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Vom Weg abkommen, ins Abenteuer stürzen, wieder alte Zauber spüren: Noch immer führen Märchen unsere Fantasie davon. Grell oder subtil, nie auserzählt und selten vollständig zu durchdringen. In immer neuer Inszenierung finden sich Märchen oder Märchenelemente in allen Spielarten von Kunst, Musik, Kultur. Es überrascht nicht, dass Märchen auch die Poesie inspirieren. Es überrascht eher, dass märchenhafte Lyrik bisher nicht in dieser Form zusammengekommen ist. Dabei sind sich beide Genres äußerst nah. Am Wunderbaren rühren, die eigene Zeit verwandeln oder hinterfragen, vertuschen und verblüffen,…mehr

Produktbeschreibung
Vom Weg abkommen, ins Abenteuer stürzen, wieder alte Zauber spüren: Noch immer führen Märchen unsere Fantasie davon. Grell oder subtil, nie auserzählt und selten vollständig zu durchdringen. In immer neuer Inszenierung finden sich Märchen oder Märchenelemente in allen Spielarten von Kunst, Musik, Kultur.
Es überrascht nicht, dass Märchen auch die Poesie inspirieren. Es überrascht eher, dass märchenhafte Lyrik bisher nicht in dieser Form zusammengekommen ist. Dabei sind sich beide Genres äußerst nah. Am Wunderbaren rühren, die eigene Zeit verwandeln oder hinterfragen, vertuschen und verblüffen, es mit dem Unergründlichen aufnehmen: Das können Märchen, können Gedichte.
Auf welch vielfältige Weise sie das tun, zeigt diese überfällige Anthologie. Über mehr als ein Jahrhundert verfolgen Birgit Kreipe und Ron Winkler Anverwandlungen von Quellcodes, poetische Twists und Resonanzen auf Märchenstoffe in der deutschsprachigen Lyrik - von Aschenbrödel bis Schneewittchen, von Brüderchen und Schwesterchen bis zu Sindbad und dem Vogel Rock.
Autorenporträt
Ron Winkler, geboren 1973 in Jena, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Berlin. 2017 erschien sein fünfter Gedichtband "Karten aus Gebieten" (Schöffling & Co.), 2021 folgte ebenda "Du weißt nicht, wie schwer es geworden ist, einen Brief zu verschicken", eine poetische Korrespondenz mit Mara-Daria Cojocaru. Neben der Literaturzeitschrift "intendenzen" gab Ron Winkler bereits einige Anthologien heraus. Sein Lyrik wurde in fünfundzwanzig Sprachen übersetzt. Auswahlbände erschienen in Mexiko, der Ukraine und England und der Slowakei. 2005 bekam er den Leonce-und-Lena-Preis zugesprochen, 2006 den Mondseer Lyrikpreis, 2012 einen Rainer-Malkowski-Förderpreis, 2015 den Lyrikpreis München und 2016 den Basler Lyrikpreis. Birgit Kreipe, geboren 1964 in Hildesheim, studierte Psychologie und Germanistik und lebt als Psychotherapeutin, Autorin und Übersetzerin von Lyrik in Berlin. Von ihr erschienen drei Bände mit Lyrik: "schönheitsfarm" (Verlagshaus Berlin 2012), "SOMA" (kookbooks 2016) und "aire" (kookbooks 2021). Ihre Gedichte wurden mit dem Münchner Lyrikpreis und dem Irseer Pegasus ausgezeichnet. 2018 war sie Finalistin beim Lyrikpreis Meran. Sie erhielt zwei Mal das Arbeitsstipendium des Berliner Senats. 2022 ist sie Stipendiatin der Deutschen Akademie Rom in der Casa Baldi.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit dem Vor- und Nachwort dieser Anthologie, die Gedichte versammelt, die sich auf Märchen beziehen, kann Rezensent Tilman Spreckelsen zwar wenig anfangen - auch, weil den Herausgebern Birgit Kreipe und Ron Winkler hier einige Fehler unterlaufen. Umso besser gefällt ihm dafür die Zusammenstellung der rund 120 Texte, die zwar grob nach den referenzierten Märchen geordnet ist, die jeweiligen Zugriffe darauf aber bunt mischt. So führt die lyrische Variation der Originalhandlung manchmal zu einer bitteren Realität, etwa, wenn Franz Fühmann die goldene Märchenwelt mit harten sozialen Verhältnissen konfrontiert, setzt manchmal aber auch emanzipatorische Aufbruchsstimmung frei, analysiert der Kritiker. Dass eine Anthologie eine Auswahl treffen muss, ist Spreckelsen klar, trotzdem hätte er sich über zwei Gedichte von Doris Runge gefreut. Ein Band, der mit Texten von Elke Erb über Ernst Jandl bis Sarah Kirsch zeigt, was Märchen, diese "kanonischen Texte anregen können".

