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Die »deutsche Revolution« von 1848 konnte den einstigen Freiheitskriegspoeten Rückert nicht unberührt lassen; entsprechend tiefe Spuren hat sie im »Liedertagebuch«, dem Altersprotokoll seines Lebens, hinterlassen.In eher zufälliger Koinzidenz verließ er am Vorabend der Unruhen die preußische Residenzstadt, um sich im abgeschiedenen Neuses von der nur noch bedrückenden Lehrpflicht des Semesters zu erholen; es sollte sein letztes sein, und er kehrte nie mehr nach Berlin zurück. Aber aus der Beschaulichkeit der Provinz begleitete er in ungebrochener Teilnahme die Ereignisse, die Europa in seinen…mehr

Produktbeschreibung
Die »deutsche Revolution« von 1848 konnte den einstigen Freiheitskriegspoeten Rückert nicht unberührt lassen; entsprechend tiefe Spuren hat sie im »Liedertagebuch«, dem Altersprotokoll seines Lebens, hinterlassen.In eher zufälliger Koinzidenz verließ er am Vorabend der Unruhen die preußische Residenzstadt, um sich im abgeschiedenen Neuses von der nur noch bedrückenden Lehrpflicht des Semesters zu erholen; es sollte sein letztes sein, und er kehrte nie mehr nach Berlin zurück. Aber aus der Beschaulichkeit der Provinz begleitete er in ungebrochener Teilnahme die Ereignisse, die Europa in seinen Grundfesten erschütterten: Die Berliner Barrikadenkämpfe erschienen ihm - wie die gesamte Revolution - als notwendiges, die politische Atmosphäre reinigendes Gewitter, um das zersplitterte Deutschland auf den Weg zur Einheit zu bringen. Hoch waren seine Erwartungen an Friedrich Wilhelm IV., in dem er enthusiastisch den künftigen deutschen Kaiser sah. Mit dessen Ablehnung der ihm von der Frankfurter Nationalversammlung angebotenen Kaiserkrone im April 1849 mußte aber auch er enttäuscht erkennen, daß mit den deutschen Fürsten weder Freiheit noch Einheit ins Land ziehen würden. Der alternde Rückert begrub in der Folge sämtliche politischen Hoffnungen und nahm gegenüber der politischen Kaste Deutschlands eine zunehmend feindselige Haltung ein, die sich im hohen Alter zum offenen Jakobinertum auswachsen sollte.Fast alle Texte erscheinen - nach über 150 Jahren - hier erstmals im Druck. Der editorische Bericht enthält die Entstehungsgeschichte und die Darstellung sämtlicher Quellen.Zur »Schweinfurter Edition«:In einer von der Rückert-Gesellschaft initiierten und sorgfältig edierten Ausgabe wird unter der Herausgeberschaft Hans Wollschlägers und Rudolf Kreutners Rückerts Hauptwerk nun wieder zugänglich gemacht.Preis bei Abnahme der ganzen Reihe: EUR (D) 52,-; EUR (A) 53,50
Autorenporträt
Friedrich Rückert (1788-1866) galt seinerzeit als der bedeutendste Lyriker deutscher Sprache. Als Gelehrter und Übersetzer nah- und fernöstlicher Lyrik hat er der deutschen Sprache »einen Schatz geschenkt, den keine andere Sprache besitzt«. (Annemarie Schimmel)

Rudolf Kreutner, geb. 1954, von 1987 bis 2018 Kustos des Schweinfurter Rückertnachlasses und gemeinsam mit Hans Wollschläger(_ 2007) Mitbegründer der Rückert-Edition.

Hans Wollschläger (1935-2007) war Übersetzer (u. a. James Joyce »Ulysses«), Schriftsteller, Historiker, Religionskritiker, Rhetor, Essayist und Literaturhistoriker. Er erhielt neben vielen anderen Auszeichnungen 1982 den erstmals vergebenen Arno-Schmidt-Preis. Posthum wurde ihm 2007 der August-Graf-von-Platen-Preis der Stadt Ansbach verliehen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.03.2002

