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13 Kundenbewertungen

Kazuo Ishiguro ist ein Autor, der sensible Themen eindrucksvoll thematisiert. In diesem Roman, der die Grenzen des medizinisch Machbaren scheinbar realistisch überschreitet, erzählt er vordergründig eine klassische Pubertäts- und Internatsgeschichte. Allerdings lastet ein Geheimnis auf den Schülern dieser Einrichtung, durch das die Geschichte sich zum Thriller steigert. Je stärker der medizinische Fortschritt voranschreitet, desto aktueller ist das Thema dieses preisgekrönten Romans.

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Produktbeschreibung
Kazuo Ishiguro ist ein Autor, der sensible Themen eindrucksvoll thematisiert. In diesem Roman, der die Grenzen des medizinisch Machbaren scheinbar realistisch überschreitet, erzählt er vordergründig eine klassische Pubertäts- und Internatsgeschichte. Allerdings lastet ein Geheimnis auf den Schülern dieser Einrichtung, durch das die Geschichte sich zum Thriller steigert. Je stärker der medizinische Fortschritt voranschreitet, desto aktueller ist das Thema dieses preisgekrönten Romans.
Autorenporträt
Kazuo Ishiguro, geb. 1954 in Nagasaki, kam 1960 nach London, wo er Englisch und Philosophie studierte. 1995 wurde ihm der Cheltenham Prize verliehen und 2006 der Belletristikpreis der 'Zeit'. Kazuo Ishiguros Werk wurde bisher in 28 Sprachen übersetzt. Der Autor lebt mit Frau und Kind in London. 2006 erhält er den Corine-Preis. 2017 wird ihm der Literaturnobelpreis verliehen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2005

Große Würfe

DIE FRAGE, ob der Mensch Herr seines Schicksals ist, ob die Vergangenheit stärker ist als die Zukunft und ob die Einsamkeit dazu führt, daß manche Menschen das Leben, über das sie so angestrengt nachdenken, schlicht verpassen, steht im Mittelpunkt von drei Romanen, die ihre Themen mit so viel stilistischer und gedanklicher Brillanz verfolgen, daß ihre Lektüre unvergeßlich bleibt. Ob man, wie der japanischstämmige Engländer Kazuo Ishiguro in "Alles, was wir geben mußten", die Ohnmacht des Menschen seinem Schicksal gegenüber untersucht oder, wie der Ire Colm Tóibín in "Porträt des Meisters in mittleren Jahren", den Schriftsteller Henry James in seiner eigensinnigen Sturheit so zum Leben erweckt, daß der Leser am Ende ebenso gut und schlecht über ihn urteilen kann wie über einen engen Freund, oder ob man, wie der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk im Roman "Schnee" zeigt, wie die beeindruckenden, zugleich unheimlichen Kräfte des Glaubens Religion zu Politik und Politik zu Religion werden lassen - die ebenso brennenden wie mutigen Fragen, die diese drei Autoren aufwerfen, sind von immerwährender Aktualität.

