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Die Lyrik der Roma und Sinti aus aller Welt. Übertragen aus etwa 20 Sprachen und versammelt von Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki Eine Literatur »weit verstreut publiziert und bis heute nahezu unbekannt« - Karl-Markus Gauß Es ist der Ertrag einer jahrelangen Suche in den Antiquariaten und Bibliotheken Europas, das Ergebnis einer literaturwissenschaftlichen Forschung an den Quellen, die Funde seltener Bücher: Die Poesie der Roma und Sinti, Lovara, Kalderasch, Gitanos, Gypsies, Travellers oder Jenischen. Nie zuvor wurde die Vielfalt einer schwer zu fassenden Literatur so umfassend dargestellt.…mehr

Produktbeschreibung
Die Lyrik der Roma und Sinti aus aller Welt. Übertragen aus etwa 20 Sprachen und versammelt von Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki Eine Literatur »weit verstreut publiziert und bis heute nahezu unbekannt« - Karl-Markus Gauß Es ist der Ertrag einer jahrelangen Suche in den Antiquariaten und Bibliotheken Europas, das Ergebnis einer literaturwissenschaftlichen Forschung an den Quellen, die Funde seltener Bücher: Die Poesie der Roma und Sinti, Lovara, Kalderasch, Gitanos, Gypsies, Travellers oder Jenischen. Nie zuvor wurde die Vielfalt einer schwer zu fassenden Literatur so umfassend dargestellt. Die Anthologie nimmt nicht nur jene lyrischen Selbstzeugnisse auf, die in einer der Varianten von Romanes oder Romani verfasst worden sind, sondern auch Gedichte, die aus etwa 20 Sprachen von drei Kontinenten ins Deutsche übertragen wurden. Fern von jeder Reisewagen-Folklore und »Zigeuner«-Romantik, aber auch ohne den Versuch, eine Leidensgeschichte zu schreiben, kommen hier die Stimmen unterschiedlichster Poeten zu Wort, die vor allem die Zugehörigkeit zu der größten europäischen Minderheit teilen. Ihre Gedichte erzählen Geschichten von Vertreibung, Ankommen und Melancholie, Sehnsucht und Heimweh, sie erzählen - häufig voller Komik - über die Unwegsamkeiten des Alltags, von den Labyrinthen der Bürokratie, von Ablehnung, Angst und Hass, es sind Verse über die Natur, über Pferde, Sterne und natürlich die Liebe.
Autorenporträt
Wilfried Ihrig ist Literaturwissenschaftler. Ulrich Janetzki, geboren 1948 in Selm, ist Literaturwissenschaftler. Er leitete bis 2014 das Literarische Colloquium Berlin. Dotschy Reinhardt, geboren 1975, lebt und arbeitet als Jazzmusikerin in Berlin. 2008 erschien ihr Buch ¿Gypsy. Die Geschichte einer großen Sinti-Familie¿.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2018

Wovor soll ich mich fürchten?

Eine Sammlung der Lyrik von Sinti und Roma und anderer Gruppen, die ehedem "fahrendes Volk" genannt wurden.

Schmerz ist keine ästhetische Kategorie. Und doch kann das Lied eine existentielle Form sein, die dem eigenen Leid einen Schutzraum gibt. Eine Würde auch. Mit "Die Morgendämmerung der Worte" liegt nun eine sehr besondere, eine kostbare Anthologie vor. Ihr Titel stammt aus dem gleichnamigen Gedicht des serbischen Autors Rajko Djuric (Jahrgang 1947) und könnte als Anspielung verstanden werden auf die erste und legendäre Sammlung expressionistischer Lyrik "Menschheitsdämmerung". Nach jahrelanger Suche in Antiquariaten, Archiven, Bibliotheken konnten erstmals Gedichte von Roma und Sinti, Jenischen und anderen in sozialen Zwischenzonen lebenden Gruppen, für die einmal das schöne alte Wort "fahrendes Volk" galt, versammelt werden.