Einst auf unscheinbaren Schnitzeln
Müssen alle Rosen welken, können nicht Viol- und Nelken immer blühn? Erste Einblicke in das „Liedertagebuch” aus dem Nachlass des Dichters Friedrich Rückert
Ein Gerücht nimmt Gestalt an. Oder sollte ich sagen: Ein Gespenst droht, sich zu materialisieren? Die Rede ist vom dichterischen Nachlass des Orientalisten und Lyrikers Friedrich Rückert, verstorben 1866 in seinem Landhaus zu Neuseß bei Coburg, und der hat es in sich. Bereits die Tatsache, dass gut 150 Jahre vergehen mussten, bis mit Hans Wollschläger und Rudolf Kreutner zwei Herausgeber auf den Plan traten, gewillt, Rückerts Hinterlassenschaft vollständig zu publizieren, wirft Fragen auf: Weshalb diese Zurückhaltung früherer Generationen von Literaturfreunden und Germanisten? Zählt nicht Friedrich Rückert zu jenen Dichtern des 19. Jahrhunderts, die noch heute jede Literaturgeschichte mit Achtung nennt?
Eine denkbare Antwort liefert Richard Dove, der den Dichter im Bertelsmann-Literaturlexikon vorstellt. Friedrich Rückert sei „zeitlebens ein Vielschreiber” gewesen, sagt er und nennt Zahlen: „Sein Ausstoß war derart immens, dass er es allein im Herbst 1833 auf rund 150, in seiner sechs Jahrzehnte umfassenden Schaffensperiode auf weit mehr als 10000 Gedichte brachte.” Eine Zahl, die wir uns merken wollen; vorerst sei noch die Tatsache erwähnt, dass Rückert „nach seinem durch mehrere Verrisse bedingten Publikumsverzicht” in seinen letzten zwanzig Jahren so gut wie nichts mehr veröffentlichte, jedoch mit ungebrochener Schaffenskraft weiterdichtete: „Die etwa 2000 Gedichte in klassischen Versmaßen stellen ein wichtiges Seitenstück zum Spätklassizismus Mörikes dar.” Obgleich bedeutende zeitgenössische Dichter den Dichter Rückert immer wieder gewürdigt hätten, sei er in Vergessenheit geraten, beklagt Dove, doch „Hans Wollschlägers angekündigte Gesamtausgabe (einschließlich des unveröffentlichten Nachlasses) wird die sachliche Auseinandersetzung mit diesem bedeutenden Progonen fördern.”
Zum Druck befördert im Jahre 1991, und zehn Jahre später, seit dem November 2001, ist es soweit: „Mit dem dritten Band der historisch-kritischen Ausgabe der Werke Friedrich Rückerts werden nun erstmals ungedruckte Texte aus dem poetischen Nachlass vorgelegt.” Das las ich in einer Mitteilung des Wallstein Verlags, und das hörte ich, als ich beim Verlag anfragte, ob der rund 450 Seiten starke Band bisher irgendwelche Auseinandersetzungen provoziert hätte: Nein, viele Reaktionen habe es noch nicht gegeben. Anders als „Gedichte von Rom” und „Die Weisheit des Brahmanen”, die beiden ersten Bände der „Schweinfurter Edition”, sei der dritte Band kaum wahrgenommen worden. Weshalb nicht? Da könne man nur spekulieren...
Spekulieren auch wir. Drei Gründe scheinen mir das Schweigen zum Rückert-Nachlass zu begünstigen, wenn nicht zu begründen: Erstens die schiere Menge des Nachgelassenen. Zweitens den Rang, den die Herausgeber der Nachlass- Menge zuweisen. Und drittens die Tatsache, dass davon bisher nur die Spitze überschaubar und überprüfbar ist.
Im Jahre 1847, im Alter von 58 Jahren,hatte Rückert seine Berliner Lehrtätigkeit aufgegeben und sich nach Franken zurückgezogen; im November dieses Jahres beginnt Rückert ein Konvolut, dem er den Titel Altersverse gibt. Er wird es in der Folge sein Liedertagebuch nennen. Der erste dieser „Altersverse” lautet:
Einst auf unscheinbaren Schnitzeln
Mit unleserlichen Kritzeln
Bald mit Witz und bald mit Witzeln
Schrieb ich Vers’ und Verschen hin,
Die mir beßer doch gefielen
Als was nun mit feinsten Kielen
Auf den glättsten Blätterdielen
Ich imstand zu schreiben bin.
Trotz dieses selbstkritischen Einstiegs wird Rückert die nächsten zwanzig Jahre an seinem „Liedertagebuch” weiterschreiben. Nicht Tag für Tag, doch wird jede Pause durch besonders fruchtbare Tage wettgemacht, an welchen dem Dichter fünf Eintragungen und mehr aus den „feinsten Kielen” fließen. Die Summe dieser gesammelten und in eigens geschreinerten Fächern abgelegten „glättsten Blätterdielen” war nicht, wie noch von Dove geschätzt, 2000, sondern 10000 Gedichte stark, eine Nachlast, die – folgt man den beiden heutigen Rückert-Herausgebern – bereits die Kinder des Dichters überforderte. Sowohl Sohn Heinrich als auch Tochter Marie hätten „bedenkenlose” Auswahlbände vorgelegt, nach eigener Anordnung, mit eigenen Überschriften und in völliger Verkennung des Umstands, „dass die zahllosen Blätter und Blättchen mit nur immer einem Datum als Titel allesamt Bausteine einer Architektur waren, die einem einzigen konstruktiven Plan folgte”.
