber die Vermittlung der These ist geeignet, bei den konservativsten unter Kittlers Lesern ein gewisses Behagen auszulösen. Der Autor gehört nämlich zu denen, die mit ihren Bildungserlebnissen nicht hinterm Berg halten. Walter F. Otto wird gern zitiert, ein heute nur noch von wenigen geschätzter Gräzist, dessen Buch "Die Götter Griechenlands" zu den großen Werken der erstaunlichen zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts gehörte. Aber auch ein Mann wie Ernle Bradford wird genannt, der in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg mit kleinen Segelbooten das Mittelmeer befuhr, um herauszufinden, wo Odysseus gewesen sein könnte.

Von der zünftigen Wissenschaft wird Bradford ebenso abgelehnt wie heute Otto. Aber die Bücher beider lasen die begeisterungsfähigen Achtzehnjährigen aus der Generation, die später die Achtundsechziger genannt wurden. Dazu gehörte auch der 1943 in Sachsen geborene, seit 1958 in Westdeutschland lebende Kittler. Und so paßt es hübsch ins unorthodoxe Bild, daß die erste Fußnote auf der Seite 12 dieses Buches lautet: "Marx, 1961, 21". Aber gemeint ist nicht, wie schon die Jahreszahl vermuten läßt, Karl Marx, den die jungen und alten Idole vieler Achtundsechziger verehrten, sondern Werner Marx, Heideggers Nachfolger auf seinem Freiburger Lehrstuhl.

Kittlers Liebe zu Martin Heidegger ist kaum zu übertreffen. Er schreibt wahrlich keinen Jargon, aber seine sprachlich-gedanklichen Anleihen bei Heidegger lassen Adornos Schrift vom Jargon der Eigentlichkeit als höfliche Untertreibung erscheinen. Was immer sichtbar wird in der Welt, sich zeigt, erkennbar wird, das "entbirgt" sich bei Kittler, die Götter "wesen an bei ihren Helden", und was "Physis" ist, wird hier, ohne daß es nötig wäre, den Namen des Meisters zu nennen, bezeichnet als "das Seiende im Ganzen, wie es von ihm selbst her aufgeht". Auch vom "Haus des Seins" ist gedankentreu ohne Anführungsstriche die Rede. Kittler hat in Freiburg studiert, aber offenkundig nicht bei Heidegger, der in seinen Veranstaltungen befahl: "Hier wird nicht geheideggert."

Kittlers Gang durch die Odyssee ist begleitet von einer imponierenden Zahl sprachwissenschaftlicher und mythologischer Hinweise, die, wie hernach auch sein Umgang mit den wirklichen oder vermeintlichen Lehren der Pythagoräer, immer wieder Mißtrauen wecken. Das Denken des Lesers, der vorbereitet sein mag, dieses Buch zu studieren, ist gewöhnt an die Schule der hohen Wissenschaft. Von dieser hält nun Kittler zwar nicht gerade nichts, doch er wirft ihr vor, nicht nur zu entdecken, sondern auch zu verschütten, und das letztere mitunter planmäßig - wie die von ihren moralischen Vorstellungen geknechteten Christen der vielen Jahrhunderte von Plutarch bis Heidegger. Beifällig zitiert Kittler Heideggers Mahnung aus "Sein und Zeit" hinsichtlich der "längst noch nicht radikal ausgetriebenen Reste von christlicher Theologie" aus dem, was von der Antike zu erforschen den großen Philologen vorlag, die Kittler "seinsgeschichtlich taubstumm" nennt.

Etliches von dem, was Kittler zu Homer vorbringt, ist undiskutabel. Vieles von dem, was er zur griechischen Geschichte anmerkt, wie sie sich aus den frühen Zeiten heraus entwickelte, ist in der Einseitigkeit seiner Betrachtung falsch. Kittlers Freude an spartanischen Verhältnissen, die nach seiner Darstellung alles andere als spartanisch waren, vermeidet sorgsam den Blick auf die Geschichte Spartas, wie diese sich im Vergleich zu Athen entwickelte. Hier hätte eine kräftige Prise aus der Aristophanes-Lektüre gutgetan. Daß Kittler die Frauen liebt und die Zeiten selig preist, in denen Frauen den Ton angeben, ist wohl weniger auf gelehrte Studien denn auf ein emphatisches Bekenntnis zum Zeitgeist zurückzuführen. Die Achtundsechziger waren noch nicht so weit.

Aber man hüte sich, Kittler allzu rasch mit Belehrungen aus dem Arsenal der Wissenschaften zu kommen. Seine Gewährsleute, etwa Walter Burkert, gehören zu den besten. Und wer Koryphäen gegen Kittler aufrufen will, kann Überraschungen erleben. Uvo Hölscher zum Beispiel zitiert in seinem bewundernswerten Odyssee-Buch von 1988 zu den Bemühungen, die Orte der Abenteuer des Helden in der Wirklichkeit nachzuweisen, das "Urteil der Besonnensten", das eindringlich besage, "daß alle dergleichen Versuche völlig nichtig sind". Aber wenige Zeilen später vermerkt Hölscher: "So ortlos freilich sind die Abenteuer der Odyssee nicht", es fallen etwa die Lotophagen "nicht aus allen geographischen Vorstellungen heraus".