Zu lesen sind 149 Autorinnen und Autoren aus mehr als dreißig Ländern; es sind Stimmen von Ausgegrenzten, die auf ihre ethnische Herkunft stolz sind oder nach ihr fragen, von Besitzlosen, Verfolgten und Geflohenen. Von KZ-Häftlingen. Von Überlebenden, Nachgeborenen. Stigmatisierten, suchend nach Identität. Übersetzt wurde aus einundzwanzig Sprachen und Dialekten, darunter aus verschiedenen Formen des Romanes, der, wie man einmal ungestraft sagen durfte, Sprache der Zigeuner. (An dieser Stelle über die Sehnsucht des "Weibes" nach dem "Mohren" zu reflektieren und darüber, dass Sprache, zumal Literatur, nie "gerecht" sein kann, würde den Rahmen einer Rezension sprengen. Vielleicht sei doch kurz an Herta Müller erinnert, die in einer Rumänien-Reportage erzählt, dass die Roma, die sie traf, auf der Bezeichnung "Zigeuner" bestanden, mit der Begründung, nicht das Wort sei schlecht, sondern die Art, wie sie behandelt würden.)

Vor etwa siebenhundert Jahren sind Sinti und Roma in verschiedenen Wanderbewegungen von Indien nach Europa gekommen. Sie brachten ihre Sprachen, das Romanes, mit, das sich, je nachdem, welche Wege sie gingen, veränderte. Heute wird Romanes weltweit noch von etwa sechs Millionen Menschen gesprochen. Und das burgenländische Romanes ging in die Unesco-Liste des "immateriellen Kulturerbes" ein.

Die Literatur der Sinti und Roma ist uralt und jung. Sie wurde mündlich tradiert. In schriftlicher Form gibt es ihre Gesänge, ihre Gedichte erst seit etwa hundert Jahren. Auch insofern ist der "Moderne Poesie-Atlas der Sinti und Roma" eine Pioniertat. Er macht erstmals eine Landkarte der Lyrik sichtbar, die bislang unbeachtet blieb. Oder die nicht (oder nicht sofort) über die Koordinaten eines ethnischen Bezugs gesehen wurde. Eingang fanden etwa Charlie Chaplins mit internationalen Sprachsplittern jonglierendes Unsinnsgedicht "Se bella giu satore", das er in "Modern Times" singt, aber auch Lieder von Marianne Rosenberg sind vertreten.

Die Themen der Anthologie sind vielfältig, ihre sprachliche Bewältigung auch. Es findet sich die ungebrochene Anklage des Alltags als verarmter Außenseiter: "Lass dich ja nicht erwischen dabei, dass du nichts hast / und auf Almosen angewiesen bist. / Ein streunender Hund bist du! - kein Mensch", so der Tiroler Jenische Romedius Mungenast (1953 bis 2006). Aber auch die psychologische Momentaufnahme eines Abdullah Tareq (so der muslimische Name des 1937 in Pommern geborenen deutschen Sinti Frithjof Hoffmann), der eine Morgenszene eröffnet: "Ziellos durch den Nieselregen laufend, / verströme ich den letzten Duft von einer Frühbar. / Billiges Nuttenparfüm, Zigarettenqualm, / Pomadenglanz im Haar" und sich dabei refrainartig fragt, wer er sei ("Kon hum me?"), bis er zwischen allen Passanten auf dem Bahnhof sich im Blick einer alten Frau erkennt, die seiner Unsicherheit antwortet: "Zigeiner biste, verrückter und noch so en scheener." Worauf er endlich wieder spürt, zu wem er gehört.

