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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Sternen nicht
Wolf Schneider kennt sie:
„Die Wahrheit über die Lüge“
Nicht nur Kriminalromane und Seriendramaturgien, auch Sachbücher können von der Stange sein. Was nicht heißt, dass man sich nicht trotzdem von ihnen gern unterhalten lässt. Gerade in der durchschaubaren Machart liegt der angenehme Reiz des Vertrauten. Der Journalist und Sprachpfleger Wolf Schneider, hat sich in den letzten Jahren auf eine Produktion von Sachbüchern verlegt, die er im festen Blick auf sein Publikum nach einem bewährten Muster strickt. Die Bücher handeln von verschiedenen Themen, aber immer so, dass sich darin die Umrisse des Wolf Schneider-Leser abzeichnen, an den sie adressiert sind.
Der Wolf Schneider-Leser ist gebildet, liebt Zitate und schaut mit der Selbstsicherheit des Arrivierten auf die Welt, für deren eitles Treiben er immer neue Belege sucht, um seine gelassene Distanz zu dieser bonmottauglich bestätigt zu wissen. Entsprechend sind die Bücher pointensicher geschriebene Sammelsurien von Irrungen im menschlichen Streben nach Welterklärung, souverän garniert mit dem passenden Wort großer oder kleinerer Geister aus dem allzeit bereiten Zitatenschatz dieses heiteren Scouts im Land unserer Unzulänglichkeiten.
Schon der Titel von Wolf Schneiders neuestem Produkt ist eine Souveränitätsgeste: „Die Wahrheit über die Lüge“. Flott lesbar aufbereitet, versammelt das Buch alle möglichen Irrtümer, bevor der tiefere Sinn des Lügens selbst traktiert wird. Zu diesen Irrtümern gehören die Ausrichtung der Lebensgestaltung an Sternenkonstellationen, die Überzeugung, dass Marsmännchen oder gefährlichere Außerirdische den Weg zu Mutter Erde suchen, sowie alle möglichen Weltuntergangsgewissheiten.
Auch Kolumbus’ kapitale Fehleinschätzung, Indien erreicht zu haben, wird genannt. Wie schon in seinem Buch „Der Mensch“ ist für Wolf die gemütliche Einrichtung in Täuschungssystemen aller Art eine anthropologische Konstante. Über das Buch verstreut finden sich Listen mit Bizarrerien und diverse „Lexika“, etwa zum Vokabular des Aberglaubens. Die große Zeit der Listenbücher liegt zwar ein paar Jahre zurück, doch auf ihren Charme greift man hier offenbar gern zurück.
Im letzten Kapitel nimmt das Buch Fahrt auf, denn dort geht es um die These, dass wir gut daran tun, die Lüge zu schätzen, weil sie unser Zusammenleben erträglicher macht. Die Wahrheit dagegen kennen wir nicht – und sprechen wir trotzdem im Namen der Wahrheit, dann hält Wolf dies meist für brutal und verletzend. Dieses Lob der Lüge ist nicht nur die augenzwinkernd vorgetragene Skepsis eines Connaisseurs des Lebens, sondern eine durchaus ernst gemeinte Position.
Leider übersieht er dabei: Um eine Lüge zu identifizieren, müssen wir zumindest ein Quäntchen Ahnung von der Wahrheit haben, so ganz unbekannt kann sie uns also nicht sein. Überdies kommt es auf die gern belächelte ominöse „absolute Wahrheit“ im Alltag gar nicht an, Wahrhaftigkeit und intellektuelle Redlichkeit reichen aus. Den zuvorkommenden Kellner als Komparsen in einer lügenhaften Inszenierung zu betrachten und die körperästhetischen Flunkereien mittels Botox und Silikon als Beleg für unsere tagtägliche Verlogenheit heranzuziehen, bleibt operettenhafte Sozialfolklore.
Spricht man allen Ernstes von der Lüge als sozialem Kitt, dann driftet man schnell von der launigen Kulturkritik ins Reaktionäre. Es mag in der Tat Lügen geben, mit denen wir jemanden schonen, doch mit dem Gros der Lügen stärken wir Opportunismen, stabilisieren Machtstrukturen und Ungerechtigkeiten und versüßen mit ihnen unsere Feigheit. Dies ist in keiner Weise ein Kulturgut, das es schmunzelnd zu pflegen gilt. Wir wollen schließlich nicht wie in einer Operette leben.
OLIVER MÜLLER
Auch die Lüge hat ihr Verdienst:
sie macht das Zusammenleben
der Menschen erträglicher
Wolf Schneider: Die Wahrheit über die Lüge. Rowohlt Verlag, Reinbek 2012. 288 Seiten, 19,95 Euro.
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