Diesen Bau könnte nun nur der würdigen, welcher ihn zur Gänze kenne – weshalb für die Herausgeber Abstriche am Großen Ganzen nicht in Frage kommen: „Rückerts Liedertagebuch, vor anderthalb Jahrhunderten privat geführt, könnte, nach anderthalb Jahrhunderten erstmals als Ganzes veröffentlicht, nicht nur als das größte geschlossene Poesiewerk des Neunzehnten Jahrhunderts erkannt werden, sondern auch als ein Alterswerk exemplarischer Art.” Hochgemute Worten. Und nicht genug damit, dass die Herausgeber dem Rückert-Nachlass ein solch prächtiges Podest gemauert haben, sie heben – hebeln? – ihn noch höher, wenn sie ihn schlankweg zum „Großkompendium objektiver menschlicher Weisheit” erklären.
Von Rückerts zwanzig Altersjahren sind vorerst nur zwei erschlossen, von den geschätzten zehntausend Gedichten sind erst rund 420 publiziert – wer wollte unter diesen Umständen ein Urteil darüber wagen? Der Wallstein Verlag rechnet mit insgesamt acht Nachlassbänden – jeder der folgenden sieben Bände müsste demnach rund 1300 Gedichte enthalten, damit die Rechnung aufgeht. Wann das der Fall sein wird? Vielleicht werden bereits wir den ganzen Rückert kennen lernen können, vielleicht erst unsere Kinder, wenn nicht Kindeskinder...
Was aber macht ein Kind unserer Zeit, was mache ich mit dem, was mir bisher von Rückerts Nachlass vorliegt? Ich mache ein Experiment. Da jede Gedichtauswahl zufällig ausfallen muss, da zudem jedwede Wertung angreifbar ist, habe ich eine zufallsgesteuerte Schneise durch die vielen Gedichte des vorliegenden Bandes gewählt. Beim Lesen nämlich war mir aufgefallen, dass Rückerts Gedichte häufig Fragen formulieren und aufwerfen – warum nicht einfach in sieben chronologisch gereihten Stationen dieser Fragespur durch Rückerts Liedertagebuch der Jahre 1846 und 1847 folgen.
Am 11. Dezember 1846 notierte Rückert fünf Gedichte. Eines ist an Aennchen gerichtet:
Was dir brachten
Die Weihnachten
Sieh nur, liebes Aennchen!
Rings mit goldner Frucht behangen,
Hell in Lichtglanz aufgegangen,
Dieses Weihnachtstännchen,
Siehst du, liebes Aennchen?
Fünfmal wiederholt der Dichter diese Schlussfrage, wobei er die Aufmerksamkeit Aennchens nach und nach auf „Silberpfännchen”, „Kaffeekännchen”, „Badewännchen”, „Hahn und Hennchen” lenkt, bis das Poem mit „Zuckermännchen” ein sozusagen natürliches Ende wegen akuten Reimwortmangels findet.
Anderntags bedichtet Rückert kein Kind, sondern ein Tier, an das er höflich formulierte, in der Sache jedoch etwas abwegige Fragen richtet:
Frau Meise,
Blaumeise,
Wo findest du nun deine Kost?
Hat dich so scharf durchweht der Ost,
Daß dir der Hals ward blau vor Frost?
Frau Meise kommt nicht dazu, dem Dichter die prosaische Wahrheit über ihre artbedingte Blaufärbung mitzuteilen, da dieser in sieben weiteren Strophen auf sie einredet, wobei er besondere Kunstfertigkeit auf die ständig wechselnden Anreden verwendet, von „Frau Meise/Graumeise” über „Schlau, Meise/ Frau Meise” bis zu „Trau, Meise/Frau Meise” – bei so viel einleitendem Wohlklang fällt kaum auf, dass Rückert auch anders kann, wenn er etwa in der sechsten Strophe auf „Beet” und „zugeweht” das Reimwort „Fensterbret” wagt.
Der 17. Dezember des gleichen Jahres bringt mit sieben Gedichten reichen Ertrag und weiteren Anlass für Fragen. Nach Kind und Tier ist es nun eine Pflanze, an die sich der Dichter wendet:
Immergrün
Immergrün!
Müssen alle Rosen welken?
Können nicht Viol’ und Nelken
immer blühn?
Immergrün!
Gleich den zuvor Befragten findet auch das Immergrün keine Zeit zu einer wie immer gearteten Antwort, da Rückert nicht ablässt, nachzuhaken: „Werden alle mir verblühten, / Werden alle mir verglühten / Nimmer blühn, / Nimmer glühn?” Fragen über Fragen – am 23. Dezember richtet Rückert eines der sechs Gedichte dieses Tages an ein Insekt:
Rosenkäferchen, o so sage,
Wie du dich hieher verirrtest,
Aus dem Sommer in den Winter –
Es folgen vierundzwanzig weitere, diesmal reimlose Zeilen, in welchen Rückert dem räumlich offenbar nicht ganz orientierten Käfer eindringlich seine Lage vorhält: Nicht auf „grünen Blättern” befinde er sich, sondern auf den „dürren dieses Buches, / Wo statt Rosen Reime sproßen / Und statt Knospen Worte keimen...”
„Findest du hier deine Rechnung?” fragt er besorgt, „Findest du hier deine Nahrung?” Doch Rosenkäferchen schweigt. Aus Entkräftung? Oder weil ein Dichter mehr zu fragen imstande ist, als 1000 Käfer beantworten können?
Am Weihnachtstag dieses fruchtbaren Jahresendes – von einem „erstaunlichen, jäh einsetzenden Kreativitätssschub” sprechen die beiden Herausgeber – schreibt Rückert vier Gedichte, deren letztes meteorologische Fragen aufwirft: „Gestern hats geschneiet, / Heute hats geregnet; / Oder hats geregnet /Gestern, heut geschneiet?” Das dürfte sich doch wohl noch feststellen lassen, hofft der Leser, und so ist es. Der Dichter erinnert sich: „Gestern hats geschneiet / Nachts, und Tags geregnet. / Heute hats geregnet /Nachts, und Tags geschneiet.” Alles klar? Mitnichten. Es gibt ja auch noch ein „Morgen”: „Wird es morgen schneien, / Oder wird es regnen? / Oder wird es regnen / Morgen auch und schneien?”
Ein lyrischer Minimalismus, der seinerseits Fragen aufwirft: Sehen so die von Dove annoncierten „klassizistischen Versmaße” aus? Oder nützt Rückert ganz einfach die von den Herausgebern konstatierte „Chance einer erhöhten artistischen Rücksichtslosigkeit”? In jedem Fall fragt er rücksichtslos weiter, um das Wortgebilde sodann mit einer frommen Sentenz zu krönen: „Wird es morgen schneien / Nachts, und Tages regnen? / Oder wird es regnen / Nachts, und Tages schneien? / Ob es regnend schneie, / Oder schneiend regne;/ Daß es Gott gesegne, / Und es uns gedeihe.”
Wir überspringen ein Jahr, um uns im Dezember 1847 letzten, richtiger: den beiden letzten Fragen des Dichters zu stellen. Am 28. dieses Monats schreibt Rückert vier Gedichte. Das vierte endet mit einer an Menschen gerichteten Frage: „Warum baun sie auf die Welt?” Sie, das sind Bettler und Held, und „Held” ist das Reimwort, welches das Gesicht vermutlich in Gang gesetzt hat, das es auf jeden Fall bis zu besagter Schlussfrage in Gang hält, über „Feld”, „Zelt”, „Geld”, „fällt”, „hält” und „geprellt” – fast verwunderlich, dass Rückert nicht auch noch die Möglichkeiten bellt, vergällt, entstellt, zerschellt usw. berücksichtigt hat.
Bleibt seine vorerst allerletzte Altersfrage. Er stellte sie am 31. Dezember des Jahres 1847, und beide, Frage wie Antwort, zeigen den Dichter von einer überraschend praktischen und, jawohl, witzigen Seite:
Da nun sovil Maschinen,
Den Menschen zu bedienen,
In Jahren und in Stunden
Von Menschen sind erfunden;
O möchte man auch eine
Erfinden, die ich meine!
Dichters Problem: Dass er beim Zubettgehen die Pantoffeln so stehen lässt, wie er sie verlassen hat – mit den Spitzen dem Bett zugewandt. Die Folge: Er muss sie mühsam mit den Füßen oder Händen wenden, will er nach dem Erwachen Gebrauch von ihnen machen. Seine Frage:
Ist es nicht auszudenken
Und künstlich so zu lenken,
Daß, während ich im Schlummer
Vergeße meinen Kummer,
Sie sich von selber drehen,
Und mir zu rechte stehen,
Wenn ich aus meiner Decke
Die Füß’ am Morgen strecke?
Vor dieser so schönen wie sinnvollen Schlussfrage sollten alle weiteren Fragen verstummen. Beispielsweise die, wie wohl eine Architektur beschaffen sein mag, die sich solch fragwürdigen Baumaterials bedient. Oder die, wie viel lyrische Kindlichkeit – poetische Kinderei? – ein „Großkompendium objektiver menschlicher Weisheit” zu verkraften imstande ist. Noch wissen die Antwort ganz allein der Wind und die beiden Herausgeber Hans Wollschläger und Rudolf Kreutner – erst nach 9500 weiteren Altersgedichten werden wir alle in Sachen Rückert-Nachlass mitreden können.
ROBERT
GERNHARDT
FRIEDRICH RÜCKERT: Liedertagebuch. Werke der Jahre 1846-1847. Erster Band. Herausgegeben von Rudolf Kreutner und Hans Wollschläger. Wallstein Verlag, Göttingen 2001. 443 Seiten, 59 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2005

