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Ines Geipels Anklageschrift zum Erfurter Schulmassaker
Ines Geipel hat ein Dossier zum Schulmassaker von Erfurt erstellt, in dem sie die vielen Schichten der Tat, des Täters, der gesellschaftlichen Umgebung und ihrer Mentalität auffächern will. Ein unscheinbarer Fund gehört zu den überzeugendsten: ein Familienbild. Der Vater, ein kräftiger, dunkelhaariger Mann mit Vollbart und ein etwa zweijähriger Junge auf einer Schaukel, der spätere Täter Robert Steinhäuser. "Der Blick des Sohnes sucht nach der Hand des Vaters und bleibt im Leeren." Man könnte sich einen Film vorstellen, in dem dieses Foto das rätselhafte und zugleich erhellende Schlußbild wäre, ein Emblem des Lebens von Robert Steinhäuser, der am 26. April 2002 mit einer Pistole und einer Pumpgun siebzehn Menschen umbrachte. Am Gutenberg-Gymnasium fanden die Abiturprüfungen statt. Steinhäuser wäre einer der Prüflinge gewesen, wenn er nicht ein halbes Jahr zuvor wegen einer simulierten Attacke auf einen Lehrer der Schule verwiesen worden wäre.
Eine Schicht, auf der sich das Geschehen abbilden läßt, ist die Belastung durch die familiäre Erbschaft. Nach der Aussage des Vaters von Robert Steinhäuser war Schizophrenie in der Familie endemisch und beim Urgroßvater väterlicherseits festgestellt worden, nach Auskunft der Familienpsychologin der Steinhäusers - über die man gern mehr erfahren würde: aus welchen Gründen wurde sie von den Steinhäusers überhaupt konsultiert, durfte sie ihre Schweigepflicht verletzen? - gab es manisch-depressive Störungen. Der Onkel mütterlicherseits beging Selbstmord. Zwei genealogische Linien mit katastrophischen Anlagen trafen in Robert Steinhäuser offenbar aufeinander.
Man kann die Tat, wie gesagt, auf diese Schicht projizieren, aber es hat wenig Sinn, hier Quantifizierungen zu versuchen, wie sie Ines Geipel unternimmt: "Nur fünf Prozent genetische Disposition bedingen das Handeln eines Amokläufers." Sicher wird eine Anlage durch entsprechende soziale Strukturen vermittelt, aber eine Anteilsberechnung von Natur und Kultur wird die Erkenntnis kaum fördern.
Weiter führt eine andere Überlegung der Autorin. Die Tat geschah am Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Der Name steht für die normative Geltung der Schriftkultur. Der Täter aber lebte schon in einer anderen Welt, im Killerwahn der Computerspiele. Von den Leistungsanforderungen der Schule hatte er sich verabschiedet. Sicher wird man keine schlichte Kausalkette von der virtuellen Gewalt zur wirklichen knüpfen wollen. Immerhin horcht man auf, wenn man erfährt, daß die amerikanische Produktion "Return to Castle Wolfenstein" das Lieblingsspiel von Robert Steinhäuser war. Es ist eines der brutalsten Videospiele, die derzeit auf dem Markt erhältlich sind, und wer geglaubt hatte, daß die Erziehung zum puren Haß und zur Rache nur bei Rechtsradikalen zu finden sei, wird von den Wolfenstein-Fans eines Besseren belehrt.
Das Spiel ist reines Gift. Ein Ranger namens B. J. Blazkowicz geht 1943 zum Spezialeinsatz nach Deutschland, wo Himmler sich mit einer Zombie-Armee in einer Burg verschanzt hat. Er ist die Reinkarnation von Heinrich dem Vogeler, Kaiser Heinrich I. So ist das alte Reich mit dem der Nationalsozialisten magisch verbunden. Der einzige Auftrag für Ranger Blazkowicz lautet: "Kill Nazis!" "Noch nie hat es so viel Spaß gemacht, Nazis zu killen!", liest man auf den Websites der Fans. Ines Geipel deutet den Mordweg Steinhäusers durch das Gymnasium als Nachvollzug des Blazkowicz-Auftrags.