Die Toten in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten werden aufgerufen in manchmal hilflosen Zeilen: "Wir erzählen von Frauen und Kindern, / erschlagen und verbrannt. Die Schornsteine sie rauchten / eine Ewigkeit lang" (Stefan Horvath, Jahrgang 1949) oder in einer lakonischen Inventur von Rajko Djuric, der aus der kalten Präzision den poetischen Funken schlägt: "Rebstock, Else, geb. am 01. Januar 1943 um 00 h 03, / getötet am 01. Januar 1943 um 03 h 11. // Weiss, Herbert, geb. am 12. Februar 1943 um 05 h 11, / getötet am 12. Februar 1943 um 10 h 23." So geht es noch zehn Kindertode (also für jeden Monat einen) bis Dezember weiter und suggeriert den Jahreslauf der Morde. Oder in der subjektiven Anverwandlung einer Ceija Stojka (1933 bis 2013): "auschwitz ist mein mantel, / bergen-belsen mein kleid / und ravensbrück mein unterhemd. / wovor soll ich mich fürchten?"

In der Kindergeneration der Überlebenden überwiegen die Fragen nach der verlorenen Sprache ihrer Eltern und Ahnen (die meisten Sinti und Roma wurden, wenn überhaupt, in den Ländern ihres Exils alphabetisiert und schreiben demnach in deren Sprachen) und damit verbunden die Probleme der Zugehörigkeit und Identität. Es gibt das Naturgedicht mit Nachthimmeln, Feuern und Pferden. Und das Liebesgedicht ("Mein Geliebter mit seinem Haar wie Nachtigallen / Mit seiner Brust wie Taubengeflatter wie graue Tauben die sich in der Dämmerung putzen"; Cecilia Woloch, geboren 1956 in Pittsburgh). Doch alles scheint durchzogen von einer Melancholie, die surreale oder witzige Momente haben kann. Der 1982 in Prishtina geborene Dzafer Buzoli etwa schickt in "Überleben in Deutschland" seinen Helden jeden dritten Tag zur Dorfkirche. Er "bleibt dort eine Stunde / . . . lädt sein Mobiltelephon auf". Und manchmal bleibt nur ein Staunen. Jean-Marie Kerwich (1952 bis 2018) schenkt uns in seinen "Kleinen Prosagedichten" die wunderbaren Zeilen: "ich habe dem himmel tausend fragen über das leiden und / die ungerechtigkeit gestellt. einfache regenschauer waren / seine antwort. und dies ließ mich verstehen."

Ein winziger Wunsch für eine zweite Auflage dieser wundersamen und schönen Anthologie: Gerade weil das Romanes eine so junge Schriftsprache ist, wäre es interessant gewesen, wenn zumindest manche der ja oft kurzen Gedichte nicht nur in der deutschen Übersetzung, sondern zweisprachig abgedruckt worden wären.

ANGELIKA OVERATH

"Die Morgendämmerung der Worte". Moderner

Poesie-Atlas der Roma

und Sinti.

Gedichte versammelt und ediert von Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki. Die Andere Bibliothek, Berlin 2018.