Weltgespräch beim Schmaus
Großtat: Friedrich Rückerts Werke in der Schweinfurter Edition

Hand aufs Herz, liebe Germanisten, Freunde des Kanons und der Klassiker, liebe Anhänger der Weltliteratur und Allesleser: Wann haben Sie zuletzt Rückert gelesen? Wenn der Rezensent raten darf: In den dreißiger und vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts! So lange liegt die große Zeit Rückerts nämlich zurück - wenn es sie denn je gab. Und doch haben wir vielleicht alle einmal Rückert gelesen: Wenn wir die Perser Rumi und Hafis lasen, die klassischen arabischen Dichter und die Makamen des Hariri, die dank Rückert eigenständige deutsche Werke sind, oder seine erst vor kurzem aus dem Nachlaß herausgegebene Koranübersetzung. Wir blättern in diesem Koran und entdecken Verse, wie für die Muslime von heute gesprochen: "Kein Antrieb soll euch sein der Haß von Leuten, / die euch wegdrängen vom geweihten Bethaus, / Daß ihr auch sie beleidigt. Helft einander / Zur Frömmigkeit und Gottesfurcht, doch helfet / Einander nicht zu Frevel und Feindseligkeit."

Als Wegbereiter des Multikulturalismus, als Anhänger einer wertindifferenten Durchmischung der Kulturen wird Rückert jedoch nicht herhalten können. Er war ein entschiedener Patriot, wie es sein "Liedertagebuch" auf vielen hundert Seiten belegt. Am 17. Mai 1848, einen Tag bevor die Nationalversammlung in der Paulskirche erstmals zusammenkam, schrieb er: "Oh ihr Volksvertreter, / die ihr heut in Frankfurt tagt / (...) Nicht an eigne Kleinheit, / An die Geister Deutschlands denkt! / Schenkt uns Deutschlands Einheit, / Und die Welt ist uns geschenkt." Das wäre, ersetzte man Frankfurt nur durch Berlin, auch in diesen Tagen einmal ein gutes Wahlprogramm, klänge die "uns geschenkte Welt" nicht ein wenig nach Weltmachtallüren. Doch Rückert dürfte es metaphorisch verstanden haben. Die geschenkte Welt war für ihn vor allem die Weltpoesie. Schon in seiner Dissertation von 1811, Rückert war damals dreiundzwanzig Jahre alt, findet sich die Vorstellung, daß die deutsche Sprache der ideale Träger der Weltliteratur sei, weil man ins Deutsche besonders gut übersetzen könne. "Es ist mein Volk, das große / Das sendet täglich aus / Die Söhn' aus seinem Schoße, / Zu führen in sein Haus / Die Völker aller Zungen, / Und wunderbar erklungen / ist da ein Weltgespräch beim Schmaus", heißt es in einem der Einleitungsgedichte zu Rückerts endlich wieder komplett greifbarer Übersetzung der altarabischen Heldenlieder, der Hamâsa.