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.02.2022

Ach komm, Schneewittchen, wir beißen einfach in den Apfel
Zwischen zwei Weltuntergängen leuchten traurigschöne Augen: Eine Anthologie versammelt Gedichte, die sich auf Märchen beziehen

Was ist das für ein seltsames Paar, das sich da gegenübersteht, "sie im alten Brautkleid von Mutter / und mit einem Knutschfleck am Hals / er mit einem Fitz in den Haaren / unter der Krone aus leichtem Metall / und einer Traurigkeit im Gesicht / die ausgereicht hätte, sie beide / sofort von der Bühne zu sprengen"? Wer hat sie dort zusammengebracht, warum machen sie bei der traurigen Vorstellung mit?

Die Antwort - oder eher einen Hinweis darauf, womit man es bei dem Paar zu tun hat - steht in der viertletzten Zeile dieses Gedichts von Ulrike Almut Sandig: "lang warn die Schuhe zertanzt", heißt es dort in Parenthese, wie geflüstert, in der Überschrift steht es noch deutlicher: "die zertanzten Schuhe". Das gleichnamige Märchen der Brüder Grimm erzählt von zwölf Prinzessinnen, die Nacht für Nacht ihr gemeinsames Schlafzimmer durch eine Luke im Fußboden verlassen, um in einem Traumland mit zwölf Prinzen zu tanzen; allein die ruinierten Schuhe verraten sie an den Hofstaat. Der König heuert Freiwillige an, die der Sache auf den Grund gehen sollen, allesamt von den Prinzessinnen ausgetrickst werden und am nächsten Morgen mit dem Leben dafür zahlen. Ein alter Soldat löst schließlich das Rätsel. Die Prinzen werden auf obskure Weise bestraft, die Prinzessinnen werden sie nicht wiedersehen, der Soldat aber darf sich eine Königstochter zur Frau wählen. Er nimmt die älteste, die einstige Anführerin der nächtlichen Eskapaden.

Das Paar, so kann man vermuten, ist in Sandigs Gedicht gemeint, ihre "Traurigkeit", ihr gefasstes Mittun bei einer Hochzeit ohne Liebe wird beschrieben - die Prinzessin, den Knutschfleck ihres Prinzen noch am Hals, hat keine Wahl, der Soldat trägt die schäbige Krone, um derentwillen er die Zeremonie schließlich mitmacht, mit einiger Haltung, aber, so endet das Gedicht, "irgendwann fiel der Vorhang. / sie drehten sich gleichzeitig / drehten sich weg".

Sandigs Text ist Teil der Anthologie "Rote Spindel, schwarze Kreide", in der die Herausgeber Birgit Kreipe und Ron Winkler an die 120 Gedichte versammeln, die auf Märchen Bezug nehmen. Der älteste Beitrag stammt von Conrad Ferdinand Meyer, der überwiegende Teil der Texte aber ist zeitgenössisch, viele entstanden in den letzten Jahren.

Eingerahmt wird diese Sammlung von einem Vor- und einem Nachwort, die dem Verständnis nicht übermäßig weiterhelfen. Das betrifft vor allem die Einführung, in der lästigerweise wieder einmal von den "Gebrüdern" Grimm die Rede ist, das Erscheinen der "Kinder und Hausmärchen" um zwei Jahre vordatiert wird (1810 statt 1812) und die erste deutsche Übersetzung von "Tausendundeiner Nacht" aus dem achtzehnten Jahrhundert in die Biedermeierzeit verschoben wird.

