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Produktdetails
  • Verlag: Gallimard
  • Seitenzahl: 471
  • Erscheinungstermin: Oktober 2019
  • Französisch
  • Abmessung: 177mm x 108mm x 22mm
  • Gewicht: 249g
  • ISBN-13: 9782072861529
  • ISBN-10: 2072861527
  • Artikelnr.: 57153968
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2020

Auch Plastikblumen wecken Erinnerungen
Von Ruinen, Intellektuellen und einer Ostalgie à la française: Nicolas Offenstadt und Sonia Combe blicken zurück auf die Geschichte der DDR

Nicolas Offenstadt ist ein Star der französischen Geschichtsschreibung. Promoviert hat er über den "Frieden im Mittelalter". Später erschloss er sich auch den Ersten Weltkrieg als Spezialgebiet. Die Liebe des Historikers aber gilt mittlerweile der DDR, der er zwei Bücher gewidmet hat, die während seiner Gastprofessur in Frankfurt (Oder) entstanden: "Le Pays disparu" ("Das verschwundene Land") und "Urbex RDA" ("Urbex DDR"), eine Art "Reiseführer Ostdeutschlands" zu den "verlassenen Orten des verschollenen Landes".

Tausende von Ruinen hat Offenstadt besucht. Er stieß auf vergessene Dokumente, die ihm über Themen wie "Kunst in der Fabrik" oder die Aufnahme der Gastarbeiter aus den Bruderrepubliken Auskunft gaben. Zweihundert "Erinnerungsorte" dokumentiert er in "Urbex RDA": Bahnhöfe, Industriewerke und immer wieder der Kultur, dem Frieden oder der Freundschaft zwischen den Völkern gewidmete Häuser. Seine herrlich dilettantischen Fotos illustrieren deren morbiden und poetischen Charme.

Als leidenschaftlicher Sammler und Jäger wandert er über die Flohmärkte, auf denen die Souvenirs und Reliquien von einer untergegangenen Zivilisation zeugen. In Premnitz entdeckt er die Trümmer zerstörter Büsten von Lenin und Rosa Luxemburg. Er findet ein Plakat der Weltjugendfestspiele von 1989 in Frankfurt (Oder) und beschreibt die Beziehungen zu Nordkorea. Auch für Plastikblumen hat der Historiker Sinn, und angetan haben es ihm die Orden und Medaillen. Und er kennt die Zutaten des im VEB "Dresdner Süßwarenfabriken Elbflorenz" hergestellten Brotaufstrichs Nudossi, des "Nutellas des Ostens". Er bringt wie Prousts "Madeleine" das Erinnern in Gang.

In der real existierenden DDR war Nicolas Offenstadt nie. Von der Verwirklichung seiner Reisepläne schreckte ihn der bürokratische Aufwand ab. Er gehörte zu den Studenten der Science Po, die 1988 im Wahlkampf den dissidenten Kommunisten Pierre Juquin zu einem Vortrag einluden, der ihnen erklärte: "Die osteuropäischen Staaten sind das schönste Geschenk, das dem Kapitalismus gemacht wurde." Offenstadt gab ihm seine Stimme. "Aber auch heute noch" weiß er nicht so richtig, wie er diesen Satz verstehen soll. Denn innerhalb des Ostblocks sei die DDR doch etwas Besonderes gewesen.

Mit ihr ist in seinen Augen auch ein Stück Frankreich untergegangen. Offenstadt kritisiert den Umgang Deutschlands mit der Vergangenheit der DDR, die um ihr Erbe betrogen worden sei. Als "Erzählung in Schwarz und Weiß" liest er die Darstellung im Bonner Haus der Geschichte: Demokratie und Wohlstand gegen Tyrannei und Mangel. Der Untergang der DDR in der Wiedervereinigung werde zur "Vollendung des Wunders der deutschen Geschichte" nach 1945 verklärt. Offenstadts originelles Sammelsurium wird zum Archiv und Museum eines Landes, das seinen Schrecken und sein Gedächtnis verloren hat. Der Historiker errichtet ihm ein Denkmal und macht ihm eine postume Liebeserklärung.