fvl.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.11.2005

Der Traum des Klons von der Kübelpflanze
„Alles, was wir geben mussten”: Kazuo Ishiguro erzählt von Kindern, die als Organspender gezüchtet werden
Nichts ist, wenn man der Literatur glauben darf, so englisch wie ein Internat; und am liebsten tritt es, von Enid Blytons fünf Freunden bis Harry Potter, gleich serienweise auf. Als Internatsgeschichte schreibt auch Kazuo Ishiguro, den es schon als Kind nach England verschlagen hat, seinen Roman „Alles, was wir geben mussten”.
Aber Hailsham ist ein spezielles Internat. Kathy H. denkt daran zurück, sooft sie ihr Auto durchs ländliche England lenkt und halb hinter Pappelreihen verborgen ein altes Herrenhaus erblickt. „Betreuerin” ist sie von Beruf, ein Wort, dem man sofort vage misstraut, noch ehe man weiß, worum eigentlich es sich handelt. Der ganze Kreis, in dem sie von Geburt an gelebt hat, wird umhegt von solchen Vokabeln mit sinister sedierendem Klang: als „Spender” sind diese Kinder herangezogen worden, und nach der vierten „Spende” wird von ihnen erwartet, dass sie „abschließen”. Insbesondere achtet man bei ihnen in der anfälligen Phase zwischen dem vierzehnten und dem sechzehnten Lebensjahr darauf, dass sie nicht das Rauchen anfangen: Denn es bedeutet mehr als ihre Pflicht, es ist ihr Daseinszweck, dass sie ihre inneren Organe frisch und unversehrt bewahren, bis sie gebraucht werden. Nur dazu hat man sie schließlich geklont.
So ziemlich jeder andere Autor hätte diesen Stoff als die Geschichte einer Rebellion inszeniert: Eines Tages erkennt der Held, was gespielt wird, und versucht auszubrechen. Ein Autor des Mittelfeldes hätte ihn damit Erfolg haben lassen, wie in Huxleys „Brave New World”; bei einem stärkeren, der sich sein Vorbild an Orwells „1984” nimmt, hätte am Ende das System triumphiert. Rang und Eigenart von Ishiguros Roman dagegen bezeichnet es, dass er nichts dergleichen geschehen lässt, sondern das Ungeheuerliche als etwas präsentiert, das sich in den Augen der Betroffenen bis zum Schluss ganz von selbst versteht. Zwar wird das Internat von der Außenwelt isoliert; aber das System vollzieht sich keineswegs als Verschwörung, vielmehr hält es für seine Opfer etwa ab dem siebzehnten Lebensjahr eine Art Auswilderungsprogramm bereit, das ihnen das allmähliche Hineinwachsen in die normale Welt, ins zeitgenössische England ermöglichen soll. Keine dunkle Zukunftsvision wird ausgemalt; alles hätte in der Gesellschaft, wie wir sie kennen, ohne weiteres seit Jahrzehnten laufen können.
In der Behandlung des Stoffs hat Ishiguro deshalb eine glückliche Hand, weil das Ganze ihn als Stoff, im Sinn des Aktuellen, gar nicht interessiert. Er nimmt ihn als Sprungbrett, um zu seinem alten Thema zu gelangen: dem Waisenkind. „Als wir Waisen waren” hatte sein letztes Buch, vor fünf Jahren, geheißen. Damals hatte er die Geschichte von einer Kindheit im Shanghai der Zwischenkriegszeit erzählt, von einem Jungen, dessen Eltern mutmaßlich von chinesischen Rauschgiftgangstern entführt wurden, und zwanzig Jahre später macht er sich auf, sie zu suchen - eine Erzählung von jäher Unwahrscheinlichkeit wie der Weg eines Schlafwandlers auf dem Dachfirst, und doch der Logik des Traums untertan, die alles hinnimmt, als könnte es anders gar nicht sein. An die Stelle dieser Traumhülle tritt im neuen Buch das wohletablierte Genre vom abgeschirmten Kosmos der Boarding School - eines Lebensraums, der sich ja selbst unter günstigsten Umständen als ein halbes Waisenhaus bezeichnen ließe. Und wieder ist es die unbewusste Tapferkeit verlassener Kinder, die gar nicht ahnen, wie bestürzend ihr Schicksal einem Außenstehenden erscheinen muss, die Ishiguros erzählerische Aufmerksamkeit bestimmt.
Die Außenwelt tritt im ersten Teil des Buchs nur in Gestalt von „Madame” auf, einer Französin oder Belgierin, stets in grauem Kostüm, die mehrmals pro Jahr anreist, um die kreativsten Basteleien der Schüler für eine rätselhafte „Galerie” einzusammeln und mitzunehmen. Sie hält sich vom Kontakt mit den Kindern fern, offenbar mag sie sie nicht - oder hat sie vielleicht Angst? Die Kinder beschließen, es herauszufinden, sie schmieden einen Plan, den man zugleich klug, kühn und diskret nennen muss (sie sind alle erst zehn oder elf Jahre alt): Zu mehreren wollen sie ihr auf dem Weg zum Hauptgebäude entgegengehen und sie dabei wie unabsichtlich entweder zu einer flüchtigen Berührung oder aber einem Ausweichmanöver nötigen. Sie würden sich dann natürlich entschuldigen - aber an der Reaktion jedenfalls sehen, was wirklich los ist. Der Plan funktioniert auch (es sind die funktionierenden Pläne, aus denen in diesem Buch die größten Überraschungen erwachsen); Madame bleibt wie angewurzelt stehen. Aber es geschieht noch mehr:
„Als sie stehen blieb und erstarrte, warf ich - und mit mir zweifellos auch meine Freundinnen - einen raschen Blick auf ihr Gesicht. Ich sehe es noch heute vor mir, das Schaudern, das sie zu unterdrücken versuchte, die echte Furcht, dass eine von uns sie womöglich aus Versehen streifen könnte. Und obwohl wir einfach nur weitergingen, spürten wir es alle: es war, als wären wir vom hellen Sonnenschein in kalten Schatten getreten. Ruth hatte Recht behalten: Madame fürchtete sich vor uns. Aber sie fürchtete sich so, wie sich jemand vor Spinnen fürchtet. Darauf waren wir nicht gefasst gewesen. Es war uns nie in den Sinn gekommen, uns zu fragen, wie es für uns wäre, so gesehen zu werden: als die Spinnen.”
Das sind die stärksten Stellen des Buchs: Wo der unreflektierte Anschein von Normalität plötzlich aufreißt und in einen Abgrund des Todtraurigen schauen lässt. So, wenn Ruth eines Tages einen Prospekt im Dreck liegen findet, der ein modernes Großraumbüro zeigt! In so einem würde sie auch gern arbeiten, mit richtigen Kübelpflanzen! Aber natürlich wird keiner von ihnen je einen Beruf ausüben; ihre Zukunft ist die Spende. So, wenn Kathy Pornohefte durchblättert auf der Suche nach einer „Möglichen”, einer Person, die ihr selbst ähnlich genug sähe, um vielleicht das Urbild zu sein, nach dem sie geklont wurde. Denn darüber, welches Menschenmaterial zu diesem Zweck herangezogen wurde, gibt sich keiner der Spender Illusionen hin. Und doch, selbst wenn man vom Erbmaterial eines Junkies oder eines Pornostars genommen wäre: es wären so was wie Eltern.
Gegen Ende gelingt es Kathy und ihren Freunden Ruth und Tommy, Miss Emily und Madame in ihrer Klause, wo sie den Ruhestand verbringen, aufzuspüren. Das Zweideutige, das diese beiden Figuren umspielt hat, erweist sich, spät, als Mitleid, das verschwiegen werden musste: Hailsham war ein zäh verfolgtes und verteidigtes Projekt, um einem kleinen Teil der armen Spender ein menschenwürdiges Dasein zu schenken, eine Kindheit wenigstens. Anderwärts sieht es weit schlimmer aus. Die Galerie mit den Bastelarbeiten war dazu da, die Öffentlichkeit zu überzeugen, dass auch Klone eine Seele haben. Inzwischen hat auch Hailsham dicht machen müssen.
Was heißt es übrigens, wenn einer nach der vierten Spende „abgeschlossen” haben wird? Hier öffnet das Buch einmal ein kleines Fenster und zwingt zum Blick in die Tiefe, wie die Schülerinnen es tun, als sie eine aus ihrer Gruppe ans Fenster zerren, ihr die Lider aufreißen und sie zwingen, in den schrecklichen nächtlichen Wald oberhalb des Internats zu sehen. „Sie haben es bestimmt auch gehört: dass Sie, auch wenn Sie technisch gesehen nach der vierten Spende abgeschlossen haben, immer noch irgendwie bei Bewusstsein sind; dass, wie Sie dann feststellen werden, jenseits dieser Grenze noch weitere Spenden stattfinden, viele sogar; dass es dann keine Erholungszentren mehr gibt, keine Betreuer, keine Freunde; dass Sie nichts mehr tun können als Ihre weiteren Spenden zu verfolgen, bis Sie irgendwann abgeschaltet werden.” Auch dies, die furchtbare Hauptsache, wird im selben sanften, ruhigen Ton mitgeteilt, den das Buch immer wahrt; wie ein winterliches Atemwölkchen steht er vor der absoluten Schwärze der Nacht.
BURKHARD MÜLLER
KAZUO ISHIGURO: Alles, was wir geben mussten. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Blessing Verlag, München 2005. 349 Seiten, 19,90 Euro.
Ein Blick über die Mauer in jene Außenwelt, die den Klonen verschlossen bleibt.
Foto: Corbis
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Merklich berührt wirft Susanne Mayer von Ishiguros neuem Roman aus einen Blick zurück auf seine bisheriges Werk und schält ein grundlegendes Thema heraus: der Einzelne inmitten der "gesellschaftlichen Ödnis". Seine Figuren erinnern sich, rechtfertigen sich, versuchen, ihre Existenz "im Netz ihrer Erzählung aufzufangen" - hier ist es eine junge Frau, die auf ihre Kindheit in einem Internat zurückblickt, in einer ländlichen englischen Idylle. Sie und ihre Mitschüler sind elternlos, aber keine Waisen, sondern Klone, gezüchtet als Organlager, aber voller Sehnsucht und Seele wie natürlich gezeugte Menschen. Das Internat wird in der Erinnerung zum "Kosmos klebriger Beziehungen", isoliert von jeder Art von gesellschaftlicher Umgebung. Ishiguro gehe es nicht um Technologiekritik, noch nicht einmal um Moral, sondern "um die Reinheit des Herzens". Mayer bewundert das zarte sprachliche Kleid von Ishiguros Figuren, jener "Klang von Stille", der seinen Büchern eines derartige, wie die Rezensentin befindet, "betörende Wirkung" verleiht.

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"Ishiguro zeichnet das Bild einer unbeirrbaren menschlichen Zartheit, obwohl die Katastrophe bereits stattgefunden haben könnte." Frankfurter Rundschau