Allerdings macht die Auswahl der Texte solche Schwächen mehr als wett. Kreipe und Winkler haben glücklicherweise darauf verzichtet, eine bestimmte Zugangsweise zu Märchen herauszustellen. Stattdessen geht es ihnen um ein möglichst breites Spektrum, der Blick aufs Märchen ist mal verklärt, mal desillusioniert, sozialkritisch, psychologisch, sentimental oder verrätselt. So wird etwa in Franz Fühmanns "Märchenhäuser" der Glanz einer vormodernen Märchenwelt mit der Brutalität der sozialen Verhältnisse hart in Beziehung gesetzt, vermittelt durch das raunende Wort "freilich", das an zentraler Stelle jeweils das Umschlagen der Stimmung vorbereitet; ungleich kunstvoller wird in Nora Bossongs Gedicht "Geweihe" die Desillusion nicht aus der Betrachtung der märchenimmanenten Verhältnisse, sondern aus dem eigenen Erleben entwickelt: "Im rechten Moment / vergaßen wir zu stolpern. / Schneewittchen schläft."

Führt das Abweichen von der tradierten Handlung - die sargtragenden Zwerge stolpern, dem komatösen Schneewittchen rutscht der Giftapfel aus dem Mund - hier in die freudlose Realität, wird es andernorts, etwa in einem titellosen Gedicht von Joochen Laabs, genau deshalb frei herbeigeführt, als Emanzipation, als Aufbruch: "Schneewittchen, komm zu mir / ans Fenster", heißt es da, "sieh, dieser Himmel, / blank gewaschen von der Sonne, / Und das Wasser im Hafen ist grau vom Wind." Am Ende dienen die Schiffe als Gleichnis für das Aufkündigen von Verhältnissen, die darauf abzielen, den Sprecher samt Schneewittchen zu "vergiften", mit der überraschenden Konsequenz: "Auf das Ziel zu. / Auch wenns nicht sichtbar ist / hinterm Horizont. / Ach, wir beißen einfach in den Apfel."

Klingende Namen sind hier vertreten, Rose Ausländer, Elke Erb, Ernst Jandl, Paul Celan, Sarah Kirsch und viele andere. Eine grobe Ordnung richtet sich nach den Märchen, auf die jeweils Bezug genommen wird, und so steht Nora Gomringers leidenschaftlicher und sprachverliebter "Froschkönig" neben "Bräutigam Froschkönig" von Marie Luise Kaschnitz, der sich der "Jungfer Leben" in rasender Fahrt anschmiegt, "zwischen zwei Weltuntergängen", bestürzend hässlich, aber mit "Traurigen / Schönen / Augen", sichtbar nur in der Morgendämmerung.

Dass einige herausragende Texte fehlen, liegt in der Natur einer solchen Sammlung, und man kann es den Herausgebern nicht ankreiden. Dass ein, zwei Gedichte von Doris Runge dem Projekt gut angestanden hätten, sei trotzdem erwähnt, etwa "märchenhaftes binz" mit den so dezenten wie verstörenden Hinweisen auf eine plötzliche, leise Irritation zwischen zwei Menschen, für die an den Auftritt von Andersens Schneekönigin erinnert wird.

Denn am Ende ist das Märchensujet im Gedicht ein Angebot an den Leser, die Erinnerung an die frühere Lektüre als eine zweite Stimme, einen Hintergrund für eine Lyrik zu entdecken, die daran mit den eigenen Mitteln anknüpft. Was diese kanonischen Texten anregen können, die archaischen "Aschenputtel" und "Rumpelstilzchen" so gut wie die ziselierten Märchen Hans Christian Andersens, ist ein Fundus an Bildern für unsere Gegenwart. Und so, wie von Ulrike Almut Sandig gefasst, müssen wir uns fragen, ob die zertanzten Schuhe der Prinzessinnen nicht auch unsere eigenen sind. TILMAN SPRECKELSEN

"Rote Spindel, schwarze Kreide". Märchen im Gedicht.

Hrsg. von Birgit Kreipe und Ron Winkler. Edition Azur im Verlag Voland & Quist, Dresden 2021. 152 S., br., 20,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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