395 S., geb., 42,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2018

Weite
Wege
gehen
Eine Entdeckung:
Die Anthologie
„Die Morgendämmerung
der Worte“
von Wilfried Ihrig
und Ulrich Janetzki
versammelt
die Poesie der
Roma und Sinti
VON KARL-MARKUS GAUSS
Über die Roma wissen natürlich jene am besten Bescheid, die sie am wenigsten kennen. Wer einmal in unseren schmucken Fußgängerzonen einen Bettler als „Zigeuner“ identifiziert hat, der kann sich aus einem großen Vorrat an alten Verdächtigungen und neuen Ressentiments bedienen. Das erleichtert es ihm ungemein, keine konkreten Menschen, sondern immer nur Repräsentanten einer Gruppe wahrzunehmen, die verstreut über nahezu alle Länder Europas lebt und von der doch unbekannt geblieben ist, wie sie sich einst wider alle Drangsal zu behaupten wusste und was ihre Kultur heute ausmacht. Selbst gebildete, sozial interessierte Leute erweisen sich, wenn es um diese eine Volksgruppe geht, mitunter als erstaunlich ungebildet und bereit, mit kruden Vorurteilen ihr intellektuelles Auslangen zu finden.
Nach einer mehrere Jahrhunderte dauernden Wanderschaft sind die Roma vor 600 Jahren aus Indien im Osten Europas angekommen. Von dort zogen sie langsam westwärts, nach Österreich und Deutschland, Frankreich und Spanien, in den Norden nach Skandinavien und Großbritannien, und schließlich strebten sie auch über den Atlantik, um in den USA, Kanada, Australien oder Argentinien einen Platz zu finden, an dem sie unbehelligt zu leben hofften. Über die historischen Wurzeln ihrer Missachtung sind zahllose Studien verfasst worden, ein aktuelles Verhängnis ist, dass von vielen Roma, die es zu Bildung, Wohlstand, Ansehen gebracht haben, gemeinhin nicht bekannt ist, dass sie der verfemten Gruppe entstammen.
Ob es sich um berühmte Opernsängerinnen, Fußballer etlicher europäischer Nationalmannschaften oder renommierte Chirurgen handelt, wer immer Erfolg hat, gilt auf der Welt nicht mehr als Rom. Auch manche Roma selbst, denen der gesellschaftliche Aufstieg gelungen ist, kappen die Verbindung und versuchen, unerkannt in der herrschenden Staatsnation aufzugehen. Anders der Weltstar Yul Brynner, der 1978 mit einer Gruppe von Aktivisten in New York an die Vereinten Nationen appellierte, eine Repräsentanz der Roma in der Uno zu ermöglichen. Sieben Jahre zuvor war in London der erste „Welt-Roma-Kongress“ zusammengetreten, bei dem zum ersten Mal ihre internationale Hymne erklang. Mögen ihre Lieder und Gedichte auch das Leid beklagen, das ihnen zu wechselnden Zeiten immer neu zugefügt wurde, ihre Hymne hebt doch mit den Worten an: „Gegangen, gegangen bin ich weite Wege/ und traf glückliche Roma.“
Lange Zeit haben die Roma keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen. Seit einigen Jahrzehnten entsteht jedoch zwischen Rumänien und Belgien, Belarus und Sizilien eine moderne Literatur, die in verschiedenen Schriftsprachen, von denen das Romanes nur eine ist, veröffentlicht wird. Nachspüren kann man ihr in einem neuen Buch, das rund 100 Autoren aus 24 Ländern aufbietet und uns das Staunen lehrt. Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki, beide vielfach verdient um die zeitgenössische Literatur, haben eine wunderbare Anthologie zusammengestellt, den „Modernen Poesie-Atlas der Roma und Sinti“, wie es der Untertitel zu „Die Morgendämmerung der Worte“ benennt.
Die Gedichte des Bandes wurden aus 21Sprachen ins Deutsche übersetzt und behelfsmäßig nach den Ländern angeordnet, aus denen die Autoren stammen oder in denen sie jetzt leben. Das führt unausweichlich zu Überschneidungen, denn die lange Wanderschaft ist für manche Roma keineswegs zu Ende. Hedina Tahirović-Sijerčić etwa ist eine bosnische Romni, die nach Kanada emigrierte und ihre Bücher auf Romanes verfasst. Valdemar Kalinin wurde in Belarus geboren und lebt in England, wo er das Alte und das Neue Testament erstmals ins Romanes übersetzte und Gedichtbände in englischer Sprache veröffentlicht.