Die im Wallstein Verlag erscheinende historisch-kritische Ausgabe, die "Schweinfurter Edition", ist der erste Versuch überhaupt, Rückert so ernst zu nehmen, wie er es verdient. Die Auswahlausgaben, selbst die verdienstvolle zweibändige von Annemarie Schimmel bei Insel, und die hier und da verstreuten, oft willkürlich gekürzten Nachdrucke seiner Übersetzungen haben das Werk des gebürtigen Schweinfurters wie einen Steinbruch behandelt, aus dem man sich nach Belieben bedienen kann. Die literarischen Spolien sind hübsch, gewiß; doch von dem Gesamtgebäude, in dem sie einst standen und ihren spezifischen Zweck erfüllten, verraten sie nichts mehr.

Das von Hans Wollschläger und Rudolf Kreutner mit wechselnden Fachleuten herausgegebene Unternehmen ist deshalb eine philologische, historische und nicht zuletzt literarische Großtat, die von der "lieben Stadt mit dem garstigen Namen", wie Rückert Schweinfurt einmal nannte, klug und großzügig unterstützt wird. Zwar könnten Rückerts "Kindertotenlieder", heute fast nur durch die Vertonung Mahlers bekannt, und "Die Weisheit des Brahmanen" deutlich verbreiteter sein. Aber letztlich ist Rückert für große Jubiläen, wie man sie unlängst mit Schiller und Canetti erlebt hat, zu spröde. Er hat Wege im Umgang mit der deutschen Sprache beschritten, die nach ihm, von ein paar dichtenden Orientalisten abgesehen, leider kaum mehr jemand gegangen ist. Es sind die Traum-, nicht die Trampelpfade des Deutschen, die Rückert für seine Leser bahnt, Traumpfade auch insofern, als sie in traumhaft ferne und fremde Welten entführen.

Eine ausführliche Kostprobe dieser Kunst bieten die über tausend Seiten der von dem Erlanger Arabisten Wolfdietrich Fischer mustergültig betreuten Hamâsa-Edition. In seiner Beschäftigung mit dieser in der Blütezeit der arabischen Literatur von dem Dichter Abu Tammam (gestorben 845) zusammengestellten Anthologie früher arabischer Gedichte und Gedichtfragmente unternimmt Rückert es, aus dem Fremdesten das Eigenste zu machen, nämlich deutsche Gedichte. Vielfach gelingt dies, vor allem, was die sprachliche und formale Seite der Übersetzungen betrifft. Selbst wenn Rückert sich anschickt, die komplizierten arabischen Versmaße nachzuahmen (deren Schema er dann immer mit angibt), stimmen Reim und Rhythmus, beginnt es zu klingen: "Nie stör im Wolleben dich und in behaglicher Ruh / der Seele sehnsüchtiges Weh nach Volk und Heimatland! / An jedem Ort findest du, wo du dich niedergetan, / Hausvolk für Hausvolk, und Nachbarswand für Nachbarswand."