Robert Steinhäusers Initiation war die atheistische Jugendweihe. Vom Religionsunterricht ließ er sich befreien. An einer Stelle kommt Ines Geipel auf die "negative Religion" Steinhäusers zu sprechen: "Erlösung finden vom Looser-Dasein". Aber das ist es dann auch schon, und der Leser wird es bedauern, daß bei der Fülle von Diagnosen zur Mentalität der ostdeutschen Bevölkerung, die das Buch anbietet, die beispiellose Entchristlichung ganzer Landstriche nicht richtig in die Analyse einbezogen wird. Interessanter ist der sozialpsychologische Vergleich zwischen der Generation der "Mauerkinder", also der um 1960 Geborenen mit ihren Anpassungszwängen, und der Generation ihrer Kinder, die, wie der im Januar 1983 geborene Steinhäuser, die Wende erlebten. Bald waren die politischen Energien und Begeisterungen der Jahre 1989 und 1990 verbraucht. Enttäuschung begann sich mit DDR-Nostalgie und Ressentiments zu vermischen. Aber ausgerechnet im Fall Steinhäuser greift dieser Befund nicht recht. Beide Eltern waren in qualifizierten Berufen tätig, sie konnten sich Auslandsreisen leisten - von Arbeitslosigkeit und Hoffnungsleere also keine Spur. Auch der Vorwurf des Opportunismus, den Ines Geipel gegen die Lehrerschaft erhebt, bleibt allgemein und trifft gerade jene Lehrkräfte des Gutenberg-Gymnasiums nicht, denen das Buch ausführlichere Porträts widmet.
Dennoch sind Ines Geipels Anklagen oftmals triftig. Der Polizeieinsatz am Gymnasium muß chaotische Züge getragen haben. Von bürokratischen Schikanen gegen die Angehörigen der Opfer gibt das Buch ein erschütterndes Beispiel: "Eine der Angehörigen, deren Mann bei dem Massaker umgekommen war und die bei den Behörden wegen der entstandenen Notsituation um finanzielle Unterstützung bat, mußte den schriftlichen Nachweis erbringen, daß sie tatsächlich traumatisiert sei." Vor allem aber: Das Schulsystem des Freistaats Thüringen bescheinigt einem jungen Menschen, der vor dem Abitur vom Gymnasium abgeht, nicht den nächstniedrigeren Grad, den Realschulabschluß etwa, sondern entläßt ihn schlechthin ohne Abschluß ins Nichts. So gab es für Robert Steinhäuser, auch wenn man seine eigene Antriebsschwäche mit veranschlagt, im Grunde wenig Chancen. Problematischer wird es, wenn Ines Geipel eine globale Koalition der Verdrängung annimmt. Und irgendwann nimmt ihre Anklage gegen das gesellschaftliche Umfeld von Robert Steinhäuser maßlose Züge an.
Hinzu kommt ein schiefer Rahmen. Elsa, die fiktive Heldin des Buches, aus deren Perspektive es geschrieben ist, soll mit Steinhäuser zur Schule gegangen sein, ja als Kind mit ihm gespielt haben. Nun läßt sich ein erwachsener Mensch manches gern erzählen und wird auch bei Dokumentationen nicht gleich bei jedem fiktionalen Kunstgriff nervös. Aber diese Technik hat ihre Grenzen. "Als Kind hatte Elsa die Wahl. Plante die Familie einen Wochenendausflug, gab es zwei Möglichkeiten: entweder eine Fahrt zum Kyffhäuser und damit der Besuch bei Rotbart Barbarossa oder eine Fahrt nach Buchenwald. Sie mochte Barbarossa: den Bart, das Ausladende, das Trinklustige, immer in der Fremde unterwegs, vielleicht der globalste deutsche Kaiser. Wegen der kürzeren Fahrtzeit entschied sie sich dennoch meist für Buchenwald, sie vertrug das Autofahren schlecht."
Sicher, das Geheimnis der Erlösung heißt nach Richard von Weizsäcker und Joschka Fischer: Erinnerung. Aber die Vorstellung, die Ines Geipel hier dem Leser nahelegt: ein Kind könne sich regelmäßige Buchenwald-Besuche gewünscht haben, ist selbst ein Teil jenes Irrsinns, von dem zu heilen das Buch vorgibt. Tatsächlich geht es darum, die Einbeziehung der KZ-Untaten und der Euthanasieklinik von Jena in den mentalen Hintergrund des Erfurt-Massakers plausibel zu machen. Prompt stellen sich, als Elsa abermals nach Buchenwald kommt, zwei ältere Herren ein, die die Geschichte des Lagers und die üble Rolle kommunistischer Funktionshäftlinge beleuchten. Am Ende ist das Buch nicht mehr als eine ungeordnete Ermittlungsakte. Manches Brauchbare findet sich darin gewiß, anderes wird sich als Spekulation erweisen. Ein literarischer Journalismus, der, etwa nach der Art von Tom Wolfe, über den Tellerrand der Tagesaktualität hinausblickt, ist aller Ehren wert. Aber er muß zur eigenen Empörung auf Distanz gehen können, um wirklich zu überzeugen.
LORENZ JÄGER
Ines Geipel: ",Für heute reicht's'. Amok in Erfurt". Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2004. 254 S., geb., 16,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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