In Köln wohnt der in Belgrad geborene Jovan Nikolić, einer der originellsten Autoren der Anthologie, dessen Literatursprache das Serbische ist. Was Nikolić auszeichnet, das ist der selbstironische Ton, mit dem er über die Miseren des Lebens wie etwa das Altern schreibt, und der überlegene Spott, mit dem er sich gegen das klischierte Bild vom urwüchsigen Rom wehrt. In einem Gedicht heißt es eingangs: „Hab ich dir gesagt, dass deinem Zimmer die Räder fehlen?“ So wird es als Privileg der Roma gedeutet, dass sie in Wohnwagen leben, während die Gadsche mit Zimmern ohne Räder vorlieb nehmen müssen. Freilich ist bei Nikolić immer mitzudenken, dass er für die literarische Tradition der „Zigeunerromantik“ nichts übrig hat. Tatsächlich ist die Vorstellung, die Roma besäßen gleichsam ein Wandergen, das sie zum Herumziehen nötigt, völlig falsch, die meisten Mitglieder des sogenannten „fahrenden Volks“ leben sesshaft und werden gegebenenfalls zu Migranten aus den gleichen Gründen wie Millionen andere: um wirtschaftlicher Not, sozialen Krisen, politischer Bedrückung zu entrinnen.
Wie Nikolić wusste auch der in diesem Jahr verstorbene Jean-Marie Kerwich, Dichter, Gitarrist, Zirkuskünstler aus Paris, Poesie und Ironie zu verbinden. In einem seiner auf Französisch verfassten Gedichte bekannte er, nicht getauft zu sein, als Kind weder lesen noch schreiben gelernt zu haben, aber zu wissen, dass Gott existiert, „denn er hat mich in meinem Elend gelehrt zu schreiben und mir jeden einzelnen meiner Rechtschreibfehler beigebracht“. Seither könne er gar nicht anders, als Gedichte zu verfassen: „Das weiße Papier liebt es, wenn ich es mit schönen Wörtern bedecke.“
Als Autor wie als Aktivist gleichermaßen einflussreich ist Ronald Lee, 1934 in Montreal geboren, dessen fulminantes fünfseitiges Poem „Die Schlacht am Noodledom Platz“ Ihrig und Janetzki entdeckt und übersetzt haben. Es erinnert an eine Straßenschlacht des Jahres 1969, als der Autor in England lebte und sich eine Gruppe englischer Traveller weigerte, einen traditionellen Lagerplatz in Enfield zu räumen. In atemloser Rhythmik vergegenwärtigt Lee das Geschehen, in Reflexionen deutet er es politisch: Auf der einen Seite stehen die „gedungenen Vertreibungsgangster des Stadtrats“, auf der anderen die „Romani-Boys“ und ihre Unterstützer aus der Studentenschaft von Enfield. Mittendrin ruft das lyrische Ich halb pathetisch, halb selbstironisch aus: „Ich bin auch gegen Gewalt, aber nicht heute.“ Nicht heute, da die uniformierten Schläger über die Bewohner des Lagers herfallen und diese sich von dem Rasenstück, auf dem schon ihre Großeltern Rast hielten, nicht vertreiben lassen wollen. Damals siegte die Stadtverwaltung, aber dass die Traveller aufbegehrten und politisches Selbstbewusstsein zeigten, war nicht vergebens, sondern einer der Schritte, die von der lokalen zur internationalen Mobilisierung führten.
Die im Untertitel des Buches genannten Sinti bilden eine eigenständige Gruppe von Roma, die sich auf ein bestimmtes indisches Herkunftsgebiet, den Sindh, beziehen. Sie wurden vor allem in West- und Mitteleuropa ansässig und fühlten sich schon früh der Kultur der jeweiligen Einwanderungsländer verbunden. Der nie gewürdigte oder gar belohnte Patriotismus der deutschen Sinti war immer groß, und er ist noch heute so gefestigt, dass sie die Roma-Hymne nicht als die ihre anerkennen, weil sie ja schon eine andere, die deutsche Hymne haben. Die Traveller in Großbritannien hingegen sind, historisch wie ethnisch gesehen, keine Roma, sondern so wie die Jenischen in Süddeutschland, Norditalien, Österreich und in der Schweiz eine besondere soziokulturelle Gruppe. In der frühen Neuzeit waren da wie dort verarmte Schichten der ansässigen Bevölkerung durch Hungersnöte und wirtschaftliche Krisen gezwungen, eine Art von Binnenwanderung anzutreten, als Tagelöhner, Händler, Kesselflicker von Ort zu Ort und Region zu Region zu ziehen. Wie diesen Wandernden von außen, in feindseliger Absicht und um sie aus der Gesellschaft auszuschließen, bald kollektive Eigenschaften zugesprochen wurden, so verstanden sie sich umgekehrt mit der Zeit auch selbst als Gruppen mit spezifischen Besonderheiten und stolzen Traditionen.