Allerdings sind nicht alle Hamâsa-Gedichte so eingängig wie diese hübsche Beduinenweisheit. Für Rückert kein Problem. In der Poesie, gleich was darinsteht, lebt für ihn der Keim der paradiesischen Ursprache fort: "Und ob sie dumpf im Wüstenglutwind stöne, / es sind auch hier des Paradieses Töne", heißt es in der selbstverfaßten "Ermutigung zur Übersetzung der Hamâsa". Folglich überträgt er ungeachtet des für unser Gefühl vielfach unpoetischen Inhalts: "Uns brodeln große Stücke Fleisch in Füll in Wolgedeihn; / manch andere kochen ihre Schmach in Kinderschüßelein." Diese Art des Selbstlobs, eines der in der arabischen Dichtung am häufigsten anzutreffenden Motive und für westliche Leser besonders befremdend, fängt Rückert durch die humorvolle Formulierung am Ende des Verses geschickt auf. Zwei Verse weiter endet dasselbe Gedicht martialisch: "Wir schirmen unsren eignen Hag, und unsere Lanze frägt / danach nicht, was ein andres Volk für sich hat eingehegt." Politisch korrekt dachten die alten Araber nicht, soviel ist klar. Zu Rückerts Zeiten ließen sich solche Verse jedoch vermutlich nationalistisch deuten, und es zählt zur Taktik von Rückerts Eindeutschung, mit einer solchen Lesart zu kokettieren. Nicht zuletzt diese Subtexte machen die Lektüre über das hinaus spannend, was über die alten Araber vermittelt wird.

Daß die meisten Texte der Hamâsa nichtsdestoweniger gewöhnungsbedürftig sind, hat Rückert geahnt und entsprechend viele Anmerkungen beigefügt, oft hilfreiche, manches Mal kuriose. Aber als die verdeutschte Hamâsa 1846, nach zwanzig Jahren Beschäftigung mit der Anthologie, erschien, war Deutschland, selbst das literarische, viel zu sehr mit sich selber beschäftigt, um für die "Paradieses Töne" aus aller Welt noch ein Ohr zu haben. Die Übersetzung wurde kaum wahrgenommen. Rückert selbst war nicht unschuldig daran, hatte er doch die Fertigstellung des Projekts viel zu lange verzögert und darauf verzichtet, eine Einführung zu schreiben (was Wolfdietrich Fischer in der vorliegenden Ausgabe dankenswerterweise nachholt).

Trotz der beachtlichen philologischen (eben nicht nur dichterischen) Leistung Rückerts blieb sogar in der Fachwelt das Echo schwach, da die deutsche Orientalistik, anders als Rückert selbst, die alten arabischen Texte nie als Literatur, sondern nur als philologische Dokumente betrachtete. Mit der vorliegenden Ausgabe der Hamâsa dürfte sich auch das ändern. Wie sehr nämlich heute einer wie Rückert fehlt, mag man schon daran ablesen, daß die klassische arabische Poesie, anders übrigens als die moderne, derzeit in kaum einer deutschen Publikation greifbar ist. Und daß in Zeiten, in denen Terrorismus und Haßprediger das Mißtrauen zwischen Religionen und Ethnien wieder auflodern lassen wollen, emphatische Nachdichter und literarische Paradiesvögel dringender gebraucht werden denn je, wem brauchen wir das zu sagen?

STEFAN WEIDNER

Friedrich Rückert: "Hamâsa oder die ältesten arabischen Volkslieder". Schweinfurter Edition. Gesammelt von Abu Temmâm. Bearbeitet von Wolfdietrich Fischer. Wallstein Verlag, Göttingen 2004. 2 Bde., 1169 S., geb., 99,- [Euro].

Friedrich Rückert: "Liedertagebuch". Band III/IV (Werke 1848-1849), 560 S., geb., 62,- [Euro]. Band V/VI (Werke 1850-1851), 424 S., geb., 56,- [Euro]. Bearbeitet von Rudolf Kreutner und Hans Wollschläger. Beide Schweinfurter Edition. Wallstein Verlag, Göttingen 2002 und 2003.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als "philologische, historische und nicht zuletzt literarische Großtat" ehrt Rezensent Stefan Weidner die historisch-kritische Ausgabe der Schweinfurther Edition von Friedrich Rückerts Werken. Außerdem stellt er fest, dass es sich bei dieser Edition um den "ersten Versuch überhaupt" handelt, Friedrich Rückert ernst zu nehmen. Denn statt in Auswahlausgaben Rückerts Werk "wie einen Steinbruch" zu behandeln, gebe sie den Blick auf dessen Gesamtgebäude frei. In Rückerts Literatur sieht der Rezensent die "Traumpfade" des Deutschen gebahnt, der den Leser "in traumhaft ferne und fremde Welten entführt" habe. Auch hat ihm Rückert "auf vielen hundert Seiten" belegt, dass er ein "entschiedener Patriot" gewesen ist.

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