Offenstadt ist mit solcher Nostalgie ohne Primärerfahrung nicht allein. Sonia Combe, deren Buch über einen Opfertausch in Buchenwald auch auf Deutsch erschienen ist ("Ein Leben gegen ein anderes", Neofelis Verlag), schrieb einen Essay über den Umgang mit den Archiven in den postkommunistischen Gesellschaften ("Archives et histoire dans les sociétés postcommunistes", 2009) Jetzt befasst sie sich in "La loyauté à tout prix" ("Loyalität um jeden Preis") mit der Haltung der Intellektuellen gegenüber der DDR-Regierung.

Das Buch beginnt mit der Hoffnung nach der Rückkehr: aus dem Exil, der Deportation oder auch dem GULag. Viele entschieden sich für die DDR, um nicht "im Land der Gehlens und Globkes" zu leben, dem Sonia Combe eine "oberflächliche Entnazifizierung" attestiert. Viele Intellektuelle in der DDR waren Juden, denen sie aufschlussreiche Kapitel widmet. Sie interessiert sich für Jürgen Kuczynski, der Reden für Erich Honecker schrieb und seine Desillusion nur dem Tagebuch anvertraute.

Immer wieder geht es um Christa Wolf, an deren kritischer und aufrichtiger Gesinnung Sonia Combe keinerlei Zweifel aufkommen lassen will. Als Zeugen zitiert sie Max Frisch, der 1973 nach einem Treffen in seinem "Berliner Journal" Wolfs Haltung beschrieb: "Ohne Zweifel loyal gegenüber dem System; kritisch-offen, ohne dass der Besucher dazu nötigt."

Den Aufstand vom 17. Juni 1953 behandelt Combe unter dem Titel "Kronstadt der SED" und meint, dass er weniger brutal niedergeschlagen wurde als 1921 die Meuterei der Matrosen. Auch Vincent von Wroblewsky glaubte damals an die Gefahr, dass die Faschisten zurückkehren würden. Mehr als der 17. Juni habe drei Jahre später der Bericht von Chruschtschow zum 20. Parteitag die "Gewissen der Remigranten" erschüttert. Doch bis in die achtziger Jahre gab es im Gegensatz zu anderen Staaten des Ostblocks kaum Dissidenten. Die Intellektuellen glaubten noch immer an mögliche Veränderungen im besseren, weil antifaschistischen und antikapitalistischen Deutschland. Die Historikerin bescheinigt ihrer Treue zu den Idealen eine "Ethik des Schweigens", mit der sie "zu spät gebrochen" hätten. So verloren die Intellektuellen ihre Glaubwürdigkeit und seien deshalb nicht in der Lage gewesen, die von Kohl betriebene "Annexion" zu verhindern.

Das Buch schließt mit einem Besuch des Dorotheenstädtischen Friedhofs, wo die systemkritischen Dichter und Denker der DDR "im Schatten von Fichte und Hegel" ihre letzte Ruhe gefunden haben. Der romantischen Idylle stellt sie den "Friedhof der Sozialisten" am "anderen Ende von Berlin-Friedrichsfeld" entgegen, wo die Potentaten des Regimes begraben liegen. Das Buch zum Andenken an die schweigenden Idealisten ist kenntnisreich, doch manchmal übertreibt es die Autorin, wie auch französische Kritiker feststellten, mit ihrer Sympathie. Die "Ostalgie à la française", sie ist ein neues Kapitel in den von produktiven Missverständnissen und Phasenverschiebungen geprägten deutsch-französischen Beziehungen.

JÜRG ALTWEGG

Nicolas Offenstadt:

"Urbex RDA".

Éditions Albin Michel, Paris 2019. 256 S., br., 34,90 [Euro].

Nicolas Offenstadt:

"Le pays disparu".

Sur les traces de la RDA.

Éditions Gallimard, Paris 2019. 480 S., br., 9,10 [Euro].

Sonia Combe: "La loyauté à tout prix". Les floués du ,socialisme réel'.

Éditions Le Bord de l'eau, Bordeaux 2019. 240 S., br., 22,- [Euro].

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