Der 1947 geborenen Mariella Mehr ist es mit ihren Romanen, Reportagen, Dokumentationen gelungen, die Schweiz zu verändern. Sie deckte auf, mit welcher Grausamkeit das eidgenössische „Hilfswerk für die Kinder der Landstraße“ jenische Kinder ihren Eltern entzog und Generationen von ihnen in Waisenhäuser, Erziehungsheime, psychiatrische Anstalten verfrachtete. Inzwischen in der Schweiz als moralische Autorität anerkannt, ist Mehr auch eine bedeutende Lyrikerin, die ihre Gedichte auf Deutsch und Italienisch verfasst. Der Tiroler Romedius Mungenast, ein früh verstorbener Eisenbahner, legendärer Sprachforscher und populärer Poet, hat seine Gedichte hingegen auf Jenisch verfasst, wie das heute auch die junge Kärntnerin Simone Schönett tut.
Sie alle und viele andere, Bekannte wie Unbekannte, sind in dieser mit Neugier, Akribie und Ausdauer zusammengetragenen Anthologie zu entdecken. Ihrig und Janetzki haben entlegene Schriften aufgetrieben, Publikationen von Kleinstverlagen in Toronto, Bozen, Landeck durchgesehen. Die Liste, mit der sie Gewährsleuten in Bukarest, Wien, Tiflis, Prag den Dank abstatten, ist lang, die Zahl der Übersetzer und Übersetzerinnen hoch.
Auch diese Sammlung erweist, dass im literarischen Gedächtnis der Roma die Perioden der Verfolgung, die im Porajmos, der planmäßigen Vernichtung durch die Nationalsozialisten gipfelten, eine überragende Rolle spielen. Manche haben – wie die Österreicherin Ceja Stojka – überhaupt erst zu schreiben begonnen, um literarische Zeugenschaft abzulegen, vom Leben, Überleben in Auschwitz.
Missachtung haben die Roma aber schon vor dem Nationalsozialismus erfahren und erfahren sie heute, 75 Jahre nach dem Porajmos, immer noch. Viele Gedichte dieser Sammlung künden von einer deprimierenden Erfahrung, die der Serbe Rajko Đjurić in den Vers fasst: „dass wir vom Winde verweht werden / und der Welt Müll sind“. Aber ebenso viele Poeme feiern den schönen Augenblick, den alltäglichen Überschwang – und rufen mit dem Engländer Ray Smith den Tag herbei, an dem die Roma „Menschen unter Menschen sein werden“.
Ich habe in den letzten Jahren auch in dieser Zeitung gefordert, die Leipziger Buchmesse möge ihren Schwerpunkt einmal auf die internationale Roma-Literatur setzen. Besser als mit diesem Buch, einer imponierenden editorischen Leistung und dichterischen Wanderung durch Länder und Sprachen, könnte diese Forderung nicht unterstützt werden.
„Das weiße Papier liebt es,
wenn ich es mit
schönen Wörtern bedecke.“
Wilfried Ihrig / Ulrich Janetzki (Hg.): Die Morgendämmerung der Worte. Moderner Poesie-Atlas der Roma
und Sinti. Mit einem Vorwort von Dotschy Reinhardt und einem
Nachwort von Klaus-Michael Bogdal.
Die Andere Bibliothek,
Berlin 2018, 393 Seiten, 42 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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"Es gibt vieles, was den »Gadje« (Nicht-Roma) unbekannt ist - über Sinti und Roma, Travellers und Jenische. Auch ein Großteil ihrer Kulturproduktion blieb den Mehrheitsgesellschaften verborgen. (...) Für einen "Modernen Poesieatlas der Sinti und Roma" trugen die beiden Nicht-Roma Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki zahlreiche Gedichte aus aller Welt zusammen, teils in eigens gefertigten Übersetzungen. Sie reflektieren die Vielfalt einer originär oralen Literatur." Lilian-Astrid Geese Neues Deutschland 20181201