Man darf sich also getrost mit Kittler an Bradford halten, den Hölscher nicht nennt. Ähnliche Erfahrungen sind bei Gelegenheit der Pythagoräer, insonderheit Philolaos zu machen. Manch einer erinnert sich des einst berühmten Buches von Erich Frank "Platon und die sogenannten Pythagoräer" (1923) und des fulminanten Nachweises der Philolaos-Fragmente als Fälschungen. Aber dann muß man feststellen, daß sowohl Kirk/Raven/Schofield (1994) als auch schon Heinrich Dörrie im Kleinen Pauly (1972) zu Philolaos Erich Frank ebensowenig erwähnen, wie das Kittler tut.

Das mag viel oder wenig besagen. Doch so sehr man einerseits Grund hat, Kittlers Hinweise ernst zu nehmen, so notwendig ist es auch, ihnen wirklich nachzugehen. Dies gilt etwa für den Abschnitt, in dem Kittler mit dem ganzen Hochgefühl des Wüstlings Dinge anspricht, von denen er ironisch sagt, daß sie "für Jugendliche unter achtzehn Jahren nicht geeignet" seien. Tatsächlich geht es um die Deutung des Buchstabens E (Epsilon) am Haus Apolls in Delphi. Darüber hat Plutarch einen Dialog verfaßt, und in diesem Dialog taucht eine Interpretation auf, die man obszön nennen kann und die sich aus Deutung einer Figur in der Tetraktys der Pythagoräer ergibt. Konrat Ziegler freilich, der Übersetzer dieses Dialogs (1951), erwähnt in seinem monumentalen Realenzyklopädie-Artikel über Plutarch von 1963 davon nichts, kommt aber hier zu dem Schluß, daß die von dem kaiserzeitlichen Historiker zusammengetragenen Deutungsversuchde des E "samt und sonders wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen sind".

Ein Heidegger-Enthusiast muß vor solchem Dictum nicht zurückschrecken. "Die Wissenschaft denkt nicht", hat der Mann aus Meßkirch immerhin gesagt. Allerdings hat er dann doch das besinnliche und rechnende Denken unterschieden und letzteres durchaus ernst genommen. Mit der Mathematik und Aphrodite ist nicht so leicht ein vertrauenstiftendes Pärchen zu bilden. Und wenn Kittler auch dem Wort Heideggers, es müsse die Natur ja nicht für alle Zeiten die Natur der modernen Physik bleiben, den Satz zur Seite stellen wollte, es müsse auch die Schrift, in der das Buch der Natur geschrieben sei, nicht für alle Zeiten die Mathematik der Moderne sein, so käme er damit doch seiner Begeisterung für Turing und die Welt der Computer in die Quere.

Da wird, wer Kittlers Buch schließlich beendet, sich von den Ergebnissen aus dem Vortrag schwerlich haben überzeugen lassen und auf die weiteren Bände des weit konzipierten Werks warten müssen. Dennoch, es geht einem wohl mit Kittler wie mit seinem Freund Klaus Theweleit. Den behaupteten Entdeckungen gegenüber bleibt man mehr als skeptisch. Aber nach dem Durchgang durch das zu ihrer Darlegung beigeschaffte Material hat man einen anderen Blick auf die Dinge bekommen. Dem sollte man nicht unbedingt trauen. Indes, da gebildete Menschen seit zweitausend Jahren wenig anderes tun, als sich immer wieder diese Bücher und Autoren vorzunehmen, erscheint manche zusätzliche Verwirrung nützlicher als pedantische Vorgaben zum Einverständnis, wo die vielen immer schon einverstanden waren. Oder, um es mit Paul Scheerbart zu sagen: "Charakter ist nur Eigensinn, / es lebe die Zigeunerin."

JÜRGEN BUSCHE

Friedrich Kittler: "Musik und Mathematik I". Hellas 1: Aphrodite. Wilhelm Fink Verlag, München 2006. 409 S., geb., 39,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

"Ratlosigkeit" befällt Christian Schüle bei der Lektüre von Friedrich Kittlers Gedanken zum Zusammenhang von "Musik und Mathematik". Kittler, den Schüle als "Textweber" charakterisiert, arbeite an nichts weniger als einer "radikalen Revision der Zivilisationsmythologie", wenn er die Schöpfung Europas in der musikalischen Sphäre verortet. Der Rezensent hatte allerdings seine Schwierigkeiten mit Kittlers Argumentation und seufzt: "Warhnehmbare Auf- und Ableitungen sind Kittlers Sache nicht." Am Ende bleibt Schüle nichts übrig, als auf die nächsten Bände zu hoffen, von denen er sich "Muße, Trost und Rat" verspricht.

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